Ausgabe September/Oktober 2020

Hürden überwinden

ESSAY | Selbstfindung in unbekannten Räumen

Tuna, die Katze im Baum © Inky Lee

Wenn sie den Eindruck hat, alles sei verloren und sie sich von Trauerwellen überfordert fühlt, versucht Inky Lee, die in Berlin als Performerin und Schriftstellerin lebt, die Möglichkeiten des noch unbekannten Raumes, in den sie hineingeworfen wurde, auszuloten. In diesem Text sinniert sie über ihre persönlichen Erfahrungen, Verlust und Sich-neu-Finden und verflicht sie mit ihren Erfahrungen in einer Movement Class, die sie vor Kurzem besucht hat, dem Kontext systemischer Gewalt und unserer geteilten Praxis des Zusammenlebens.


Inky Lee
Performer and Writer

Wenn man nicht viel zu verlieren hat, gibt es auch nicht viel zu befürchten. Hin und wieder hat mich meine Traurigkeit in diesen Zustand des nackten Daseins versetzt. Auf einmal öffnet sich dann eine gähnende Leere unter mir und ich falle. Zu Beginn ist es fürchterlich, keine Kontrolle zu haben und in die Dunkelheit zu fallen. Doch wenn ich mich fallen lasse, werden mir die Möglichkeiten des neuen Raumes bewusst, der sich mir eröffnet hat. Dieser neue Raum, der eine Chance für eine neue Art von Freiheit darstellt, offenbarte sich mir, als ich mich endlich von der Angst, die mich durch meine gewohnten Sicherheitsparameter eingeschränkt hatte, befreien konnte. Man braucht Geduld, um herauszufinden, wie man sich in diesem Raum bewegen und ihn nutzen kann. Ich betrete diesen neuen Raum und erkenne langsam seine Mechanismen und sein Potenzial – das ist der Punkt, an dem ich bin und von dem aus ich schreibe.

Vor nicht so langer Zeit spülte mich die Trauer vollkommen leer, als eine Person, die ich liebte, plötzlich bei einem Unfall ums Leben kam. Der Trauerprozess fühlte sich an, als würde ich hilflos in eine schwarze Höhle fallen. Irgendwann hatte ich aber den Tiefpunkt erreicht. Langsam gewöhnte ich mich an meine neue Umgebung. Ich konnte sehen, dass die Welt, in der ich früher gelebt hatte, da draußen immer noch existierte. Ich lernte, das Licht eindringen und an die steinernen Wände zu lassen. Nach und nach wurde die Dunkelheit heller. Ich entdeckte Stellen, an denen die Lichtfarben tanzten und Pfade zeichneten, die nach draußen führten.

Momentan durchlebe ich eine weitere Trauerwelle. Endlich habe ich die tägliche rassistischer und sexueller Gewalt, die mir widerfährt, bewusst anerkannt und kann aktiv darüber nachdenken. Die Anhäufung von Aggression in der vertrauten Zone meines Zuhauses und meiner Nachbarschaft ist so dicht geworden, dass es nicht mehr möglich ist, sie hinunterzuschlucken. Ich begann zu spüren, wie die Brocken der Geschichte der Gewalt, die ich wiederholt geschluckt hatte, sich unverdaut in meinem Körper angestaut hatten und so den Flow blockierten. Um mir selbst konkret zu helfen, begann ich (sobald es die Corona-Regelungen zuließen) in einem Studio Klein Technique Klassen zu besuchen. Da ich in einem Körper lebe, der äußerlich stark markiert ist, fühlte es sich gut an, in den inneren Kern meines Körpers hineinzuzoomen. Ich verbrachte viel Zeit mit meinem Anatomiebuch.

Ich hatte mir angewohnt, an Steine zu denken, wann immer ich meine explosiven Emotionen bändigen musste, wie z. B. zwanghafte Lachattacken in unpassenden Situationen. Aus der emotionalen Flut heraus, die ich gegenwärtig durchlebe, habe ich mich dem näheren Erforschen des Kerns meines Körpers, der Knochen, gewidmet. In ihrem Essay „Dancing from the Spirit“ schrieb Susan Klein: „Der Knochen ist der Kern dessen, was wir sind, und durch ihn kennen wir die Essenz unseres Seins“. Deswegen „kommen unsere Kraft und unsere Identität aus der Arbeit auf unserer tiefsten körperlichen Ebene – dem Knochen“. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass einigen menschlichen Knochen aufgrund ihrer Herkunft und ihrer jeweiligen Eigenschaften ein niedrigerer Stellenwert zugeschrieben wird und dass sie sich selbst konfigurieren, um diese wilde Realität zu überleben. Nichtsdestotrotz war es ermutigend, über meine Identität in Bezug auf meine Knochen nachzudenken, statt über die üblichen gesellschaftlichen Zuschreibungen: asiatisch, weiblich.

Die Klein Technique Klassen waren ein Ausdruck der Einheit von Körper, Geist und Gefühlen. Im Zuge meiner Arbeit an meiner körperlichen Struktur, um „unnötige Spannungen loszulassen und den Raum zu nutzen“ (so die Aufforderung der Kursleiterin Hanna Hegenscheidt), kamen in mir wilde Emotionen auf. Ich atmete mich durch dieses Chaos durch, setzte ich mich tiefer in meine Hüftgelenke und konzentrierte mich dabei auf die Verbindung zwischen meinen Sitzknochen und Fersen, dank derer ich im Boden verwurzelt bin. Ich begann, dem meinem Körper innewohnenden Wissen zu vertrauen, während ich im Inneren Raum schuf, um die physische und emotionale Spannung, die in ihm eingeschrieben war, zu verarbeiten. Als Hanna uns anwies, unser ganzes Gewicht auf einen Oberschenkelknochen (oder, genauer gesagt: auf einen der Rollhügel am Oberschenkelhals) zu verlagern, wurde mir Angst und Bange. Wenn ich wirklich mein ganzes Gewicht auf ein einziges Bein verlagern würde, könnte es sich sehr intensiv anfühlen. Es wäre einfach gewesen, sich rauszuschummeln oder es einfach sein zu lassen. Als ich meine anfängliche Angst jedoch überwinden konnte, konnte ich mich einem tieferen Verständnis meiner Kernstruktur sowie der Art, wie ich sie potenziell nutzen könnte, nähern.

Wegen der aufgeschichteten Historie der Aggressionen, die ich aufgrund meines Aussehens habe erleiden müssen, habe ich mir Selbstschutz- und Überlebensstrategien angewohnt. Diesen Gewohnheiten zu begegnen, sie zu verstehen und abzuarbeiten, war keine leichte Aufgabe. Ich habe dabei Trauer, Schmerz und Erschöpfung empfunden. Es kam vor, dass heftige Trauerwellen unerwartet über mir zusammenschlugen. Ich musste mich sehr anstrengen, um nicht mitgerissen zu werden und um nicht auseinanderzubrechen. Weil ich mehrere Male Zeugin von Gewalt geworden war und selber Gewalt erlebt hatte, zerrte der Schmerz ständig von unten an meinen Eingeweiden. Die Klein Technique erklärt, dass man sich mehr schadet, wenn man die Quelle des Schmerzes weiterhin ignoriert, weil so nur noch mehr fest verknotetes und tief verwurzeltes Unbehagen erzeugt würde. Es war für mich an der Zeit, mich dem Schmerz zu stellen und seine Anlagerungen zu verstehen.

Der neue Raum, der sich mir eröffnet hatte, war wässrig, wie ein unterseeischer Bereich. Zunächst war ich vom ständigen Wasserzufluss überwältigt. Als ich mich jedoch sinken ließ, spürte ich den neu gewonnenen Platz. Weil im submarinen Bereich alle Bewegungen und Geräusche verlangsamt waren, konnte ich kleine Details wahrnehmen. Im Klein Technique-Unterricht konzentrierten wir uns auf grundlegende Fragen, z. B. wie man steht oder geht. In diesem neuen Raum dachte ich über die Grundlagenfrage nach: „Wie existiere ich?“ Klein sagt, dass alles bereits gegeben ist. Meine Knochen und mein tiefes Gewebe sind bereits da. Meine Aufgabe ist es, meine ineffizienten Gewohnheiten im Umgang mit den flachen Muskeln zu verlernen und meinen Körper so umzutrainieren, dass er auf die Kernstruktur, die ihn unterstützen soll, Zugriff hat.

In ähnlicher Weise ist die Geschichte der Gewalt, der Vergangenheit und der Gegenwart in mich eingeschrieben. Jetzt, da der Zeitlupeneffekt die Bewegungen dieser Geschichte deutlicher werden lässt, geht es darum, mich zu entscheiden, wie ich mit ihr leben und sie anwenden möchte, und mich dementsprechend umzuorientieren. In gewisser Weise verleihe ich meiner tiefliegenden Struktur eine Stimme, indem ich sie zu nutzen lerne. Sie soll endlich gespürt und genutzt werden! In meinem neuen Raum will ich weniger still sein und möchte, dass mein verkörpertes Wissen Gehör findet.

Die Erforschung meines tieferen Selbst ist ein langsamer Lernprozess mit Schwankungen und ohne endgültiges Ziel. Manchmal kann er auch anstrengend und frustrierend sein. Im Unterricht wurde mir einmal bewusst, dass ich beim Gehen mehr Gewicht auf mein linkes Bein verlagerte als auf mein rechtes Bein. Als ich dann bewusst mehr Gewicht auf mein rechtes Bein verlagerte, begann mein rechter Knöchel plötzlich zu schmerzen. Es kann vorkommen, dass, wenn ein oberflächliches Schema, Spannung zu halten, wegfällt, ein anderes darunterliegendes Schema zum Vorschein kommt und darunter dann ein weiteres usw. Das kann belastend sein. Deshalb ist es wichtig, mich daran zu erinnern, dass ich auch Pausen einlegen kann. Einmal war ich so irritiert vom körperlichen Schmerz im Bereich um mein linkes Schulterblatt in Verbindung mit meiner emotionalen Aufwallung, dass ich mich zuerst auf dem Boden ausruhen und dann die Klasse ganz verlassen musste. Als ich mich wieder gefasst hatte und mich wieder konzentrieren konnte, kam ich zurück. Hanna sagte, dass sie manchmal auch eine Pause einlegen muss und dann eine Weile Holz hacken geht. Ich höre noch ihre Worte: „Nutze den Raum, statt etwas zu erzwingen.“

Ich romantisiere nichts und bediene auch keinen Opferdiskurs, wenn ich über meinen Körper und meine Gefühle spreche. Es gibt sie, sie existieren. Hanna erklärte, dass unser Beckenboden uns Halt geben kann, wie der Erdboden uns Halt gibt. Sie betonte, dass sie sich das nicht ausgedacht hatte, nein, das sind Tatsachen: „Manche Sportler*innen fliegen regelrecht in der Luft. Sie bewegen sich aus ihrem Beckenboden heraus. Aber manchen sieht man die Anstrengung an.“ Ich sah mir lange in meinem Anatomiebuch den wunderschönen Beckenboden an. Das Wissen, dass er in mir existiert, um mich von unten zu stützen, berührte mich zutiefst.

Im Kampf gegen Brustkrebs wurde Audre Lorde mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Sie schrieb, dass sie am meisten bedauere, geschwiegen zu haben. Ich neige dazu, immer, wenn ich kurz davor bin zu vergessen, wie zerbrechlich das Leben eigentlich ist, in einen Unfall zu geraten. Vor zwei Tagen wurde ich von einem Fahrrad angefahren. Dieser Vorfall erinnerte mich schlagartig daran, wie kurz mein Leben sein könnte. Ich stellte mir die Frage, die sich auch Lorde gestellt hatte: „Wovor habe ich in meinem Leben jemals Angst gehabt?“ Den freien Ausdruck meines wahren Selbst aus Angst zu zügeln erschien mir wie reine Verschwendung, die mich davon abhielt, mein Leben in vollen Zügen zu leben.

Meine Katze Tuna hat diese Klarheit wohl auch gespürt. Vor einiger Zeit kletterte sie auf einen hohen Kastanienbaum im Hof. Ich verlor sie völlig aus den Augen. Nur die Nachbar*innen in den oberen Stockwerken konnten sie aus ihren Fenstern sehen. Sie sagten mir, dass Tuna mittlerweile ganz oben im Baum sei. Die ersten paar Stunden machte ich mir keine Sorgen, aber als ein Nachbar mir dann sagte, ich solle die Feuerwehr rufen, wurde mir unbehaglich. Nachdem sie drei Stunden lang den Baum erkundet hatte, war Tuna endlich bereit, herunterzukommen. Sie saß auf dem untersten Ast und miaute. Sie sah ziemlich verzweifelt aus, konnte aber nicht weiter hinunterklettern, weil es weiter unten keine Äste mehr gab. Ich schnappte mir einen vorbeigehenden Nachbarn und fragte, ob er mir eine große Leiter bringen könnte. Er fragte mich, wofür; ich zeigte auf Tuna. Seine Leiter war nicht hoch genug, aber er hatte eine andere Idee. Er ging kurz in seine Wohnung und kam mit einem großen Stück orangeroten Stoffes zurück. Er sagte, dass Tuna springen solle und wir sie damit auffangen würden. Wir spannten den Stoff zwischen uns auf und bemühten uns, in Katzensprache mit Tuna zu kommunizieren. Sie miaute, ich miaute zurück, während mein Nachbar „pss pss pss pss“ zischelte. Schließlich sprang Tuna und wir fingen sie auf!

Als ich Tuna in meinen Armen hielt, musste ich über die Bedeutung eines kollektiven Beckenbodens nachdenken. Die Farbe des Stoffes, mit dem wir Tuna aufgefangen hatten, erinnerte an menschliche Muskeln. Tuna wusste, dass wir sie fangen würden; deshalb sprang sie. Obwohl wir nicht wirklich wussten, wie wir mit ihr kommunizieren sollten, gaben wir unser Bestes. Ich hatte ihr geduldig immer wieder signalisiert, aufmerksam zu sein. Als sie soweit war, war ich für sie da. Wie könnte dieser Prozess in den Aufbau eines gemeinschaftlichen Unterstützungssystems umgesetzt werden, das dazu ermutigt, Angsthürden zu überwinden? Wie können wir uns in entscheidenden Momenten gegenseitig Rückhalt geben? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich meinen Beckenboden aktivierte.

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