Liebe Leser*innen,
wie ist es Ihnen ergangen in den Monaten des Shutdowns? Und wie geht es uns wohl, wenn Sie das hier lesen? Corona hat uns alle noch fest im Griff. Auch den Tanz, obwohl die Zeichen behutsam auf Öffnung stehen: Mit kleinen, flüchtigen Momenten des Zusammenseins im Realraum lockt das Tanzprogramm im Sommer.
So weit der Stand Ende Juni, als diese Ausgabe von tanzraumberlin entstand.
Navigieren sieht man die Künstler*innen und Spielstätten bei ihren Vorhaben zwischen analogem und digitalem Spielraum: Anfang Juli verlegt das ada Studio seine Reihe NAH DRAN extended noch komplett ins Reich der Nullen und Einsen. Auch Tanz im August zeigt einen Großteil seines Programms online, während zeitgleich das Staatsballett Berlin auf die Opernbühnen der Stadt zurückzukehren plant. Und schon Anfang August wagen Renae Shadler und Roland Walter in den Uferstudios mit „SKIN“ ein intimes Duett im Nahabstand.
Körperkontakt und Fernpräsenz
Von körperlicher Ko-Präsenz auf der Bühne oder im Studio können die Studierenden am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin vorerst nur träumen. Wie sich ihre Ausbildungspraxis derzeit gestaltet, erzählt die Gastprofessorin Susanne Vincenz.
Ist das Dauer-Zoomen in der Lehre ermüdend, hat der Fernkontakt unschätzbare Vorteile für diejenigen, die am öffentlichen Leben ‚normalerweise‘ nicht ohne weiteres teilnehmen können. In ihrer Remote-Performance „NO LIMIT“ adressierte die Choreografin Angela Alves diese Barrieren – und baute sie mittels Audiobeschreibung, Gebärdensprache und Vorleseoption beispielhaft ab. Von der Entstehung der Zoom-Show in den Sophiensælen berichtet die Dramaturgin Alex Hennig.
Alltägliche Verwerfungen treten im Brennglas der Corona-Krise deutlich zutage: Einschränkungen für die einen bedeuten neue Freiheitsgrade für andere; Verschiebungen des gesellschaftlichen Gefüges sind im Gange. Wie unsere Tanz- und Lebenslandschaften in einem Jahr aussehen werden? Viel Zukunft ist offen.
Bewegung im gesellschaftlichen Gefüge
Absehbar gravierend sind die Corona-Folgen für den internationalen Tanzaustausch, berichten Annemie Vanackere und Ricardo Carmona vom HAU Hebbel am Ufer im Interview. Gastspiele sind derzeit noch nicht möglich, was Künstler*innen vieler außereuropäischer Länder in Existenznot bringt.
Wie angespannt die Lage für freie Kunstschaffende auch hierzulande ist, schildert der Tänzer und Choreograf Jochen Roller in einem Brandbrief, der ein Fanal für die Unabhängigkeit der Künstler*innen setzt.
Ungleich verteilt ist die Gestaltungsmacht im globalen Kunstgeschehen, das verdeutlicht Jay Pather. Der südafrikanische Choreograf, Kurator und Professor beteiligt sich am kritischen Forschungsprojekt Twists. Dance and Decoloniality der Tanzfabrik Berlin. Im Interview erklärt er, wie wir uns dem tief in den Institutionen verankerten strukturellen Rassismus entgegenstellen können und müssen.
Es wird ein langer Weg, aber er lohnt sich: Ähnlich könnte man auch den Vorschlag von Matthias Mohr im Essay dieser Ausgabe fassen. Für mehr Empathie plädiert der Künstlerische Leiter des radialsystems – aber nicht im Sinne passiven Einfühlens, sondern als eine aktivierende Empfindung zwischenmenschlicher Resonanz, die politische Gestaltung ermöglicht.
Sommer im Programm
Die Botschaft dieser zeitgemäß disparaten Ausgabe für mich persönlich: Flexibel bleiben, (selbst-)kritisch und zugleich positiv. Hoffnungsvoll schaue ich aus dem Juni gen Juli und August, auf das immer regere Tanzprogramm in Berlin und Umland. Was wann wo und wie stattfindet, verzeichnet wie immer der Tanzkalender in der Heftmitte. Online wird der Kalender über die kommenden Wochen beständig aktualisiert. Nachsehen lohnt sich – denn wie schnell sich eine Situation verändern kann, haben uns die letzten Wochen und Monate gezeigt.
Ein hoffnungsschimmerndes Modell, künstlerisches Arbeiten nachhaltiger zu fördern, startet in Berlin im Sommer: das am Runden Tisch Tanz 2018 entwickelte und nun an neun Tanzorten startende Pilotprojekt Residenzförderung, das professionell arbeitenden Künstler*innen Zeit, Raum und Betreuung für die eigene künstlerische Arbeit zur Verfügung stellt.
Last but not least noch ein Wort zu den ganzseitigen Fotos: Sie alle stammen aus dem geplanten Sommertanzprogramm. Da tanzraumberlin zum zweiten Mal in Folge nur digital erscheint, können wir – Stichwort neue Freiheiten – den Fotograf*innen und ihren auf eigene Art künstlerischen Arbeiten endlich einmal mehr Raum bieten. Wir freuen uns darüber.
Berührende Live-Momente und den bestmöglichen Sommer wünscht Ihnen und Euch
Elena Philipp
- Juli/August 2020
- Ein anderes Miteinander erspüren
- Ressourcen teilen
- Konfetti zwischen Dielen
- Anti-Distanz-Tanz
- Kachelkurs statt Körper in Kontakt
- Neuanfänge versuchen
- Wandlungsfähig bleiben
- "Wir müssen das Paradigma unserer Arbeit ändern"
- Halb virtuell und halb so lang
- "We Are Inextricably Linked"
- In Miniaturen wandeln
- Wieder Glanz und Glamour
- "Wir lebten im Prekariat, jetzt leben wir im Elend"
- Screen und Sinnlichkeit
- Alles im Lot?
- TANZNACHT BERLIN 2020. Age of Displacement
- Performing Arts Programm Berlin
- Senatsgeförderte Studionutzung
- Wiedereröffnung der HALLE mit »meantime« - ein getanzter Parcours