Ausgabe März/April 2020

Institutionelle Avantgarde

Tanz und Struktur: Kritische Reflexionen zu aktuellen institutionellen Entwicklungen.

Tanzquartier Wien © Vladimir Miller Tanzquartier Wien © Vladimir Miller

Neue Institutionen für den Tanz entstanden zuletzt um das Jahr 2000 in größerem Umfang. Sigrid Gareis, Gründungsintendantin des Tanzquartier Wien, fragt, ob es nicht Zeit für eine neue Gründungswelle oder mindestens für Erneuerung wäre. Innovative Institutionen, die Anregungen auch für die Kunstform Tanz bereithalten, beschrieb sie in einem Vortrag beim Treffen des Tanz­netzwerks Schweiz RESO, den wir hier gekürzt wiedergeben. Darin benennt die Kura­torin auch strukturelle Herausforderungen für zeitgemäße Kulturinstitutionen, Stichworte: Arbeits­bedingungen, Dekolonisierung, Inklusion. Gebeten haben wir Sigrid Gareis ­darüber hinaus um einen Absatz zu Berlin – mit Perspektive auf ein zukünftiges Haus für Tanz und Choreografie, ein Ergebnis des ­Runden Tisches Tanz. Voilà.

Text:: Sigrid Gareis
Kuratorin

Institutionelle Einrichtungen im Tanz – und hier vor allem Tanzhäuser – sind historisch spät entstanden, sieht man von den künstler*innenzentrierten Centres Chorégraphiques im Frankreich der 1970er Jahre und privaten Gründungen wie dem Londoner The Place ab. Die meisten Tanzhäuser eröffneten erst um das Jahr 2000: 1998 etwa das Centre National de la Danse in Paris und das tanzhaus nrw, 2001 das Tanzquartier Wien, 2007 das Tanzhaus Zürich als Veranstaltungshaus, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Diesem späten Gründungszeitpunkt ist es wohl primär zu verdanken, dass Tanzhäuser in ihrer Struktur lange als Vorreiter galten: Denn sie vereinen wie keine andere Kultureinrichtung an einem einzigen Ort die ganze Klaviatur an Bedürfnissen einer Kunstform – Präsentation, Produktion, Weiterbildung und Training für unterschiedliche Tanzschaffende. Dazu können weitere Aspekte kommen wie etwa Research am Tanzquartier Wien, spezielle Residenz-Möglichkeiten wie in der fabrik Potsdam, die Tanzausbildung wie in London oder Anger. Tanzkünstler*innen wird also in einem Haus Unterstützung in nahezu allen Arbeitsphasen geboten, und dem Publikum eröffnet sich der multiperspektivische Zugang zum Tanz.

Schauen wir auf die Gegenwart, so scheint sich der Tanz institutionell mit dem Stand der Jahrhundertwende zufrieden zu geben. Auffällig ist zumindest, dass sich wichtige strukturelle Entwicklungen im Kulturbereich bis dato noch nicht in neuen Institutionen für den Tanz niedergeschlagen haben.

Tanz im Museum

Als erster Punkt ist das derzeit augenfällige Interesse der bildenden Kunst für Tanz und Performance anzuführen, das zu weitreichenden Veränderungen in der Museumslandschaft geführt hat. Tanz ist in den Museen heute selbstverständlicher Bestandteil der Programmarbeit geworden. Noch mehr: Die Museen beginnen damit, Tanz institutionell an ihre Häuser zu binden und sich für die Live-Art architektonisch umzugestalten. An zwei Beispielen lässt sich das konkret aufzeigen.

Die Tate Modern in London hat nicht nur – wie heute relativ geläufig – Performance-Kurator*innen angestellt, sondern bereits 2012 die Tanks, die ehemaligen Öllager des früheren Kraftwerks, als Live-Veranstaltungsraum eröffnet. Und seit der Neueröffnung des New Yorker MoMA im Oktober 2019 gibt es dort das Kravis-Studio, das nach eigenen Angaben weltweit der erste Raum für Performance, prozessuale und zeitbasierte Kunst ist, der zentral in die Galerien eines großen Museums integriert ist. Ein Mission-Statement der Kuratorin Ana Janevski machte deutlich, dass im „New MoMA“ Tanz und Performance nicht nur eingeladen, sondern auch produziert werden, dass dort Festivals ausgerichtet und Residenzen eingerichtet werden – also zentrale Aufgaben von Tanz- und Theaterhäusern heute von Museen übernommen werden.

„New Institutionalism“ der Mäzen*innen

Als zweite signifikante Entwicklung ist eine Art „New Institutionalism“ zu bemerken, der heute – anders als Ende der 1990er Jahre – nicht von Kurator*innen, sondern von einem privaten Mäzenatentum getragen wird. Zu beobachten ist, dass private Förderer*innen proaktiv ihr Geld in die Hand nehmen, um eigene Institutionen und persönliche inhaltliche Visionen zu verwirklichen. Aus der Vielzahl der Beispiele möchte ich zwei aktuelle, keinesfalls unumstrittene Einrichtungen nennen, die nichtsdestotrotz dem Tanz Anregungen bieten können.

Das Luma in Arles, gegründet von der Schweizer Unternehmererbin Maja Hoffmann, will mit einer speziellen Programmpolitik eine Kunstinstitution der Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Relevanz werden – ein Zukunftslabor der Kreation und Innovation, nicht nur für die Kunst, sondern auch für Umweltschutz und Menschenrechte. Die Presse hat das Luma bereits als „Think tank für Weltprobleme“ bezeichnet (Die Welt, 5. August 2017). Auf der Website zeigt Jan Boelen, Kurator der Atelier Luma, dass in einer kontinuierlichen Zusammenarbeit von Kunst – 2018/19 hatte Florentina Holzinger eine Residency im Luma –, Wissenschaft, Handwerk und Landwirtschaft ein der Gesellschaft verpflichteter artistic research realisiert wird, der weit über den Kontext der Kunst hinausgeht.

Ganz anders das Veranstaltungshaus „The Shed“ in New York: Nach einer Idee des ehemaligen Bürgermeisters Michael Bloomberg wurde es, gebaut von Diller Scofidio und Partnern, im Frühjahr 2019 in den Hudson Yards eröffnet, einem Gentrifizierungsgebiet Manhattans, was das Haus in Szenekreisen suspekt macht. Bemerkenswert ist jedoch, wie es sich nach dem Vorbild des unrealisierten „Fun Palace“ des britischen Architekten Cederic Price in seiner gesamten DNA der Transdisziplinariät verschrieben hat. 18.500 m² groß, umfasst es Galerien, Theater und Probenräume. Die Hülle des Gebäudes ist auf Rädern gelagert, mit denen sich das Gebäude architektonisch verändern lässt: So kann im Handumdrehen aus dem Vorplatz des Gebäudes ein geschlossener Performanceraum gemacht werden. Obwohl wir den Tanz oft in seiner Interdisziplinarität anpreisen, kenne ich keinen vergleichbaren architektonischen Versuch in unseren Institutionen.

Für einen politischeren Tanz

Die geschilderten Entwicklungen vor Augen wünsche ich mir insbesondere, dass sich der Tanz deutlich mehr „empowert“ und artikulierter in der Öffentlichkeit auftritt. Denn Tanz spielt hierzulande in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle, obwohl er – betrachtet man den globalen Kontext – bemerkenswerte gesellschaftspolitische Schlagkraft entwickelt hat.

Tänzer*innen und Performer*innen haben in jüngerer Zeit etwa dem politischen Protest ein konkretes, körperbezogenes politisches Vokabular gegeben, das von der Bevölkerung aufgegriffen und kollektiviert wurde. Zu denken ist hier etwa an den „standing man“ in Istanbul – im Original war es der Choreograf Erdem Gündüz –, an das feministische Schlendern in Indien, das von der Theaterregisseurin Neha Singh entwickelt wurde, oder an die Choreograf*innen in Brasilien, die Nacktheit zur Kampfformel gegen das repressive evangelikale Milieu des Präsidenten Jair Bolsanaro erhoben haben. Und auch allgemein hat sich auf politischen Demonstrationen Tanzen zu einer essentiellen Protestformel entwickelt. Für den Wissenschaftler Oliver Machart ist dieser „Demo-Tanz“ im Anschluss an Lacan als eine Art jouissance des verkörperlichten demokratischen Handelns zu betrachten.

Institutionen unter die Lupe nehmen

In schwierigen Zeiten wäre es angesagt, Körperwissen gezielt dafür einzusetzen, neben der ästhetischen auch eine politische Sprachlichkeit zu entwickeln, die dann – das Luma macht es uns vor – auch in den Dienst der vielfältigen globalen Krisenbewältigungen gestellt werden könnte. Und wenn wir von der These ausgehen, dass Kulturinstitutionen eine gesellschaftliche Vorbildfunktion in einem Gemeinwesen haben sollten, müssen wir unsere Tanzinstitutionen auch strukturell noch genauer unter die politische Lupe nehmen.

Im Prinzip sind die anzustrebenden Parameter bekannt, das Problem ist eher, dass entsprechende Prämissen institutionell zu wenig umgesetzt sind. Ich möchte daher nur eine Grobrichtung aufzeigen: In welchem Ausmaß bilden unsere Tanzinstitutionen unsere gesellschaftliche Realität ab (vor allem in Hinblick auf deren Organigramme und Besucher*innenstruktur)? Welchen Kanon vertreten wir? Welche Arbeitsverhältnisse haben wir eingerichtet? Wie gehen wir mit Ressourcen um?

Bestehende Modelle und Methoden sollten stärker beachtet werden, wie etwa EMAS- Zertifizierungen im Umweltmanagement (www.emas.de) oder die Gemeinwohlökonomie, die der Tänzer Christian Felber maßgeblich mitentwickelt hat.

Kanon und (De-)Kolonisierung

Kurze Anmerkungen zum Kanon, den etwa das New MoMA für die bildende Kunst derzeit gezielt in Frage stellt. Der Tanz, der sich oft mit seiner Internationalität schmückt, muss auch hier kräftig aufholen. Durchgemacht hat er in den letzten Jahren zwar einen Historisierungsschub, ist bei dieser „Entdeckung des Tanzerbes“ aber extrem westlich bzw. national geblieben. Wie wir unseren Kanon außereuropäisch erweitern können, wurde bisher kaum diskutiert, stattdessen exportieren wir immer noch eher gedankenlos in die Welt: Gerade soll Pina Bauschs „Sacre“ im Senegal in großer Formation einstudiert werden. Im Gegenzug wird Germaine Acogny in Wuppertal ein Duett mit einem ehemaligen Ensemblemitglied kreieren – die Chance einer Kanonerweiterung durch ein senegalesisches Stück im Repertoire dieser westlichen Company wurde somit vertan.

In den Uferstudios beginnen wir gerade unter Federführung der Tanzfabrik Berlin mit der exemplarischen Dekolonisierung von Tanzinstitutionen  („Twists: Dance and Decoloniality“) und merken bereits heute, dass man sich dabei vor einfachen Antworten hüten muss.

Flexibilisierung und Inklusion

Wie mit dem Interesse der Museen am Tanz umgehen? Allgemein möchte ich postulieren, nicht mit Konkurrenz – denn je mehr Möglichkeiten für Tanzschaffende, desto besser.

Die adäquatere Reaktion wäre, unseren Einrichtungen einen weiteren Schub zu verpassen – einen Flexibilisierungsschub: Was spricht dagegen, für performative Ausstellungen unsere Räumlichkeiten umzugestalten? Neben der black box den white cube oder den grey room zu ermöglich? Die Öffnungszeiten zu überdenken? Kataloge für die vertiefte Reflexion und Dokumentation zu planen? Künstler*innen anderer Sparten die Arbeit selbstverständlicher zu ermöglichen? Auf Augenhöhe Kooperationen mit Museen oder Biennalen einzugehen?
Und noch einige Bemerkungen zum Thema Inklusion: Bezüglich der„Ability-Frage“ gibt es bereits weitreichende Ansätze, die meines Erachtens aber stärker popularisiert gehören.

In der Schweiz existieren wichtige Initiativen wie IntegrART oder Pro Infirmis. In Deutschland haben sich die Sophiensæle in dieser Frage positiv hervorgetan: Für Menschen mit sensorischen oder motorischen Einschränkungen bieten sie ein „Early Boarding“ an – die Möglichkeit, den Saal zehn Minuten vor dem offiziellen Einlass und dem üblichen Gedränge zu betreten. Für Blinde und Sehbehinderte besteht ein Abholservice, und es werden zu ausgewählten Vorstellungen Live-Beschreibungen und eine vorausgehende Tastführung angeboten. Auch finden Shows als „Relaxed Performances“ statt: Die Atmosphäre ist entspannter, das Licht im Zuschauerraum an, Gehörschutz wird bereitgestellt, Kommen und Gehen ist erlaubt, Stille nicht obligatorisch.

Idealinstitution oder Pluralität?

Was lässt sich aus dem Beschriebenen für Berlin und das Vorhaben für ein Haus für Tanz und Choreografie ableiten? Im Ballungsraum Berlin mit 4,5 Millionen Einwohner*innen und einer „Hundertschaft“ an bestehenden Theaterhäusern, in denen der Tanz – wenn überhaupt – dem Theater in der Regel nur nachgeordnet präsentiert wird, ist es meines Erachtens nicht nachvollziehbar, dass bislang keine gut ausgestattete zentrale Produktions- und Spielstätte für Tanz und Choreografie existiert. Bestehende Tanzhäuser in anderen Städten haben gezeigt, dass sie die Sparte insgesamt stärken und ihre Sichtbarkeit und Artikulationsmöglichkeiten steigern. Ob ein bestehendes Haus umgewidmet, erweitert oder ob nach dem Vorbild von „The Shed “ ein Neubau ins Auge gefasst wird, gilt es als Ergebnis des Runden Tisches Tanz schnellstmöglich zu prüfen.

„Zentral“ darf aber heute nicht mehr „Monopolinstitution“ heißen: Strukturell zu denken ist vielmehr in Richtung eines „Hub“ – einer Plattform, „Drehscheibe“ bzw. eines Begegnungsorts, der die unterschiedlichsten Akteur*innen und Konstellationen zusammenführt. Flach hierarchisiert, sollte dieses Tanzhaus die „Institutionenkritik“ und ihre Methoden der Selbstreflexion strukturell bereits in seiner DNA verankert haben.

Und eines sollte klar sein: Der Tanz braucht nicht die eine Idealinstitution, sondern unterschiedlich ausgeprägte Strukturen, Netzwerke, Formate, Vereinigungen, Organisationen, Einrichtungen... Alle sollen sie, so maximal es nur geht, human, visionär, künstler*innengerecht und gesellschaftsorientiert konzipiert und strukturiert sein. Das sind wir der Kunstform schuldig!

Langfassung des Vortrags "Welche Institutionen braucht der Tanz?" online bei reso.ch.

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