Ausgabe November-Dezember 2022

Klasse macht Körper

Warum Scham keine Privatangelegenheit ist. Über Klassismus in der zeitgenössischen Kunst.

Schrift an der Wand: “Love is ...”, in einem der Studios des französischen Residenzortes Performing Arts Forum. Foto: Sandra Noeth

Am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT Berlin) hat Sandra Noeth, Professorin im Masterstudiengang Solo/Dance/Authorship, gemeinsam mit Daniel Belasco Rogers, Gastprofessor an der Universität der Künste, eine (Online)-Lecture Series entwickelt. The ­Performativity of Class widmet sich Ausschluss­mechanismen in der Kunst und den sich auch körperlich einprägenden, herkunftsbedingten Haltungen. Wie kann der Tanz sich dieses ­Themenfeld noch mehr erschließen und welche ­Fragen gilt es dafür zu beantworten?

Text: Sandra Noeth
HZT-Professorin, Kuratorin und Dramaturgin

Working Class & Precarity war der Titel der Arbeitsgruppe, die das Projekt Critical Practice – Made in YU im Rahmen eines Treffens verschiedener Ausbildungsprogramme in den Performing Arts im September 2022 initiiert hat. Jenseits oft westlich geprägter Theorie, romantischer Aufstiegserzählungen oder verhärteter Klischees ging es darum, Fragen nach Herkunft und sozialer Gerechtigkeit anhand von Alltagsgeschichten nachzuzeichnen. Im Austausch anonymer oder zugewiesener Erfahrungen von Student*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen landeten wir bald bei materiellen Fragen: fehlenden oder instabilen Ressourcen, die ein zentraler Faktor bleiben, um sich Kultur und Kunst als Studium oder Beruf ‚leisten‘ zu können.

Wenn Herkunft Körper macht
Zugleich hat Klassismus einen – oder vielmehr viele – Körper. Er ist gemacht, sitzt in Gesten, Blicken und Haltungen, die oft über Generationen hinweg erlernt und eingeübt sind und schwer greifbare, aber äußerst wirksame soziale Grenzziehungen und symbolische Ordnungen ins Körperliche übersetzen. Klassismus wirkt auf somatischer Ebene, wenn sich ungleiche Teilhabe in Gefühlen des Nicht-Dazugehörens, von Unsicherheit oder Scham fortschreibt. Er ist am eigenen Leib zu spüren, wenn wir, im Versuch, uns in das sozialgesellschaftliche Werte- und Bewertungssysteme Anderer einzufinden, unsere Sprache oder unser Auftreten verändern.

Klasse macht Körper, wenn prekäre Bedingungen und Arbeitsverhältnisse unseren Lebensrhythmus bestimmen und Erschöpfung und Müdigkeit zum Dauerzustand geworden sind. Hier sind sicher Zusammenhänge angesprochen, die viele betreffen, die in Kunst und Kultur arbeiten. Was aber bestimmt, ob Krisen als Pause mit der Perspektive des Weitermachens oder sogar als Momente des Experimentierens erlebt werden oder eine direkte Bedrohung darstellen, hängt auch mit dem sozialen Kapital und dem materiellen und psychologischen Netz zusammen, auf das jemand zurückgreifen kann.

(Un-)Sichtbare Grenzen navigieren
„Love“ ist in weißen Streifen, mit schwarzem Stift nachgezeichnet, an die grünliche Wand des Studios St. Lucie im französischen Residenzort Performing Arts Forum PAF geklebt. Dort vermischen sich die Erfahrungsberichte der Anwesenden immer wieder mit meinem eigenen Erleben: Erzählungen von Assimilation, in denen der berufliche Schritt in ein Feld, das zuerst nicht für einen vorgesehen war, Distanz schafft, zu vertrautem Terrain und Menschen. Die Mischung aus Stolz und Anerkennung, es vermeintlich ‚geschafft zu haben‘, die auf Gefühle von Wut und Traurigkeit angesichts unfairer Strukturen und der Arroganz mancher Gatekeeper treffen. Die materiellen Sorgen um die Zukunft, auch wenn der BaföG-Bescheid inzwischen beglichen und die berufliche Situation zumindest temporär gesichert ist. Aber da sind auch andere Momente, ein Widerstand dagegen, dass Sachen ‚einfach so sind‘, und die Erfahrung von Unterstützung und Freundschaft von Menschen, die einen begleitet und die eigenen Impulse in Möglichkeiten übersetzt haben. Das Sensorium und die Sensibilität, die sich im Navigieren sichtbarer und unsichtbarer Grenzen entwickelt haben und die zu einem wichtigen Arbeitstool geworden sind.

Comeback der Klassen-Frage
In den letzten Jahren hat die Klassen-Frage in Deutschland eine Art Comeback erlebt und eine Leerstelle in intersektionalen Debatten um Ungleichheit und Diskriminierung markiert. Die Realitäten sind dabei wenig ermutigend: Nach einem hart umkämpften Demokratisierungsschub im Bildungsbereich in den 1970er Jahren im Zeichen der Chancengleichheit und Solidarität dokumentieren neuere Studien eine deutliche Verhärtung herkunftsbedingter Ausschlussmechanismen: ‚Arbeiterkindern‘ wird bereits vor Schuleintritt immer noch weniger zugetraut als anderen. Während ihrer gesamten Bildungskarriere schlagen sie sich mit Vorurteilen herum, die ihnen fehlende Motivation oder Ungeeignetsein diagnostizieren oder sie als ‚Ausnahmeerscheinungen‘ in das bildungsbürgerliche Narrativ integrieren – insbesondere dann, wenn sie in erster Generation unterwegs sind.

Klassismus ist immer relational, abhängig vom Kontext, und nur im Zusammenspiel mit anderen Formen des Ein- und Ausschlusses zu begreifen. Dem Thema heute im Feld der Kunst wieder Raum zu geben, zielt nicht darauf ab, neue Abgrenzungen zu schaffen, bestehende zu verhärten oder eine Form der Diskriminierung gegen eine andere auszuspielen. Die Auseinandersetzung beginnt vielmehr damit, herkunftsbedingte Ungleichheiten nicht nur als Einzelschicksale anzuerkennen: Scham aufgrund von Klassismus ist keine Privatangelegenheit, sondern Symptom einer Struktur, die tief in unseren (Ausbildungs-)Institutionen aber auch in unabhängigen Kunst-Räumen und Formen der Kollaboration verankert ist.

Kritisches Handeln, um Klassendynamiken zu begegnen
Was es braucht, ist eine gemeinsame Arbeit jenseits zugeschriebener Klassenzugehörigkeiten. Worte müssen gefunden werden und Instrumente entwickelt, um diese Dynamiken zu erfassen, zu beschreiben und in kritisches Handeln zu übersetzen: Wo sind die Stellschrauben in unseren Strukturen, die Kunst und Kunstausbildung poröser machen, auch mit Blick auf notwendige Erwerbstätigkeit, Mutterschaft oder Herausforderungen, die aus Sorge­arbeit und Krankheit entstehen? Wie können in einem internationalen Kunstbetrieb spezifische Klassen­dynamiken integriert werden? Wie können wir noch stärker Wissen über (Arbeits-)Rechte vermitteln und Angebote machen, die die Klassenfrage in der Kunst thematisch und ästhetisch in einen größeren, historischen Kontext einordnen? Wie in der eigenen Prekarität auch die eigenen Privilegien ausmachen, um Sympathie für diejenigen zu entwickeln, die nicht zu unserer Gruppe gehören?

 

Die (Online)-Lecture Series The Performativity of Class, kuratiert von Sandra Noeth und Daniel Belasco Rogers, wirft einen intersektionalen Blick auf das Comeback des Klassenbegriffs mit einem Fokus auf die Arbeitsbedingungen und -realitäten in den Bereichen Ausbildung und körperbasierte darstellende Künste: Bereiche, in denen soziale Ungleichheiten und Privilegien oft eher reproduziert als abgebaut werden. Mit den Künstler*innen, Kurator*innen und Wissenschaftler*innen Venuri Perera, Ana Vujanovic, Gurur Ertem, Francis Seeck, Kerstin Honeit, Edwin Nasr, Tanja Abou. Die öffentliche SODA Lecture Series findet vom 20. Oktober bis 8. Dezember 2022 auf dem Campus Uferstudios und als Livestream statt und ist eine Kooperation des HZT Berlin mit dem Studium Generale der UdK Berlin. Ausführliche Informationen unter www.hzt-berlin.de.

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