Ausgabe Mai/Juni 2021

Hochsensible Prozesse

Nachdem die Tänzerin Chloé Lopes Gomes auf rassistische Vorfälle hinwies, will das Staatsballett Berlin sich in punkto Diskriminierung sensibilisieren, die eigenen Strukturen hinterfragen und verändern.

Weiß, weiß, weiß sind alle meine Tänzerinnen? "La Bayadère" von Alexei Ratmansky am Staatsballett Berlin.
Weiß, weiß, weiß sind alle meine Tänzerinnen? "La Bayadère" von Alexei Ratmansky am Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Im November 2020 meldete sich Chloé Lopes Gomes öffentlich zu Wort. Die Tänzerin am Staatsballett Berlin berichtete von Diskriminierung und Rassismus, die intern nicht aufgearbeitet worden seien. Gegen die Nichtverlängerung ihres Vertrags klagte sie vor dem Bühnenschiedsgericht, wo sich ihre Anwälte am 21. April 2021 mit dem Staatsballett Berlin auf einen Vergleich einigten. Damit ist das Kapitel aber nicht abgeschlossen, sondern der eigentliche Prozess beginnt gerade. Wie das Staatsballett Berlin die Vorwürfe aufarbeiten und künftig gegen Rassismus und Diskriminierung vorgehen möchte, hat Sandra Luzina recherchiert.

Text: Sandra Luzina
Tanzjournalistin

Rassismusvorwürfe erschüttern derzeit das Düsseldorfer Schauspielhaus. 1.400 Theaterschaffende haben in einem Brief Respekt und einen offenen Dialog gefordert. Auch am Staatsballett Berlin ist die Aufarbeitung der Rassismus-Vorfälle aus dem letzten Jahr noch im Gange. In einem Statement der Intendanz heißt es: „Die rassistischen und Diskriminierungs-Vorfälle an unserem Haus, die in den letzten Tagen ans Licht kamen, haben viele von uns sehr getroffen und gezeigt, dass an den nötigen Kompetenzen, um mit Diskriminierung jeglicher Form entsprechend umgehen zu können, hart gearbeitet werden muss, um letztendlich tiefgreifende Veränderungen in Gang zu setzen.“

Die Interims-Intendantin am Staatsballett Berlin, Christiane Theobald, hatte KultursenatorKlaus Lederer zeitnah über die Vorwürfe informiert und eine innerbetriebliche Aufklärung angekündigt. Lederer erklärte danach, dass seine Verwaltung den Aufarbeitungsprozess, bei dem auch ein Code of Conduct erarbeitet werden soll, kontrollieren werde. Aus der Pressestelle hieß es dazu: „Gemeinsam mit dem Staatsballett hat die Senatsverwaltung einen Prozess aufgesetzt, um die Vorgänge aufzuarbeiten, zu verstehen und – soweit das geht – zu bewältigen (zum Beispiel durch Antidiskriminierungsworkshops). Der gesamte Prozess wird durch eine externe Beratung begleitet.“

Organisationsentwicklung braucht Zeit

Bereits im Oktober letzten Jahres hat ein Beratungsgespräch des Staatsballetts mit Sonja Baltruschat, der Diversitäts-Agentin am Theater an der Parkaue, stattgefunden. Sie weiß aus Erfahrung, wie schwierig sich die interne Aufarbeitung gestalten kann. „Das sind hochsensible Prozesse, die Zeit brauchen, die aber unbedingt gegangen werden müssen“, sagt sie.

Dieser Ansicht ist offenbar auch das Staats­ballett, dessen Intendanz an mehr Antidiskriminierungs-Kompetenz arbeiten möchte und sich auf der Webseite für null Toleranz ausspricht. Das ursprüngliche Statement der Intendanz wurde inzwischen aktualisiert. Hier erfährt man jetzt, welche Maßnahmen bisher ergriffen wurden. So wurde im Dezember 2020 eine Clearingstelle eingerichtet (die aber nicht als dauerhafte Beschwerdestelle gedacht war). Constantin Olbrisch und Eva Eschenbruch konnten dafür gewonnen werden – die beiden erfahrenen Mediator*innen wurden von der Kulturverwaltung auch mit der Aufarbeitung der Machtmissbrauchs-Vorfälle an der Volksbühne Berlin beauftragt.

An die Clearingstelle des Staatsballetts konnten sich Beschäftigte wenden, um von ihren Erfahrungen und ihrer Wahrnehmungen zum Thema Diskriminierung zu berichten. Die Gespräche wurden anonym geführt. Sie habe sich dadurch einen umfassenden Überblick verschaffen wollen, sagt Christiane Theobald: „Hier ging es um die Organisation als Ganzes. Gleichzeitig haben Mitarbeitende, die sich an die Stelle gewendet haben, ggf. auch ein Coaching bekommen mit dem Ziel, sie zu stärken („Empowern“).“

Sensibel für Diskriminierungen werden

Die Ergebnisse der Befragung liegen mittlerweile vor. „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der Vergangenheit einzelne Mitarbeiter*innen Diskriminierungserfahrungen gemacht haben“, heißt es in dem online veröffentlichten Intendanz-Statement. „Die Ergebnisse dienen als Entscheidungsgrundlage für weitere gezielte Maßnahmen, wo nötig.“

Eine erste Bestandsaufnahme liegt also vor. Und der Fall macht, bei allem guten Willen seitens des Staatsballetts, einmal mehr deutlich: Es herrscht im Ballett noch eine Kultur der Angst. Betroffene äußern sich oft nicht, weil sie sich vor negativen Konsequenzen fürchten. Und sie wissen meist nicht, an wen sie sich im Falle eines Fehlverhaltens von Mitarbeitenden oder Vorgesetzten wenden können. Besonders schwierig ist es für Tänzer*innen, die kein Deutsch sprechen. Deshalb braucht es unbedingt externe Beschwerdestellen, die einen geschützten Raum bieten. Nur wenn die Tänzer*innen genug Vertrauen in diese Stellen haben, werden sie über ihre Erfahrungen sprechen. Zugleich haben die Fälle aus jüngster Zeit gezeigt, dass Betroffene von rassistischer Diskriminierung sich durch die #BlackLivesMatter-Bewegung ermutigt fühlen, sich zur Wehr zu setzen. Da bewegt sich gerade etwas.

Desweiteren haben die Vorfälle deutlich gemacht, dass es auch verpflichtende Weiterbildungen für Ballettmeister*innen geben sollte. Sie sind nicht immer ausreichend qualifiziert, um mit Tänzer*innen unterschiedlicher kultureller Hintergründe umzugehen. Auch in den Ballettsälen muss eine diskriminierungssensible Sprache Einzug halten.

Workshops und ein Verhaltenscodex

Mit einigen der in besonderer Verantwortung stehenden Beschäftigtengruppen wurden am Staatsballett Berlin denn auch schon gezielt Workshops durchgeführt, insbesondere mit den Ballettmeister*innen, aber auch mit der Leitungsebene und mit Mitarbeiter*innen der Öffentlichkeitsarbeit. Es soll weitere Schulungen geben zu den Themen Diskriminierung und Diversität; auch über ein adäquates Beschwerdemanagement und Feedbackkultur wird nachgedacht.

Was den Code of Conduct angeht, so hat sich anscheinend noch nicht viel getan. „Entscheidend ist am Ende die Organisationskultur, in der sich die angestrebten Verhaltensweisen verfestigt haben müssen, damit sie gelebt werden im täglichen Umgang“, sagt Christiane Theobald. „Daran arbeiten wir stetig. Und werden das zu gegebener Zeit gemeinsam mit der Belegschaft auch verschriftlichen.“

Eine juristische Grundlage für ein respektvolles Miteinander wird das Staatsballett brauchen. Wie lernfähig eine solche Institution ist, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, möglichst viele Mitarbeitende einzubeziehen – und es braucht zudem ein „Commitment“ auf höchster Ebene, also auch von Seiten der Opernstiftung Berlin.

Ethik-Kommission des Dachverbandes Tanz

Das Thema Machtmissbrauch und Diskriminierung betrifft aber die ganze Ballettszene mit ihren stark hierarchischen Ballettkompanien und -akademien – man denke an die Vorfälle, die in Zusammenhang mit der Staatlichen Ballettschule Berlin diskutiert werden. Der Dachverband Tanz Deutschland (DTD) hat erkannt, dass unbedingt etwas passieren muss, und plant deshalb, eine Ethik-Kommission ins Leben zu rufen.

„Wir sind schon 2017 durch die #MeToo-Debatte aufgerüttelt worden“, sagt Claudia Feest vom Vorstand des DTD. „Wir haben zunächst die Zustimmung unserer gesamten Mitgliederversammlung eingeholt, weil wir es wichtig finden, dass dieses Thema vom gesamten Feld des Tanzes mitgetragen wird.“ Mitglied ist zum Beispiel die Deutsche Ballettdirektorenkonferenz, in der auch Christiane Theobald eine prominente Rolle spielt.

Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen müssten in einem so körpernahen Medium wie Tanz unbedingt thematisiert werden – das sei Konsens gewesen, so Claudia Feest. Der Vorstand hat in einem ersten Schritt eine Ethik AG auf den Weg gebracht, im März 2020 wurde ein Verhaltenskodex formuliert. Er verpflichtet die Mitglieder, sich entsprechend den ethischen Leitlinien zu verhalten. Allerdings handelt es sich um eine Selbstverpflichtung. Sanktionsmöglichkeiten gibt es keine. Corona sei ihnen danach in die Quere gekommen, berichtet Claudia Feest zum Stand der Dinge – sie hätten sich als Verband vorrangig um Förderprogramme vor allem für freischaffende Künstler*innen kümmern müssen.

Gründung einer Beratungsstelle

Doch nun ist es soweit: Im Frühjahr oder Sommer soll eine achtköpfige Kommission berufen werden. Die acht Kommissionsmitglieder sollen nicht nur aus dem Tanzbereich, sondern auch aus der Medizin, Psychologie und Rechtsprechung kommen. Die Ethik-Kommission soll sich kontinuierlich mit dem Thema Ethik im Tanz auseinandersetzen. Zusätzlich soll eine Beratungsstelle installiert werden. Sie soll ähnliche Aufgaben übernehmen wie ­Themis, die 2018 gegründete Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt, an die sich insbesondere Theater- und Filmschaffende wenden können. In einem Konfliktfall wie beim Staatsballett Berlin könnten sich beide Seiten – die Betroffenen und die Theater als Arbeitgeber – an diese Stelle wenden, so Feest.

Eine Finanzierung für diese Beratungsstelle gibt es aber noch nicht. „Da wir ein Bundesverband sind, wünschen wir uns natürlich, dass wir Bundesmittel bekommen“, erklärt Feest. Wichtig sei es aber, jetzt schon die nötigen Strukturen zu schaffen. Im Fall der Staatlichen Ballettschule Berlin hätte der DTD sowohl dem Berliner Bildungssenat als auch der Schule seine Expertise angeboten – leider vergeblich. Mit einer Ethik-Kommission wäre ein Ins­trument geschaffen, um sich Gehör zu verschaffen. Und in puncto Tanzausbildung, besonders an den Ballettakademien, deute sich gerade ein Paradigmenwechsel an, sagt Claudia Feest.

Sie hofft auf eine breite Diskussion zum Thema Ethik im Tanz: „Wir haben den Verhaltenskodex formuliert und sind bereit, die Inhalte der ethischen Leitlinien mit der Ethik-Kommission noch weiter zu differenzieren. Aber die Umsetzung im konkreten Konfliktfall muss sich in der Praxis noch beweisen.“ So wie am Staatsballett Berlin.

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