Der Grundherzschlag des Machens
Beim 8. Tanztreffen der Jugend sind 2021 fünf Gruppen aus Berlin dabei – bei bundesweit insgesamt zwölf eingeladenen Positionen ein bemerkenswerter Anteil. Was die Eingeladenen künstlerisch beschäftigt, hat Judyta Smykowski recherchiert, die hier die Berliner Projekte vorstellt.
Text: Judyta Smykowski
Kulturjournalistin und Redaktionsleiterin „Die Neue Norm“
Unter Pandemie-Bedingungen
Proben ohne Aufführung? Das ist wie ein olympischer Wettbewerb ohne Sieger*innenehrung. Für darstellende Künstler*innen bedeutet es einen Prozess ohne Höhepunkt. Diese Erfahrung machten im Corona-Jahr fast alle Berliner Gruppen, die zum diesjährigen Tanztreffen der Jugend eingeladen sind. Corona kostete sie bislang die Aufführung ihrer Tanzprojekte und damit die Begegnung mit einem Publikum, das live im Saal das Geschehen verfolgt. Ersetzt wurde der Blick des Publikums durch die Kameralinse.
In allen fünf Berliner Produktionen bestimmte die Pandemie die Bedingungen, unter denen geprobt wurde, in einigen wurde sie auch künstlerisch thematisiert.
Flucht und Ankommen: „Anas“
Es ist Herbst im Wald, überall liegt Laub. Anas, Tänzer und zugleich Hauptfigur des nach ihm benannten Tanzfilms, ist auf der Flucht, versteckt sich hinter den Bäumen vor einem anderen Tänzer. Im dazu gesprochenen Text erzählt er, dass sein Bruder im Krieg fiel, er keine Zukunft mehr in Syrien sah und flüchtete. Er fängt an zu tanzen, mit Jacke, Mütze, Schal und Rucksack, und bewegt sich dabei durch den Wald, nach einem Schnitt dann vom Kottbusser Tor bis zur Warschauer Straße. Immer wieder begleiten ihn andere Tänzer*innen der Urban Dance-Crew von HaBer Project e.V. ein Stück oder stellen sich ihm in den Weg. Dann muss er sie aus dem Weg „battlen“.
Dabei erzählt Anas‘ Stimme aus dem Off von der Flucht über die Türkei und über den Seeweg: „Jede Welle, die uns traf / warf uns etwas zurück / doch der Rückenwind kam und schob uns nach vorn ein Stück / Dann kam der Ruf / Land in Sicht und wir schienen dem Tod nur knapp entwischt.“ So durchleben wir Anas´ Reise bis nach Deutschland, ins neue „Daheim“. Am Ende des Films stehen alle Tänzer*innen in einer Reihe und tanzen einen kurzen Moment gemeinsam, Anas entfernt sich und lächelt, im Off heißt es „heute erzähle ich (…), wie ich mich etwas heimisch fühle / hier in diesem Land“.
Unter der künstlerischen Leitung von Fidan Sirin ist ein Tanzfilm über Anas’ Reise entstanden. Die Texte, die mit Poetry Slammer Sami El Poet entwickelt wurden, werden auf Deutsch erzählt und arabisch untertitelt. Das Stück feierte aufgrund von Corona bisher nur Videopremiere in den sozialen Netzwerken.
Weiblichkeit erforschen: „Connection“
Vom Ankommen, allerdings bei sich & selbst, handelt auch das Stück „Connection – flüssig & fest“. Von Bauchtanz bis zu HipHop-Moves präsentiert sich das Ensemble der ACADEMY Bühnenkunstschule unter dem Thema „fest und flüssig“. Acht junge Frauen tanzen zunächst mit Bauchtanzbewegungen und bauchfrei zu Deep House Musik mit orientalischen Einflüssen, dann wechselt die Musik zu kräftigen HipHop-Bässen von Rapperin Sampa the Great und die Tänzerinnen ziehen oversized Blusen an, die vorher noch um ihre Hüften gebunden waren. „Von freizügig bis zugeknöpft, von sexy und weich sein bis hin zu total stark, damit haben wir uns viel beschäftigt“, sagt Stella Caric, Choreografin und Leiterin der Werkstatt ACADEMY Bühnenkunstschule. Die Arbeitsweise hinter dem Titel „fest und flüssig“ erklärt Caric so: „Ich wollte mit den zwei Zuständen spielen, die Tänzerinnen sollten die Aggregatzustände in sich wahrnehmen und sich zwischen diesen Extremen selbst finden.“
Als klar war, dass die Gruppe, die sich für das ACADEMY-Ensemble beworben hatte und ausgewählt worden war, nur aus Frauen bestünde, beschlossen sie gemeinsam, Weiblichkeit als weiteres Thema in die Performance mit einfließen zu lassen. Zu Beginn der Stückentwicklung tauschten sich die Tänzerinnen, die verschiedene Niveaus aufwiesen, intensiv über verschiedenste Themen aus. Es ging um die psychische Verfassung aufgrund der Corona-Pandemie, aber auch um den weiblichen Zyklus. „Es war cool für sie, offene Gespräche zur Monatsblutung zu führen“, so Caric. Es sei ein geschützter Raum gewesen, in dem man das mal besprechen konnte, gerade mit Menschen, mit denen man nicht ganz so eng verbunden sei. Das mache es leichter, Dinge auszusprechen. „In den erstenSessions haben wir viel geredet“, erzählt Stella Caric rückblickend. Durch das Thema Periode kam das Element des Bauchtanzes dazu, Bewegungen im Becken, die sich auch in der Isolation-Technik im HipHop wiederfänden, so Caric. „Die Bauchtanzmomente waren für uns als Gruppe meditativ, fast transzendental. Das Stück bekam eine Rhythmik und Dynamik, die einen wegträgt. Der Rhythmus des Bauchtanzes versetzte uns ins Machen, er ist der Grundherzschlag, der uns alle trägt.“
„Connection“ wurde in den Monaten September bis Dezember 2020 erarbeitet, allerdings aufgrund von Corona nicht live aufgeführt. Deshalb freut sich auch die Gruppe der ACADEMY Bühnenkunstschule auf das Tanztreffen der Jugend, um das Stück endlich präsentieren zu können. Jede der Frauen performt im Stück in ihrem eigenen, auf dem Boden markierten Bereich, den sie nicht verlassen darf – eine Parallele zur Pandemie. Zugleich wurden Hierarchien vermieden, indem es egal war, wer vorne oder hinten tanzt. Die Kamera filmte agil im Raum, so mussten die Tänzerinnen die Choreografie immer wieder an der Kamera neu ausrichten. Räumliche Bezüge verflüssigen sich – eine Referenz zum selbstgestellten Thema.
(Selbst-)Ermächtigung: „Der Selbstzweifel“
Die Kamera ist auch ein Stilmittel im Stück „Der Selbstzweifel“. Sie kommt der Tänzerin Lennja Lamprecht immer wieder bedrohlich nahe, diese versucht, sich von der Verfolgerin zu lösen und wird doch von ihr fixiert. Ein ketzerisches Lachen ertönt inmitten der Musik, als die Tänzerin am Boden liegt, es wird lauter, Lennja bäumt sich auf und versucht zu flüchten. Nach einer Weile wird es ruhiger: Verfolgt sie noch etwas?
Lennja Lamprecht ist 13 Jahre alt und hat Selbstzweifel als Thema der Choreografie eigenständig ausgewählt. Aufgrund der Pandemie hatte Lennja Lamprecht Einzelunterricht bei ihrer Lehrerin Nadine Freisleben, die sie förderte und auch die Choreografie mitgestaltete. „Auf die Frage, was sie beschäftige, antwortete Lennja wie aus der Pistole geschossen ‚Selbstzweifel‘“, erzählt Freisleben. Beide näherten sich dem Thema deshalb durch Improvisation an. „Irgendwann habe ich ihr die Augen verbunden und gefragt, ‚wo fühlst du den Zweifel im Körper? Versetze dich in eine Situation.’ Und Lennja antwortete: im Bauch und in den Händen.“ Beide Körperregionen standen dann im Mittelpunkt des Stückes. Lennjas Eltern erzählten der Choreografin im Nachhinein, dass das Mädchen durch den Tanz und die Auseinandersetzung mit dem Selbstzweifel selbstbewusster geworden sei.
Berührungspunkte finden: „Geh, Fühle!“
Um jungen Menschen die Angst vor Tanz und Choreografie zu nehmen, wählt die Regisseurin Sandra Rasch schon im Vorhinein eine Formulierung, die mögliche Berührungsängste zu umschiffen hilft: „Ich verwende eigentlich nie das Wort Tanz, weil es viele Jugendliche abschreckt. Sie sagen dann ‚das kann ich ja nicht, deshalb mache ich nicht mit‘. Daher spreche ich von Bewegung und Geschichten erzählen über Bewegung im Raum.“ Das Stück „Geh, Fühle!“ erarbeitete der Jugendclub Banda Agita des GRIPS Theaters zusammen mit dem Jungen Ensemble des RambaZamba Theaters unter der Leitung von Sandra Rasch und Oana Cîrpanu.
Bei der Zusammenarbeit beider Häuser war es ein Anliegen, unterschiedliche Jugendliche zusammenzubringen. Entstanden ist eine inklusive Gruppe unterschiedlicher junger Menschen, aus der sich wiederum eine neue Gruppe bildete: Nach Ablauf des Projektes sind viele der Jugendlichen weiter aktiv in den Jugendclubs beider Theater. Die Kooperation war zunächst auf eine Spielzeit angesetzt, durch Corona fanden die zehn angesetzten Aufführungen nicht statt. Stattdessen wurde aus der Bühneninszenierung ein Kurzfilm – entstanden aus Dokumentationsmaterial und eigens dafür gedrehten Szenen. Vom Tanztreffen der Jugend erhofft sich Rasch viele neue Impulse für die Jugendlichen. „Man kann aus solchen Veranstaltungen 50 Zentimeter größer herauskommen, das wünsche ich mir auch für das Ensemble.“
Im Stück stehen die Themen Nähe und Distanz im Vordergrund. Neben der Spannung zwischen Berührungen und der Isolation, die die Pandemie vorschrieb, ging es den Beteiligten um Berührungspunkte: Inwieweit haben Jugendliche mit und ohne Behinderung im Alltag überhaupt Kontakt? Sie gehen auf getrennte Schulen, leben in anderen Wohnformen und gehen in unterschiedliche Tanzgruppen. „Wir haben das inklusive Ensemble nicht allzu sehr thematisiert, da es sonst schnell um Fragen in Bezug auf ‚ability‘ geht – und es ging eher darum, Gemeinsamkeiten zu finden“, so Sandra Rasch.
Corona verarbeiten: „lost in spaces“
Zusammen proben in der Pandemie bedeutete für die Gruppe von „lost in spaces“, mit Maske tanzen zu müssen. „Das war natürlich viel anstrengender und man musste sich erstmal daran gewöhnen“, erzählt Soley Huber, Mitglied des JugendtanzApartment, das von ihrer Mutter Vanessa Huber geleitet wird. Es sei intensiv und anstrengend gewesen, nach einer halben Stunde hätte die Gruppe bei den Proben immer eine Pause an der frischen Luft gemacht. „Dann hat man auch gemerkt, was das für ein Luxus ist, wenn man ohne Maske tanzen kann.“
Vier Mädchen zwischen 13 und 15 Jahren gehören dem Ensemble an. In ihrem Stück, das ursprünglich die sozialen Medien zum Thema hatte, spielte das Digitale auch beim neuen Thema Pandemie immer noch eine Rolle: Die Einsamkeit und die Erinnerungen an das Leben vor den Lockdowns werden in Form von Selfies an eine Wand projiziert. Die Tänzerinnen tragen weiße Oberteile und schwarze weite Hosen, die sich durch die Bewegungen mit Luft füllen, sie erinnern an Derwische. An die Wand werden selbstgeschriebene Texte, Fotos und Videos projiziert. Und es gibt Sequenzen, in denen sich zwischen der projizierten Tänzerin und der Tänzerin auf der physischen Bühne ein Duett entspinnt.
„Die Pandemie hat alle beschäftigt, und als dann der zweite Lockdown Ende 2020 kam, hat es den Mädchen geholfen, sich damit künstlerisch auseinanderzusetzen und so besser durch diese Zeit zu kommen“, sagt Leiterin Vanessa Huber. Die Gruppe konnte das Stück im Juni 2021 sogar aufführen – im Theaterhaus Mitte, nur vor der engsten Familie. Soley Huber sagt rückblickend: „Die Spannung war wieder da, deshalb hat alles gut geklappt. Man gibt sich noch mehr Mühe, wenn nicht nur die Kamera da ist, sondern auch Publikum.“
Aufführungen vor Publikum zu ermöglichen, ist auch ein Anliegen der Berliner Festspiele. Momentan feile man noch an einem Konzept, wie das Tanztreffen der Jugend unter Pandemiebedingungen vor Ort stattfinden könne, lässt die Pressesprecherin Sara Franke Anfang August ausrichten. Wegen einer umfangreichen Renovierung im Haus der Berliner Festspiele ist der Spielort mit der fabrik Potsdam diesmal ein anderer als bei den vergangenen sieben Ausgaben. Eine Live-und-vor-Ort-Ausgabe wünscht man den Teilnehmer*innen von ganzem Herzen. Die Aufführungspraxis und der Austausch unter Gleichaltrigen wären das größte Geschenk für die Jugendlichen.