Ausgabe Mai-Juni 2022

Auf der Suche nach Berührbarkeit

Unsere Welt erschließen wir uns tastend: Wie haptische Erfahrungen die Körper- und Selbstwahrnehmung prägen und wie der Tanz zu mehr Nähe beitragen kann.

Berührung ist ein unverzichtbares Signal: für Verbundenheit, Resonanz, unser Menschsein. © Robert Wünsche

Nach zwei Jahren Pandemie sind wir an Distanz gewöhnt, der Mangel an physischem Kontakt ist normal geworden. Oder? Ändern möchte das Michaela Millar, die im Rahmen eines Recherchestipendiums der Senatsverwaltung für Kultur und Europa zu Berührungsarmut und der Bedeutung des Tastsinnessystems geforscht hat. Den Anstoß dazu gab ihr der Entwicklungsprozess zur Tanzperformance „fragil“ mit dem Choreografen Clébio Oliveira am Theater o.N. Was Berührungen in uns auslösen und welche Erinnerungen wir mit ihnen verbinden, dokumentiert online das interaktive Berührungs­archiv, das Michaela Millar mit Olga Ramirez Oferil, Philipp Millar und Hannes Raphael gegründet hat. In ihrem Essay formuliert sie hier, welche Bedeutung das Tastsinnessystem – grob: die umfassende Berührungsfähigkeit des menschlichen Körpers – für unsere Welt- und Selbstwahrnehmung hat. Und warum Tanz und Theater dem Taktilen gerade jetzt noch mehr Aufmerksamkeit schenken könnten.

Text: Michaela Millar
Tänzerin

Die Haut ist unser größtes Organ sinnlicher Wahr­nehmung. Als Grenzorgan übernimmt sie die Kom­munikation zwischen Innen und Außen. Sie schützt das Innen und bleibt dennoch durchlässig, empfind­sam und flexibel gegenüber dem Außen. Über Mil­lionen von Rezeptoren empfangen wir eine Vielzahl an Informationen wie Temperatur, Schmerz, Druck, Vibrationen und Berührungen, die unsere Wahrneh­mung der uns umgebenden Welt und unsere Eigen­wahrnehmung prägen.

„Ohne Tastsinn wüssten wir nicht, dass wir exis­tieren. Wir denken uns nicht selbst, wir fühlen uns“, schreibt der Haptikforscher Martin Grunwald 2017 in der Publikation Homo hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Im Jahr darauf erscheint Elisabeth von Thaddens umfassende Aus­einandersetzung mit der berührungslosen Gesellschaft, und Großbritannien richtet das weltweit erste Einsamkeitsministerium ein. Zwei Jahre spä­ter schließlich wird die Bedeutung von Berührungs­armut im Kontext der Pandemie gesamtgesell­schaftlich relevant.

Folgen physischer Kontaktarmut
Im Februar 2020 setze ich mich im Rahmen des Ent­wicklungsprozesses zur Tanzperformance „fragil“ mit dem Zusammenhang der beiden Phänomene Einsamkeit und Berührungslosigkeit sowie deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper ausei­nander. Die Einsamkeit als zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft, gerade auch unter Menschen in hohem Alter, führt zu einem Mangel an physi­schem Kontakt, welcher ein Voranschreiten der Gebrechlichkeit begünstigt – der Körper wird fra­gil. Aber auch am Beginn des Lebens können Ein­samkeit und physische Vernachlässigung zur Fra­gilität von Körpern führen. Ohne Berührungen gibt es keine biochemischen Signale, die für das Wachs­tum und die Entwicklung des kleinen Körpers not­wendig sind.

In unserem Projekt beschäftigen wir uns im Aus­tausch über die eigenen Biografien und Erfahrungs­horizonte, in der Auseinandersetzung mit doku­mentarischem Material sowie in Improvisationen mit den Folgen von physischer Kontaktarmut: Einerseits mit der Abhängigkeit unserer Haut vom Berüh­ren und Berührtwerden im kindlichen Entwicklungs­prozess und andererseits mit den verblassenden Berührungserinnerungen im hohen Alter. Ich selbst habe kaum Erfahrungen mit unfreiwilliger Einsam­keit gemacht, wie sie an Orten wie Pflege­ oder Kinderheimen vorherrschen kann, an die wir uns gedanklich bewegen. So schöpfe ich zunächst aus Texten, Filmen, Gesprächen im Team. Doch dann holt uns im Frühjahr 2020 mit der über uns herein­ brechenden Pandemie die Realität ein. Jeder Tag bringt Neues. Wir halten Abstand, umarmen uns nicht mehr zur Begrüßung und zum Abschied, die Ersten tragen Masken und wir erlegen uns selbst ein Kontaktverbot auf, um die Proben zu schützen.

Welt nicht mehr be-greifen
So werden die mir fremden Themen, die ich in den Wochen zuvor durch meinen Körper bewegt habe, plötzlich sehr real und greifbar für mich. Diese Erfahrungen nehme ich mit in die Leere des ersten Lockdowns, der jäh unseren Probenprozess been­det. Sie werden mir mehr und mehr zu eigen, je län­ger sich die Wochen der Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln hinziehen.

Nah geht mir einerseits, dass jene Bevölkerungs­gruppen, die ohnehin schon recht berührungs­arm leben, nun noch stärker abgeschirmt werden und weiter zu vereinsamen drohen. Andererseits beschäftigt mich die Frage, wie insbesondere Kin­der mit einer Welt in Kontakt kommen können, die sie lediglich betrachten, nicht jedoch be­greifen dürfen.

Die erste Sprache, die wir erlernen, ist die taktile Wahrnehmung: das Erkennen und Einordnen von Berührungen. Durch die haptische Wahrneh­mung – das erste, tastende Begreifen – erschließen wir uns die Welt. So bin ich der Ansicht, dass jenes tastende Begreifen nicht nur im Alltag, sondern auch in der ästhetischen Rezeption der Allerjüngs­ten eine Rolle spielt. (Mit der Bedeutung des Tast­sinnessystems für die Tanz­ und Theaterrezeption der Jüngsten setzte ich mich im September 2021 im Rahmen des Fachforums bitte berühren! – Eine Einladung zum forschen, spüren und fühlen des Thea­ter o.N. auseinander.)

Öffentlich in Kontakt kommen
Auch mein eigenes Körpergefühl, welches zuneh­mend von einer Art Stacheligkeit bestimmt wird, beschäftigt mich. Wir beginnen im Ensemble des Theater o.N. eine pandemische Spurensuche zum Märchen „Dornröschen“. In der das Schloss umgebenden, undurchdringlichen Dornenhecke finde ich ein Bild für das stachelige Gefühl in meinem Kör­per und in meinem Denken, an dem ich mich in den folgenden Monaten (und Lockdowns) abarbeiten kann. Ich suche nach Möglichkeiten, um wieder mit mir und der Welt in Kontakt zu kommen, dem Gefühl der Entfremdung entgegen zu wirken.

Auf verschiedenen Plätzen im Stadtteil Wedding sowie vor dem Theater o.N. im Prenzlauer Berg lade ich Passant*innen dazu ein, sich von mir umar­men zu lassen. Zwischen uns aufgespannt sind vier Quadratmeter Plastik; eine überraschend durchläs­sige, flexible Schutzhecke, beinahe so wie unsere Haut. Durch das Plastik spüre ich die Wärme und den sanften Druck der fremden Körper, spüre, wie sich Kinder und Erwachsene mal mehr, mal weniger hingeben und berühren lassen. Es entsteht echte Nähe und manchmal ein sehr intimes Gespräch.

Besonders berührt mich die Begegnung mit einer wohnungslosen Person am Nettelbeckplatz. Lange beobachtet sie das Geschehen mit großem Abstand, nähert sich schließlich langsam und vorsichtig. Wir kommen ins Gespräch, ich erkläre das Setting. Eine kleine Ewigkeit stehen wir in der Umarmung und ich spüre, wie der zu Beginn sehr angespannte Kör­per sich mehr und mehr öffnet, sich von mir halten lässt. Hinter der Plane taucht schließlich ein ver­ändertes Gesicht auf, keine Worte, nur ein langer Blick. Wir treten in Resonanz miteinander.

Nicht alle zeigen sich begeistert von der Inter­vention im öffentlichen Raum. Es gibt Kritik an den getroffenen Schutzmaßnahmen und Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Aktion. Aber wir haben einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt, worüber wir in Kontakt kommen können. Denn laut dem Soziolo­gen Hartmut Rosa meint Resonanz nicht nur Har­monie oder Wohlklang; auch Dissonanzen können zu Resonanzbeziehungen führen. Und Resonanz ist für uns Menschen die Begegnung mit einer lebendi­gen, responsiven Welt.

Berührung im digitalen Raum
Im Frühjahr 2021 eröffne ich mit meiner Kollegin Olga Ramirez Oferil für zwei Tage auf dem klei­nen Platz vor dem Theater o.N. in der Kollwitz­straße ein Berührungsarchiv. Der Lockdown dauert an und Begegnungsmöglichkeiten sind rar. In unse­rem mobilen Archiv erforschen wir die Möglichkei­ten von Resonanzbeziehungen im pandemischen Kontext. Hier können Vorbeieilende, manchmal Ver­weilende ihre Berührungserinnerungen teilen, hin­terlassen oder neue Erinnerungen gewinnen. Uns treibt der Gedanke um, ob das Sich-­in­-Beziehung­-Setzen, das Berühren und Berührenlassen auch im digitalen Raum gelingen kann.

Wir gründen ein Forschungskollektiv (www.be­ ruehrungsarchiv.de), um einerseits der Beschaffen­heit von Berührungen und den damit verbundenen Erinnerungen nachzugehen: Welchen Einfluss auf die Wahrnehmung haben Eigenschaften wie Tem­peratur, Gewicht, Härte und Oberflächenstruktur? Zum anderen beschäftigt uns die Frage, wie wir diese Eindrücke auch digital erfahrbar machen kön­nen. Ist es möglich, mit audiovisuellen Medien auch ohne physische Nähe unser Publikum zu berühren? Wir fragen uns, ob es uns möglich ist, sich wieder auf die sinnliche Erfahrung des Tastens zu konzen­trieren, anstatt von ihr nur eine Einordnung unse­rer Umgebung zu erwarten. Text, Foto­, Video­ und Audioaufnahmen aus den Recherchen sind unsere Grundlage für eine digitale Performance­-Collage, die auch auf Distanz erfahrbar ist und die von den Rezipient*innen und Teilnehmer*innen unserer Workshops beständig erweitert werden kann.

Mehr Resonanz-Erfahrungen wagen
Jetzt, im April 2022, scheint die Pandemie offi­ziell für beendet erklärt. Die Maßnahmen sind weitestgehend aufgehoben, es gibt keine Kontaktbe­schränkungen und keine Abstandsregeln mehr. Und doch bleibt Distanz, sei es aus Vorsicht vor noch immer hohen Inzidenzen, sei es aufgrund der zwei Jahre andauernden Gewöhnung an den Abstand. Gleich in welchen Gruppenkonstellationen das Thema Kontakt und Berührung zur Sprache kommt, ob im Arbeits-­ oder privaten Kontext, konstatieren die meisten Menschen einen Mangel von Berührun­gen in ihrem Alltag: dass diese nicht so selbstverständlich dazugehören wie vor der Pandemie; dass das gegenseitige Spüren schwieriger geworden ist. Die Entwicklung hin zur berührungslosen Gesell­schaft scheint sich weiter zu vollziehen. Wir müssen den Wunsch nach Berührung aktiv äußern, Kontakt einfordern und unsere Berührbarkeit zeigen. Wir müssen wieder lernen, ohne Angst und Desinfek­tionsmittel Oberflächen zu explorieren.

Es liegt auch eine Chance in den Erfahrungen, die wir die vergangenen zwei Jahre kollektiv machen durften: Vielleicht lässt der erlebte Mangel nun deutlich sichtbar werden, was ohnehin schon vie­len gefehlt hat. Vielleicht führt diese Erfahrung dazu, physischen Kontakt mehr in die Mitte unse­rer Gesellschaft zu holen. Vielleicht können wir dem Tastsinnessystem auch im Tanz und Theater mehr Aufmerksamkeit schenken und anerkennen, „dass wir (...) berührbar sind und berühren können: (...) weil Menschen vom Mutterleib an resonanzfähig sind und ihr Leben in Beziehung entsteht“, wie es Elisabeth von Thadden formuliert. Ich denke, dass der Kunst als Resonanzfeld eine wesentliche Rolle dabei zukommt, uns wieder zurück finden zu lassen zur Berührbarkeit.

Clébio Oliveira
fragil
13. – 14. Mai 2022
Theater o.N.
www.fratz-festival.de

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