Ausgabe September-Oktober 2022

Hinter dem Netz ist vor dem Netz

Ein Blick über den Spielfeldrand: Die Dramaturgin Alex Hennig berichtet von den Proben zu „TENNIS“, Angela Alves‘ Performance über den von Diskriminierungen verursachten Daseinsstress.

Angela Alves bei den Proben im Tennis Club Blau-Gold Wuhlheide e.V. © Dorothea Tuch

Text: Alex Hennig
Dramaturgin und Autorin

#Selbstermächtigung #Transformative Praktiken #Sustainable Work Structures #Ableismus #Klassismus #Inklusion #Adaptive Präferenz #Internalisierte Diskriminierung #Cripping Structures

Hand auf’s Herz, wer kennt das nicht: Herzrasen beim Öffnen des Briefkastens. Schweißperlen auf der Stirn, plötzlich einsetzende Bauchkrämpfe, Angst-Attacken … hört sich ziemlich stressig an. Wer schon mal Hartz IV bezogen und fünf Briefe auf einmal vom Jobcenter im Kasten hatte, die im verklausulierten Vokabular erklären, dass das Geld gekürzt wird, kennt das vielleicht. Ich selbst kenne diese Szenerie nur als Spukgespenst, das mir begegnet ist, als die Angst meines Vaters vor dem nächsten Termin beim Arbeitsamt von seinen Knochen in meine übergesprungen ist. Als ich angefangen habe zu studieren, dachte ich, ich müsste das ganze BAföG auf einmal zurückzahlen, sobald ich durch eine Prüfung falle. Heute erwische ich mich manchmal noch beim Gedanken, dass ich ins Gefängnis muss, sobald ich Post vom Finanzamt habe. Ähnliche Gefühle kommen typischerweise mit überfüllten E-Mail-Postfächern nach dem Urlaub oder vor Deadlines für Förderanträge. Bis man endlich im Proberaum steht und … aufschlägt.

Die Bühne ist das Spielfeld …
Eine Ballwurfmaschine dirigiert uns durch die Probenwochen. Der erste Ball wird abgefeuert, prallt auf die Wand, auf den Boden, trifft auf den Schläger, wird mit Kraft und Präzision zurückgespielt, landet im Raum – und dann gleich schon der nächste: „plopp!“ – gegen die Wand – „plopp!“ – auf den Boden – gegen den Schläger – „plopp!“ – an die Wand. Ein Rhythmus, der uns in Sicherheit wiegt. Wir proben den Aufschlag zu einer zeitgenössischen Tanzperformance, die für Barrierefreiheit, Selbstfürsorge und Solidarität einsteht, indem sie die Bühne zum Spielfeld intersektionaler Perspektiven der Stressvermeidung erklärt.

Stress ist ein sehr weit verbreitetes Phänomen, aber wenn wir davon sprechen, meinen wir meist die glorifizierte Version unserer Selbst als Work­aholic mit einer unbedingten Hingabe an die Arbeit, die im Kunst- und Theaterbetrieb zum guten Ton gehört. Ab einer gewissen Stufe der Karriereleiter kenne ich kaum jemanden ohne Burnout – überwunden oder vorprogrammiert. Guter Lückenfüller auf Premierenfeiern: „Und, wann bist du das letzte Mal zusammengekracht?“ Burnout-Talk geht immer.

… und es geht um alles!
Es gibt aber auch diese spezifische Art von Stress, die durch reale oder eingeredete Ohnmacht, durch das subtile Gefühl des Ausgeliefertseins, fehlende Handlungsmöglichkeiten oder Selbstwirksamkeit ausgelöst wird. Diesen Stress kennen Menschen sehr gut, die von struktureller Gewalt und Ausschluss betroffen sind – arme Menschen zum Beispiel, Menschen mit Behinderung, BIPoCs, quasi irgendwie alle, die aus dieser diffus zu greifenden und doch so mächtig agierenden „Norm“ herausfallen.

Der Stress, den „Aufsteiger*innen“, die es „trotz“ ihrer Benachteiligung – ihrer Behinderung, ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder ihrer sozioökonomischen Voraussetzungen – geschafft haben, sich in einem herrschenden, exkludierenden System wie dem Theater durchzusetzen, bleibt bestehen. Du bist, bewusst oder unbewusst, permanent damit beschäftigt, nicht aufzufliegen oder dich selbst nicht wieder ins Aus zu katapultieren. Imposter- oder Hochstapler*innen-Syndrom könnte man dazu sagen.

Access versus Aufschlag
Aber im zeitgenössischen Theater meinen wir es gut. Wir bemühen uns doch wirklich ganz doll, diversen, bisher nicht mitgedachten Menschen einen Zugang zur Kunst zu ermöglichen und unsere eigenen Privilegien selbstkritisch zu hinterfragen. Und wir machen Fortschritte, werden immer besser, obwohl es echt nicht leicht und oft super anstrengend ist, all diese Ismen mitzudenken – und am Ende kann man es eh nicht allen recht machen. Es ist echt stressig geworden hier: auf der einen Seite die Woke1-Leute, die immer die neuesten Begriffe parat haben; da drüben die, die alles richtig machen wollen und trotzdem Teil des Problems sind (wie die Autorin dieses Textes in weiten Teilen) – und hier die Leute, die von der ganzen Misere betroffen sind und deswegen laut und fordernd und unnachgiebig bleiben. Wenn wir uns jetzt die Bälle zuspielen, dann, weil es gut ist, dass wir zumindest mal auf dem gleichen Spielfeld stehen.
Danke, dass ihr da seid, Leute!

Soziale Regeln neu verhandeln
Für „TENNIS“ ziehen wir die vierte Wand des Theaters wieder ein – wir spannen ein Netz quer über die Bühne, weil wir euch in Ruhe lassen wollen mit dieser postdramatischen Involviertheits- und Verantwortungsgeschichte. Und auch ganz praktisch, damit niemand einen Ball an den Kopf bekommt.
Wenn Angela Alves Ende September für „TENNIS“ ins Spiel geht, dann vor dem Hintergrund einer anderen Strategie der Selbstfürsorge innerhalb eines Systems, das es nicht erlaubt, nicht mithalten zu können, und das daher dazu auffordert, gut auf sich selbst und die anderen aufzupassen.

Als Crip2-Künstlerin mit „Unterschichtenhintergrund“ nimmt Angela den Schläger in die Hand und behauptet einen Platz für sich, der für sie nicht vorgesehen war. Wer in den 80er Jahren im Ruhrgebiet in sogenannten sozial schwachen Strukturen aufwächst, kann in der Freizeit auf dem Fußballplatz abhängen oder vielleicht in einen Handballverein wechseln. Tennis aber ist etwas für Schnösel, der Tennisplatz liegt nicht in Reichweite, sondern alles daran außerhalb des eigenen Horizonts, weil sowieso viel zu teuer, und überhaupt.

Deswegen holt „TENNIS“ den Tennisplatz auf die Bühne. Hier fragen die beiden Performer*innen Angela Alves und Athena Lange, wie sie sich jetzt verhalten, wo sie es schon einmal hierher geschafft haben. Als Taube Schiedsrichterin und chronisch kranke Tennisprofispielerin verhandeln sie die Regeln neu, an die sie sich zu lange angepasst haben, schlagen auf und … punkten.

 

1 Woke steht für die Wachsamkeit gegenüber struktureller Diskriminierung, Rassismus aber auch Klassismus, Ableismus. Dieser Text ­distanziert sich von der gegenwärtigen Kritik an Wokeness und „Cancel-Culture“ und positioniert sich grundlegend für Wokeness.

2 Crip ist eine Selbstbezeichnung von behinderten und chronisch kranken Menschen und kann als aktivistischer Begriff verwendet werden.

Angela Alves
TENNIS
23. – 24. und 26. – 27. September 2022
Sophiensæle
www.sophiensaele.com

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