Ausgabe Januar-Februar 2021

Empowerment? Verschoben.

Warum Schwarze Künstler*innen nicht aus der öffentlichen Aufmerksamkeit fallen dürfen, berichtet Ricardo de Paula.

Tanz, tanzraumberlin Magazin, Ricardo de Paula, CLEANSE-NU Bei den Proben zu Ricardo de Paulas „CLEANSE/NU“. Foto: Tito Casal

Endlich eine HKF-Förderung, endlich die Gelegenheit, Schwarze Körper aus Schwarzen Perspektiven auf der Bühne zu zeigen – und dann: Lockdown. Wann seine Performance „CLEANSE/NU“ live aufgeführt werden kann, weiß der Tänzer und Choreograf Ricardo de Paula nicht. In den Endproben steckte Anfang November sein experimentelles, interdisziplinäres Projekt MIMIMI Space, das sich mit Antirassismus und Dekolonisierung beschäftigt. Geplant waren drei Veranstaltungen im SAVVY Contemporary Mitte November, Anfang Dezember wäre die Tanzperformance „CLEANSE/NU“ im HAU2 zur Premiere gekommen. Die drei SAVVY-Veranstaltungen sind umgezogen ins HAU4, die digitale Sparte des HAU Hebbel am Ufer. Warum sich „CLEANSE/NU“ nicht ins Netz übertragen lässt und wieso der Vorstellungsausfall auch empfindliche Lücken im gesellschaftlichen Diskurs hinterlässt, erklärt Ricardo de Paula in seinem Beitrag.

Text: Ricardo de Paula
Choreograf und Tänzer

Was ich in Berlins Tanzszene noch nie gesehen habe? Sechs Schwarze Tänzer*innen, die auf einer Bühne selbstbestimmt ihre eigenen Geschichten erzählen, sich in ihrer Individualität zeigen oder sogar nackt sind, wie in „CLEANSE/NU“. Rassismus als Thema ist Mode, generiert Geld und Aufmerksamkeit, auch in der Kunstszene. Viele Choreograf*innen setzen Schwarze Tänzer*innen ein, um ihre Ideen zu transportieren. Dabei wird den Tänzer*innen meist ihre subjektive Stimme verwehrt, werden ihre Körper objektifiziert und ihre Freiheit als Künstler*innen beschnitten.

Mit „CLEANSE/NU“ stärken wir unsere eigene Position. „To cleanse“ bedeutet reinigen, „nu“ ist das portugiesische Wort für nackt. Übersetzt in die künstlerische Auseinandersetzung bedeutet das, den weißen Blick auszublenden und den Zuschreibungen zu entkommen: Wer sind wir eigentlich und was macht unser Sein aus? Wie frei können wir sein? Darüber haben wir im Probenprozess viel gesprochen. Ausgangspunkte der Diskussion waren oft Lieder und Texte, die uns in diesem Zusammenhang wichtig erscheinen, zum Beispiel „War“ oder „Redemption Song“ von Bob Marley: Wir können nur selbst unseren Geist und unser Denken befreien, und solange manche Menschen sich als anderen überlegen betrachten, müssen wir für Gerechtigkeit kämpfen. Rassistische Strukturen sind so fest in unsere Gedanken, Gefühle und Körper eingebrannt, dass es nicht immer einfach und mitunter auch schmerzhaft ist, sich von ihnen zu lösen.

Ziel der Performance ist Gerechtigkeit, nicht Gleichheit. Equity, not equality. Wir wollen die gleiche Freiheit für unsere Körper wie weiße Körper sie haben. Der Kerngedanke von „CLEANSE/NU“ ist, die Subjektivität und individuelle Besonderheit eines jeden Menschen zu zeigen und der Natur dabei so nahe wie möglich zu kommen, indem Körper als Körper – nackt und bloß – sichtbar sind. Für die Tänzer*innen hat die Nacktheit in diesem Prozess unterschiedliche Implikationen. Auch wenn sie für einige kein Problem war, hat sie in der Probenzeit einen für alle Beteiligten wichtigen Prozess der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper sowie seiner Bedeutung und Konnotation ausgelöst.

Gemeinschaft steht in diesem Prozess von Selbstreflexion und Heilung im Mittelpunkt, sie gelingt aber nur, wenn Differenz respektiert und Individualität anerkannt wird: everybody is different but not made to feel strange. In dieser außergewöhnlichen Zeit der Corona-Beschränkungen war es für alle hilfreich, weiter proben und als Gruppe zusammen bleiben zu können. Die Ausnahmesituation hob die Besonderheit dieses Arbeitsumfeldes für die Tänzer*innen noch einmal hervor: Sicherheit und Freiheit, die in einer Gruppe Schwarzer Tänzer*innen erfahren und erlebt werden und eigentlich der Normalzustand sein sollten.

Als Ergebnis stellt sich in der Aufführung eine sehr besondere Energie und Kraft her, die die unbedingte leibliche Ko-Präsenz der Tänzer*innen und des Publikums erfordert, um sich zu übertragen: Die Zuschauer*innen sind eingeladen, dem Werden auf der Bühne beizuwohnen und Teil von etwas Neuem zu werden. Wir kreieren und arbeiten für etwas, das über uns hinausgeht. Das würde zwar auch ohne Publikum passieren, aber wir brauchen den Austausch und die Auseinandersetzung, um eine gemeinsame Zukunft zu bauen.

„CLEANSE/NU“ ist auch aus diesem Grund für einen Online-Stream völlig ungeeignet. Wir produzieren aktuell eine filmische Dokumentation des Arbeitsprozesses. Das geschieht aber nicht aus einer künstlerischen Entscheidung heraus, sondern als Option, unsere Arbeit überhaupt zu präsentieren. Wir wissen nicht, wann wir das Stück live aufführen können, eine neue Terminierung ist schwierig. Mit gemischten Gefühlen betrachten auch die Tänzer*innen die Verlängerung der Beschränkungen: Während manche der gewonnenen Zeit etwas Positives abgewinnen können, in der sie die Ziele und Inhalte des Projekts noch weiter verarbeiten und später besser umsetzen können, beklagen andere den Verlust der Möglichkeit, Schwarze Menschen von einer anderen, selbstbestimmten Seite zu zeigen.

Gesellschaftsrelevante Themen wie Rassismus und Dekolonisierung dürfen nicht unter den Tisch fallen. Kunst und Kultur bergen ein wichtiges Potenzial in diesen Diskursen, sie bieten Raum für Austausch und Reflexion – besonders in dieser Zeit der Unsicherheit. Der Film ist unser politisches Statement: dass Antirassismus in unserer Gesellschaft ein andauernder Prozess ist, der zwar nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein wird, aber dringend weiterverfolgt werden muss.

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