Ausgabe Januar-Februar 2021

Angewandte Resilienzforschung

Vom Umgang mit Krankheit und Tod als politische (Tanz-)Praxis.

Tanz, tanzraumberlin Magazin, Johanna Ackva Während Johanna Ackvas Performance, die, auf Grundlage ihrer Recherchen zu Tod, Sterben und Leben, als work-in-progress im ada Studio gezeigt wurde, entsteht live eine Stickerei auf dem Gaze-Vorhang: „the night before she read her own...“ Foto: Aïsha Mia Lethen

Dezember 2020: Berlins freie Tanzszene hängt mehr denn je in der Schwebe. Alles, was sie im Kern ausmacht, weil es im physischen Kontakt, im leiblich ko-präsenten Austausch stattfindet, ist aktuell nur sehr eingeschränkt möglich. Gleichzeitig wird uns die Verletzlichkeit unserer Körper mehr denn je bewusst. Für Christine Matschke drängt sich, quasi ‚symptomatisch‘, die Frage auf: Wie gehen wir im 21. Jahrhundert mit kranken Körpern um – mit Körpern, die nicht in normative Strukturen passen und diese sogar in Frage stellen? Welche selbstermächtigenden Initiativen befassen sich mit Fürsorge und Vorsorge? Eine Spurensuche in Berlins Tanzszene.

Text: Christine Matschke
Tanzjournalistin

„Krankheit als Metapher“ nannte die Schriftstellerin, Film- und Theaterregisseurin Susan Sontag 1977 ihren berühmten Essay. Sie veröffentlichte ihn, nachdem sie selbst gerade eine Krebserkrankung überstanden hatte – gegen alle medizinischen Prognosen. Sontags Plädoyer: Krankheit sollte nicht länger als etwas „Fremdes“ und negativ Konnotiertes aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt, sondern in dieses integriert werden. Denn Krankheit, falls als etwas durch die Patient*innen Selbstverschuldetes verstanden, führe zu Stigmatisierung und Ausgrenzung. Auch gegen die Gleichsetzung von Krankheit mit dem Tod wandte sich Sontag.

Privates zum Politikum erklären

Krankheit zu entprivatisieren ist auch Christoph Winkler ein Anliegen. Bereits 2015 trug er mit „La Fille – Porträt eines Kindes“ Autobiografisches an die Öffentlichkeit und legte gesellschaftliche Ursachen für persönliche Problemlagen offen. Das impulsive Solo über die schwierige Beziehung zu seiner Pflegetochter referiert auf tradierte Vorstellungen von Moral und Weiblichkeit im klassischen Ballett und hinterfragt Verhaltensnormen. In einer Szene werden Fragebögen an die Bühnenwand projiziert, die psychologischem Personal zur Ermittlung sogenannter Bindungsstörungen dienen. Sie erweisen den bürokratischen und aufs Defizitäre zielenden Umgang des Staats mit Menschen, deren soziale Interaktionen im Widerspruch zu gesellschaftlichen Regeln stehen.

Auch mit seinem 2019 uraufgeführten und jüngst zur Wiederaufführung gebrachten Stück „On HeLa – The Color of Cells“ betreibt der mittlerweile 53-jährige Choreograf Politik der ersten Person. In dem Solo, getanzt von Lois Alexander, stellt der an einem Non-Hodgkin-Lymphom erkrankte Winkler seine eigene Krankheitsgeschichte der von Henrietta Lacks gegenüber. Der US-Amerikanerin wurden in den 50er-Jahren ohne ihr Wissen Stammzellen aus einem Zervixkarzinom entnommen. Die daraus kultivierte erste menschliche Zelllinie bildete die Grundlage für medizinische Errungenschaften, unter anderem in der Krebs- und AIDS-Forschung. „On HeLa“ spricht Bände über die kapitalistischen und patriarchalen Systeme, in denen wir leben: diskriminierende Ausbeutung auf der einen Seite – Henrietta Lacks und ihre Familie wurden an den Gewinnen aus der medizinischen Forschung nicht beteiligt – und daraus entstehende Privilegien auf der anderen.

Eine wesentliche Frage, die den so gut es geht optimistisch weiterarbeitenden Christoph Winkler in diesen Tagen beschäftigt, ist die Absicherung seiner Produktionen auch bei krankheitsbedingten Ausfällen: Wie kann man Honorare sichern, aber auch Stücke zu Ende bringen? Hätten etwa She She Pop oder Sergiu Matis für ihn einspringen können, als er 2018 mitten in den Vorbereitungen zu seinem Julius Eastman-Projekt eine Gehirnhautentzündung bekam und nicht sicher war, ob er aus dem Koma überhaupt wieder aufwachen würde?

Auch in seinem persönlichen Ausnahmezustand bleibt sich Winkler treu: So teilt er nicht nur jedes seiner Stücke über seine Webseite mit der Öffentlichkeit, sondern will auch seine Erfahrungen mit Krebs allgemein zugänglich machen. Damit andere betroffene Tänzer*innen und Choreograf*innen bei krankheitsbedingten Ausfällen schnell handeln können und finanzielle Unterstützung bekommen, hat Winkler bereits ein FAQ mit dem Arbeitstitel „Illness as Practice“ in Planung. Verschiedene Förderinstitutionen sollen dazu auf Regelungen im Krankheitsfall befragt werden: „Inwieweit können Haushaltsregularien verschoben, Gelder erhalten oder auch umgeschichtet werden? Aber auch umgekehrt: Wie gehe ich als Arbeitgeber damit um, wenn Tänzer*innen ausfallen?“

So wie Christoph Winkler auf probate Strategien einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ zurückzugreifen, ist ein wichtiger Schritt, um die ohnehin schon prekären Lebenssituationen vieler Tanzschaffender – gerade auch in Zeiten von Corona – nicht noch weiter zu verschärfen. Besser wäre es, wenn diese nicht nur tanzspezifische Frage der Vorsorge für Freischaffende auch von staatlichen Stellen bedacht und von einer breiteren Kulturlobby vertreten würde.

Heilungs- und (Über)lebensprozesse aktivieren

Solidarische Vor- und Fürsorge ist der Berliner Tanzszene jedenfalls ein Anliegen – als positive Setzung und nicht nur aus der Not heraus. So auch bei den diesjährigen Tanztagen, in denen es um die Zukunft des Tanzes und um menschlichen Zusammenhalt geht. Künstlerischer Leiter des durch Peter Pleyer und Anna Mülter queer-feministisch geprägten choreografischen Nachwuchsfestivals ist seit Juli vergangenen Jahres der 1988 geborene Mateusz ­Szymanówka. (Siehe Interview in dieser Ausgabe) Gemeinsam mit Simo Vassinen und dem Verein Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V. plant der zwischen Warschau und Berlin pendelnde Dramaturg und Kurator als „Zukunftswerkstatt“ eine Diskurs-Schiene zum Thema Arbeitskultur und psychische Gesundheit. Da die Verlängerung des Lockdowns bis mindestens 10. Januar 2021 (Stand Mitte Dezember 2020) eine Live-Version des Festivals im Januar unmöglich macht, werden drei Diskursformate ersatzweise online angeboten: die Zukunftswerkstatt zur Arbeitskultur (mit Angela Alves als Gast), die Zukunftswerkstatt zur psychischen Gesundheit, und eine Veranstaltung des Kurators Pedro Marun zu neuen künstlerischen Praktiken der Fürsorge in der Clubkultur.

Aus dem Bühnenprogramm wird die Performance „Indication of Spring at the End of Times“ des HZT-Studierenden Clay AD gestreamt werden – ein Blick in eine nahe Zukunft aus der Perspektive einer Narzisse, die über sich selbst reflektiert und über die Menschen, die sie besuchen. Eine Blume als Protagonistin zu wählen, sei eine Strategie gewesen, um in Distanz zur angstbesetzten aktuellen Situation zu treten, schreibt der non-binäre Trans-Künstler* im Mail-Interview. Clay AD stammt aus dem Mittleren Westen der USA und kam in New York über Contact-Improvisation-Jams zum Tanz. Seit frühen Jahren chronisch krank, empfand der heute 28-Jährige diese freie Art der Bewegung und Begegnung als heilsam: „Ich hatte viele Jahre eine sehr komplizierte und oft nicht angenehme Beziehung zu meinem Körper, die mit regelmäßiger Schmerzbehandlung einherging. In der Improvisation präsent zu sein, mit dem, was der Körper gerade tun wollte und konnte, fühlte sich ziemlich befreiend an.“

Clay AD ist Mitglied der Sickness Affinity Group (SAG). Die Selbsthilfegruppe von Kunstschaffenden und Aktivist*innen, die sich mit den Themen Krankheit und Behinderung beschäftigen und teilweise davon betroffen sind, will die aufgrund begrenzter Fördermittel konkurrenzbasierten Strukturen in der Kunstszene herausfordern. Das Wohlbefinden ihrer Mitglieder und deren Bedürfnisse hinsichtlich einer Teilnahme an Arbeitstreffen der Gruppe stehen dabei im Fokus, neben dem perspektivischen Interesse, kuratorische Praktiken aus diesem Recherchefeld heraus zu entwickeln. Zweimonatlich kommt die in kleinere Arbeitsgruppen unterteilte SAG zusammen und tauscht Erfahrungen und Informationen aus.

Solidarische Strukturen schaffen

Krankheit und soziale Marginalisierung ist, dem Corona-Overload zum Trotz, kein neues Thema in Tanz-Communities, wie der ehemalige Tanztage-Kurator Peter Pleyer bei einem Gespräch im Garten des Eden***** aus eigener Anschauung zu berichten weiß. In den 1990er-Jahren erlebte der Tänzer und Choreograf mit, wie das damals noch nicht erforschte AIDS-Virus zahlreiche Tote forderte, besonders in der New Yorker Tanz- und Performanceszene: „Fast wöchentlich nahm ich dort an Memorials teil“, erzählt Pleyer. Seine heute noch enge Beziehung zur New Yorker Szene fand ihre Anfänge während seines Studiums in Arnheim. Damals pflegte Pleyer, der keine Angst hatte, sich anzustecken, Harry Sheppard, einen aidskranken Tänzer aus New York und Assistent der damaligen Gastdozentin Yoshiko Chuma. Sheppard war gegen alle ärztlichen Ratschläge – und ohne dass Chuma von seinem kritischen Zustand wusste – in die Niederlande geflogen. Er verstarb innerhalb weniger Wochen in Arnheim. Für seine Pflege ist die New Yorker Community Pleyer, der Sheppard zuvor nicht kannte, bis heute dankbar. „Damals glaubten die Menschen noch, AIDS sei übertragbar, wenn man aus demselben Glas trinkt“, erzählt der geerdet wirkende Choreograf.

Die AIDS-Debatte griff er 2014 im Rahmen von „Visible Undercurrent“ auf – einer Performance, die die Beeinflussung der Berliner Tanzszene durch die Post-Judson-Avantgarde New Yorks behandelt, also durch die Generation von Künstler*innen wie Yoshiko Chuma, Mark Tompkins und Eva Karczag, die unter anderem über ihre Lehrtätigkeit an Ausbildungsinstitutionen wie der School of New Dance Development in Amsterdam oder dem European Dance Development Centre in Arnheim dort studierende Berliner Choreograf*innen wie Sasha Waltz, Meg Stuart oder Jeremy Wade beeinflussten.

Auch Jahre nach der AIDS-Epidemie ist die Diversität sexueller Orientierungen in der breiten Öffentlichkeit nicht anerkannt. Im Gegenteil: Weltweit ist ein zunehmender Rechtsruck zu beobachten, der eine Diskriminierung bestimmter Lebensweisen noch befördert. Polen etwa machte in den vergangenen Monaten immer wieder Schlagzeilen, weil Regionalparlamente und Kreistage unter PiS-Führung Resolutionen gegen „Homo-Propaganda“ beschlossen und Orte für LGBT-frei erklärt hatten.

„Die Machtstrukturen und Beziehungen, in denen wir leben, formen unsere Körper, beeinflussen unsere Gesundheit stark und prägen unser Selbstverständnis“, ist Clay AD sicher. Aus der Arbeit mit queeren Gemeinschaften heraus könne er mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Menschen, denen bestimmte Identitätsmerkmale zugeschrieben werden und die deshalb sozial marginalisiert würden, eher mit Spannung und Traumata, manchmal auch mit Krankheit zu tun hätten.

Wider die kulturelle Erschöpfung

Ist auf neue Formen der Solidarität, des Miteinander-Achtsamwerdens, auf gemeinsames Organisieren und Zusammenarbeiten zu hoffen, um Prozessen der Marginalisierung und Diskriminierung entgegen zu wirken, welche die COVID-Pandemie noch zu verstärken droht?

Die Berliner Tanzszene mit ihrem internationalen Pool an Mitgliedern hätte die nötige Infrastruktur, um gegenseitige Unterstützung in beruflichen und gesundheitlichen Belangen zu initiieren, auch über Ländergrenzen hinweg. Selbsthilfegruppen, die Erfahrungen weitergeben, damit andere nicht von Neuem anfangen müssen, sind ein Anfang, aber auch durch intersektionalen Feminismus inspirierte Arbeitsstrukturen wie sie das europäische Netzwerk advancing performing arts project, kurz apap, bis 2024 unter dem Motto Feminist Futures erproben will.

Ein widerständiges Potenzial gegenüber konkurrenzbasierten, sozial und psychisch schädigenden Strukturen ist bereits in der alltäglichen Körper­praxis vieler in Berlin arbeitender Tänzer*innen und Choreograf*innen angelegt. Somatische Methoden sind in der Szene ein selbstverständlicher Bestandteil von Ausbildung und Beruf. Als Präventionsmaßnahme gegen Krankheiten, die mit einer regelmäßigen und starken Beanspruchung des Körpers einhergehen, wurden sie bereits im US-amerikanischen Postmodern Dance eingeführt, von dem die Berliner Tanzszene beeinflusst ist. Ansätze aus dem Body Mind Centering, der Feldenkrais Methode, der Alexander-Technik oder dem Authentic Movement haben ein leibliches Selbstverständnis geprägt, das sich einer leistungsorientierten Auffassung von Körpern entgegensetzt, weil es ein bewusstes Wahrnehmen und Handeln gegenüber der eigenen Person, anderen Menschen und der Umwelt anstrebt.

Auch die Tänzerin und Choreografin Johanna Ackva erforscht in ihrer Tanzpraxis Möglichkeiten, in Resonanz zu körperinhärenten Prozessen zu treten – durch Stille, Langsamkeit und durch Aufmerksamkeit dafür, woher die nächste Bewegung kommt. Seit drei Jahren führt sie Gespräche mit Menschen, die beruflich mit Sterben und Tod zu tun haben. 2019 ist daraus ihr erstes Gruppenstück mit dem Titel „Out of Our Hands“ entstanden und im Herbst vergangenen Jahres, im ada Studio und anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Uferstudios, die erste Version eines Solos.

Das Verhältnis von Tod und Leben beschäftige sie, erzählt Ackva bei einem Treffen im Weinbergspark. Dabei verstehe sie den Tod als das, was den Beginn von etwas markiere, das außerhalb unseres Wissens und unserer Kontrolle liege. „Natürlich leben manche Leute statistisch sicherer als andere. Trotzdem ist die Sterblichkeit eine ans Existenzielle rührende Konstante, die jede*n betrifft. Und auch wenn Du in einer wahnsinnig privilegierten Situation lebst, gibt es im Leben eine inhärente Unwägbarkeit.“

Genau diese im Tod steckende Widersprüchlichkeit, dieses unsere Verletzlichkeit sichtbar machende Un-fassbare ist es wohl, was an Fortschritt orientierte Gesellschaften so schlecht aushalten können. Das Coronavirus wird hauptsächlich in Fallzahlen, Reproduktionsziffern und Todesfallraten bemessen. Mit dem Bewusstsein, dass jede*r den Tod im Leib trägt und nicht nur die Anderen davon betroffen sind, wäre ein Wandel zu mehr menschlichem Zusammenhalt denkbar, sagt auch Johanna Ackva.

Echte Solidarität beruht dabei auf gelebten und lebendigen Praktiken und nicht auf politischen Lippenbekenntnissen oder einem Aktivismus, der wiederherzustellen versucht, was längst verloren ist. Wie der Transformationsberater und Philosoph Hans Rusinek meint: „Wir sollten nicht den Menschen in die Arme laufen, die etwas Vergangenes ‚great again‘ machen wollen.“ Stattdessen sollten wir eine Zukunft imaginieren, die wir gemeinsam solidarisch und achtsam gestalten – wie es die Berliner Tanzszene bereits anstrebt.

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