Ausgabe Januar/Februar 2022

Der Elefant im Raum

Das Symposium zum Deutschen Tanzpreis 2021 fordert Anerkennung und Ressourcen für Tanz in allen Facetten.

© Eva Radünzel

Für einige sind sie immer noch schmerzhaft wirksam, für andere eher moralisch unange­nehm: die Langzeitfolgen von Kolonialismus und weißem Rassismus. Wie sie uns alle mehr oder minder bewusst prägen und wie sie struk­turell wirksam sind, untersuchte auch das Symposium „POSITIONEN:TANZ#4 – Zugänge schaffen – DIVERSITÄT“. Ausgerichtet vom Dachverband Tanz Deutschland (DTD), versammelte es vom 21. bis 23. Oktober 2021 Tanzschaffende und Tanzexpert*innen, um den zu hinterfra­genden Machtstrukturen mit kritischen Analy­sen und einem „heilenden Blick“ zu begegnen. Einige Eindrücke von der Veranstaltung schil­dert die Dramaturgin Anna Volkland.

Text: Anna Volkland
Dramaturgin

Das erste Videobild des hybriden, online dokumentierten Symposiums erscheint zunächst irritierend: Zwei bei flüchtiger Betrachtung gleich aussehende Männer stehen leicht versetzt hintereinander, etwa gleich alt, gleich groß, gleiche Statur, gleicher Blick, gleiche Haltung, im gleichen grauen Jackett, mit Brille und ergrauter Kurzhaarfrisur sowie silbernem (vermutlich) Ehering, die Hände jeweils auf Bauchnabelhöhe zusammengeführt. Aber das ist nicht der Beginn einer (Tanztheater-)Performance, auch keine Videokunst. Diese beiden Männer werden, live abgefilmt im PACT Zollverein Essen, die Eröffnungsworte der kommenden Veranstaltung sprechen – und auch wenn sie sich als Figuren so verblüffend zu ähneln scheinen, könnte man sie allein ihren Namen nach als „diverses Paar“ einstufen: Muchtar Al Ghusain, Geschäftsbereichsvorstand für Jugend, Bildung und Kultur der gastgebenden Stadt Essen, und Michael Freundt, Geschäftsführer des Dachverband Tanz Deutschland.

Oder darf nur einer von beiden „divers“ genannt werden? Weil es bei der Diversität nicht um Unterschiedlichkeit geht, sondern um „Andersheit“, die sich von einer vermeintlichen Mehrheitsnormalität unterscheidet? Wie und woran erkennt man jene Art von Diversity, die jetzt im Feld Tanz vertreten oder erst ermöglicht werden soll? Solche Fragen wirft das Symposium „POSITIONEN:TANZ#4 – Zugänge schaffen – DIVERSITÄT“ auf und fordert weitere Beschäftigung.

Bildung im Fokus

Zum vierten Mal findet das vom Dachverband Tanz Deutschland organisierte Forum zur Selbstreflexion von Tanzschaffenden statt, seit 2018 ist es jeweils der Verleihung des Deutschen Tanzpreises samt Gala zur Seite gestellt, ohne direkt mit ihr verbunden zu sein. In seinem diesjährigen Untertitel verspricht es allerdings „eine kritische Bestandsaufnahme von Machtstrukturen im Tanz“. Um die Kunstform Ballett, die von streng disziplinierenden Codes geprägt ist und die tanzende Körper inklusive der geforderten Denkweisen nach oft starren Kriterien sehr früh schon institutionell selektiert – und die auch die Galabeiträge beim Deutschen Tanz- preis immer noch dominiert – geht es dabei jedoch nicht. Es geht um das breite Feld des zeitgenössischen Tanzes und seine aus verschiedenen Kontexten und Orten der Welt stammenden Künstler*innen sowie um die, die in Zukunft mittanzen, lernen und zuschauen sollen.

Es stehen also nicht etwa die „klassischen“ Machtthemen wie das Kuratieren oder die Produktionsgelder im Fokus, sondern – das mag zunächst überraschen – die Tanzpädagogik und das Feld der Bildung. Nicht diejenigen kommen hier zu Wort, die qua institutioneller Position die Macht besitzen, Kunst zu definieren, einzuladen, zu produzieren, zu präsentieren, zu bezahlen und auszuzeichnen, sondern vor allem diejenigen, die durch ihr Wissen, ihre Erfahrungen und (künstlerische) Praxis (neue?) Zugänge fordern können, Handlungsspielräume, Entwicklungsmöglichkeiten, Sichtbarkeit, Anerkennung etcetera.

Heilender Blick auf weiße Vorherrschaft

Kuratiert wurde das Symposium von den Tanzschaffenden Nora Amin (als Hauptkuratorin), David Kono und Mey Seifan, einem Team also, das „bereits aus einer vielfältigen und nicht-traditionellen Perspektive konzipiert und kuratiert“, wie der Ankündigungstext erklärt. Von welchen Traditionen wird hier gesprochen, derer sich durch andere Blicke entledigt werden soll? Nun, der elephant in the room heißt Eurozentrismus, Kolonialismus, Rassismus, welcher beim Symposium direkt und gleichzeitig ein Stück weit entschuldigend benannt wird als „verdeckter oder missverstandener Rassismus“, vor allem in Form von unbewussten Prägungen und strukturellen Konsequenzen.

Kuratorin Nora Amin formuliert vorsichtig. Dass „white fragility“ ein bekanntes Phänomen im Engagement gegen Rassismus ist, davon kann auch Raphael Moussa Hillebrand ein Lied singen. Der Tänzer, Choreograf, Bundesvorsitzende der HipHop-Partei Die Urbane, Antirassismus-Aktivist und Tanzpreis-Träger 2020 übte, zusammen mit anderen von Rassismus betroffenen Künstler*innen, im der Preisverleihung 2020 folgenden Online-Symposium offen Kritik an bestehenden institutionellen Machtstrukturen vor allem im Ballett und fragte auch nach der Notwendigkeit von Quoten. DTD-Vorstandsmitglied sowie Ballettmanager und -dramaturg Klaus Kieser unterbrach die Diskussion, die er als irritierend und als „Zeitverschwendung“ empfand, mit dem Hinweis: „Ich bin für Qualität“. Es folgte ein mehrmonatiger Streit, in dem weiße Männer das Vorhandensein von strukturellem Rassismus in Abrede stellten.

Jedenfalls brauche die nur scheinbar diverse, vorwiegend international geprägte Tanzszene, so Amin weiter, „noch ein gutes Stück mehr Bewusstsein, weitere Sensibilisierung und Veränderung in Sachen Vielfalt“. Denn: „Eine immanent weiße Vorherrschaft dominiert hier wie in anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen.“ Diese weiße Vorherrschaft habe Auswirkungen auf die Art der Darstellung und Vermittlung von Tanzgeschichte, von Körperbildern und Ansichten über Tanz sowie die tänzerische Ausbildungspraxis – auf die Frage also, was als legitim, wertvoll, fördernswert gelten kann. „Diskriminierung, Ausschluss und Ungerechtigkeit“ seien die Folge, und es gehe im Rahmen des Symposiums darum, „das fragmentierte Feld des Tanzes mit einem heilenden Blick zu analysieren“.

Während die kritische und oft auch selbstermächtigende Beschäftigung mit Diskriminierung, Exotisierung oder Othering sicher kein neues Phänomen im Feld des zeitgenössischen Tanzes dar- stellt, ist die Ankündigung eines Symposiums mit therapeutischem, „heilendem“ Anspruch doch außergewöhnlich. Es ist vor allem eine hoffnungsvolle Geste, die die Tänzerin, Choreografin, Aktivistin, Autorin und Lehrende Nora Amin vertritt, so oft sie kann: Gezeigt werden soll, dass es in der Gegenwart möglich ist, gemeinsame Räume zu schaffen für „freundliche und unkonventionelle Begegnungen“ – Einladung statt Anklage, gemeinsames Lernen statt Belehrung.

Vielfältige Formen und Bedeutungen von Tanz wahrnehmen

Und so ist es natürlich schade, dass die digitalen Körper(bilder) des auch in seinen Präsentationsformaten vielfältigen Symposiums diese Begegnungen pandemiebedingt für die allermeisten Teilnehmer*innen lediglich über Augen, Ohren, Finger, Screens, Lautsprecher und Tastatur stattfinden lassen – besonders bedauerlich etwa bei Mey Seifans partizipativer „Historytelling/Dancing Body, Koch- Performance“. Dafür aber sind die Videos im World Wide Web noch für längere Zeit frei zugänglich.

Zudem war es so möglich, Impulsgeber*innen aus verschiedenen Regionen der Welt zu versammeln, was die gemeinsamen Anliegen global vernetzter Tanzschaffender sichtbar werden lässt: etwa die Wahrnehmungen möglichst vieler unterschiedlicher Formen und Bedeutungen von Tanz, auch jenseits der (wenigen) auf europäischen Bühnen etablierten Stile.

Es sprachen und performten 20 Tanzschaffende sowie über Tanz Forschende oder mit ihm Arbeitende aus Deutschland, Indien, Ägypten, Syrien, El Salvador, Kamerun, Nigeria, dem Libanon, den USA, Frankreich, der Türkei oder Italien. Wobei die Länderbezeichnungen hinter den Namen der Beitragenden in der Regel auf (selten identische) Geburtsländer und Wohnorte verweisen, nicht aber auf die zum Teil noch einmal anderen Geburtsländer der Eltern. Vielleicht, weil Identitäten sowieso immer divers sind, wie mehrere Speaker*innen betonen.

Eine letzte Herausforderung in der Begegnung von Menschen aus verschiedenen Erdteilen bedeutet immer noch die Sprache: Wer kein Englisch beherrscht, kann – trotz der Möglichkeit des Dolmetschens, das ohne ein gewisses langsames Stolpern der Kommunikation selten zu haben ist – an einem solchen globalen Austausch kaum teilnehmen. Was aber den Tanz als eine in allen Formen denkbare Körperpraxis selbst nicht trifft: Hier kann jede*r auf eigene Weise mittanzen – das ist sein radikal inklusives Potential. Soweit, so konsensfähig.

Sind neue kulturpolitische Regularien nötig?

Aber was ist mit Tanz als Zuschaukunst, was ist mit deren Publikum? Wer findet und sucht hier Zugänge? Das Symposium konzentrierte sich vor allem auf die Tanzschaffenden. Und die haben mit Unterstützung des Dachverband Tanz Deutschland einen Forderungskatalog erstellt, dessen Veröffentlichung für Ende des Jahres 2021 angekündigt wurde. Hierauf darf man gespannt sein, denn am Ende des dritten Tages zeigte sich das anmoderierende Kurator*innenteam aus Amin, Seifan und Kono offen erleichtert, nicht selbst die schwierige Aufgabe übernehmen zu müssen, aus dem bisher Gehörten und Gesehenen nun konkrete „action plans and future projects“ ableiten zu sollen. Welche Forderungen man habe? Es sei „zu viel, einfach zu viel“, so der Tänzer und Performer David Guy Kono.

Vier weiße Frauen übernehmen nun die knapp einstündige Abschlussdiskussion, sie vertreten als Tanzlobbyistinnen mehrere Verbände und Initiativen, unter anderem das geplante TanzArchiv Berlin (Christine Henniger), das Projekt TanzZeit (Livia Patrizi) und das nrw landesbuero tanz (Henrike Kollmar); Sabine Gehm vom DTD moderiert. Koll- mar greift anfangs noch einmal die in der vorherigen Runde gestellte Frage der Berliner Choreografin und Festivalleiterin Canan Erek auf: „Brauchen wir wirklich neue kulturpolitische Regularien, um mehr Diversität zu fördern?“ Der unhinterfragte common sense der Runde scheint dies eindeutig zu bejahen

Zwei Tage zuvor hatte der in Syrien und Großbritannien ausgebildete und seit einigen Jahren in Deutschland lebende Theatermacher und -wissenschaftler Ziad Adwan in seinem Input „Teaching the ‚Other‘“ durchaus provokant gefragt, was deutsche Kulturinstitutionen denn zu erreichen versuchten mit ihrer Auffassung von Diversity. Wo hinein solle denn wer integriert werden? Um welche „Merkmale“ und Zuschreibungen gehe es hier? Und – auch wenn Adwan die Frage eher nur andeutete – um wessen Bedürfnisse?

Umverteilung von Anerkennung – und Ressourcen

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die selbst als „divers“ gelabelten Künstler*innen und Expert*innen dem kulturpolitischen Diversity-Begriff eher skeptisch gegenüberstehen. Mey Seifan, Tänzerin, Choreografin und Mitkuratorin des Symposiums, fordert etwa in der vorab veröffentlichten Social Media-Kampagne #meettheartist, „[t]hat diversity is no longer the goal! But a [...] richer working environment“. Es sollte nicht darum gehen, könnte das bedeuten, im Fördersystem der freien Tanz- und Theaterschaffenden auch als „newcomer“ oder anderweitig „diverse*r“ Künstler*in mitkonkurrieren zu dürfen, sondern darum, gemeinsam die Produktionsbedingungen insgesamt zu verbessern.

Auch die körperzentriert arbeitende Theaterpädagogin und -macherin Laia Ribera Cañénguez, um nur eine weitere von vielen Stimmen zu zitieren, wünscht sich „einen Paradigmenwechsel, wo wir nicht mehr über Diversität sprechen“ und fordert „eine gerechtere Umverteilung von Anerkennung und materiellen Ressourcen“, „radikale Vielfalt, horizontale Mitgestaltung und eine breit gefächerte Teilhabe“. Genau!

Weiteres Material und alle Videos des hybriden Symposiums: https://www.deutschertanzpreis.de/ veranstaltungen/symposium

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