Ausgabe Mai-Juni 2023

Alles auf Anfang, oder Déjà-vu

Alex Hennig in front of the Skyline of Frankfurt am Main.
Alex Hennig. Foto: Luise Gerlach

Die Tanzdramaturgin und -journalistin Alex Hennig hat ihrer Heimatstadt Berlin (vorerst) den Rücken gekehrt und ist seit Herbst 2022 festangestellte Dramaturgin am Künstler*innenhaus Mousonturm in Frankfurt am Main. Für das Magazin tanzraumberlin schreibt sie über Anfangseuphorie und Abschiedsschmerz, erinnert sich an ihre persönlichen Anfänge in der Freien Berliner Szene und reflektiert Methoden des Anfangens und Aufhörens aus dramaturgischer Sicht.

Alex Hennig

Dieser Text hat aufgehört, alles richtig machen zu wollen und irgendwo angefangen. Einfach loslegen oder: sich erstmal einen Überblick verschaffen. Die losen Enden einsammeln und aufdröseln und dann tief durchatmen. Sagt sich so leicht.

Aller Anfang ist schwer. Für den Tanz geht dieses Konzept von Anfang und Ende vielleicht ohnehin gar nicht auf. Wo findet eine Bewegung ihren Ursprung und wohin geht – oder bleibt – sie? Die Frage nach den Anfängen ist immer auch ein Anstoß, sich zu vergewissern, was davor war und anzuerkennen, dass Geschichte in Bewegung ist. Die viel beschworene Flüchtigkeit des Tanzes und die Frage, welche Spuren er hinterlässt. Die Einsicht darüber, dass die Geschichten, auch wenn sie eine Weile unentdeckt bleiben, wiederkommen; dass die Körper bleiben, Geschichte produzieren und selbst durch Geschichte(n) hervorgebracht werden. Dass das alles ziemlich beweglich ist.

Die Berliner Tanzszene ist besonders, weil es hier wie nirgendwo anders möglich zu sein scheint, normative Konzepte von Körpern und Bewegung radikal in Frage zu stellen. Vielleicht, weil Berlin immer schon ein Sehnsuchtsort war, ein Zuhause für ganz verschiedene Lebenskonzepte, ein sicherer Hafen für alle, die irgendwie aus dem Raster fallen und letztlich auch eine dankbare Bühne, um sich immer wieder neu zu erfinden. Für die Freie Szene gesprochen hat diese Freiheit aber auch ihre Kehrseite in prekären Strukturen, in der unbedingten Flexibilität und Hingabe aller Akteur*innen, in nicht-linearen Lebensläufen und hybriden Arbeitsfeldern. Wenn ich von jüngeren Kolleg*innen gefragt werde, wie ich da hingekommen sei, wo ich jetzt bin, dann möchte ich am liebsten sagen: Weil ich nie etwas anderes hätte machen können. Und gleichzeitig: Keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich habe in den ersten Jahren nach dem Studium wie die Meisten viele Jobs gleichzeitig gemacht, jedes kleine Projekt angenommen, weit unter dem Existenzminimum gelebt, bin so reingeschlittert und habe immer wieder die Freude am Tanz und am Theater zurückgewonnen. Und es braucht Menschen, die dich sehen und fördern, dir Platz machen und dir sagen, dass du so weiter machen sollst, ohne die geht es nicht.

Wenn ich an meine allerersten Berührungspunkte mit zeitgenössischem Tanz auf Theaterbühnen denke, stehen sich Irritation und Begeisterung ziemlich nahe. Ich habe während meines FSJ Kultur in den Sophiensælen 2008/09 Tanzabende erlebt, die mich vollkommen ratlos zurückgelassen haben – mich emotional und kognitiv durchgeschüttelt, mich wütend gemacht, gelangweilt, mir die Augen geöffnet oder mich zu Tränen gerührt haben. Ich erinnere mich an ein Stück von Laurent Chétouane, mit einem poetischen langen Titel, vielen diagonalen Raumwegen und dem Eindruck, dass wahrscheinlich etwas sehr Bedeutungsvolles vor sich gehe, ein Rätsel, eine Frage? Ich vergesse nicht Angela Schubot alias Two Fish in einem Solo voller Kraft und einem Körper völlig außer sich, Sasha Waltz im Neuen Museum und wie beeindruckt ich war zwischen den Tänzer*innen und umgeben von dieser Architektur, an Xavier Le Roy in Gestalt eines Hühnchens, warum erinnere ich mich ausgerechnet an die? Mythenbildung. 2009 ist Pina Bausch gestorben. Ich habe gelernt, dass Körper auf sehr verschiedene Weisen tanzen können, selbst wenn sie sich gar nicht so viel bewegen, dass nicht wichtig ist, „wie sich Körper bewegen, sondern was sie bewegt“ (Pina), dass die Grenzen des eigenen Körpers fließend sind und dass Leute zuweilen auch mit ihren Zellen tanzen (zum Beispiel Frédéric Gies in Dance Practicable oder: erkläre einer 19-Jährigen was Body Mind Centering® ist). Aber, ehrlich gesagt: Wo fängt mein Körper an und wo hört deiner auf?

Über die eigenen Anfänge zu sprechen, kommt nicht ohne diesen Wink von Nostalgie und Selbstironie aus, aber wie beruhigend ist es, zu wissen, dass wir alle irgendwann angefangen haben und mit irgendwas einmal wieder von vorne anfangen werden.

Der erste Tag im Proberaum zu einer neuen Produktion – wie man anfängt, hängt stets von der künstlerischen Form ab. Dass wir im zeitgenössischen Tanz die Hierarchie zwischen Produkt und Prozess aufzulösen im Stande sind, ist eines von vielen Geheimnissen, die ich gerne mal zum Rest der Gesellschaft herübertanzen lassen würde. Trotzdem baut die Dramaturgie ja einen, mehr oder weniger offenen, Bogen zwischen Anfang und Ende eines Stücks. Und dann gibt es da noch Produktionspläne, die eine Timeline imaginieren, den Anfang und das Ende eines Projektes behaupten; aber in Wahrheit arbeiten alle immer länger, weil Tanz sich nur schwer in Projektlogik und in 6-Wochen-Blöcke einpassen lässt. Wir sind in der Freien Arbeit mit so vielen parallelen Zeitlichkeiten beschäftigt – wir schreiben schon jetzt Anträge und imaginieren Räume, Bewegungsmaterial und Themen für Stücke, von denen wir nicht wissen, ob sie stattfinden werden, wir rechnen vergangene Produktionen ab, planen Gastspiele, pflegen Kontakte und tanzen auf allen Hochzeiten gleichzeitig. Wir sind Schwellenwesen.

Vor einem halben Jahr bin ich aus Berlin nach Frankfurt gezogen. Der Schritt von der Selbstständigkeit in die Institution erschien mir folgerichtig, hat mich mit Anlauf ins kalte Wasser springen lassen und mich daran erinnert, Schwimmen und Fahrradfahren verlernt man nicht. Ich vermisse Berlin schmerzlich und merke, dass ich gar nicht so weit weg bin. Endlich mal irgendwo ankommen. 
 

retardierendes Moment

Hier könnte sich gut und gerne ein Text anschließen über Festanstellung als Sehnsuchtsort, über Existenzängste oder Lebe deinen Traum, über Sehen und Gesehenwerden, Verantwortung und Repräsentation, Hauptstadt vs. Bankenstadt, Homeoffice vs. Großraumbüro, Kaffeeautomat vs. Coffee to go und wie lange sich dieses Konzept von Kaffeetrinken noch aufrechterhalten lässt, während die Ordnung der Welt, wie wir sie kannten, längst aus den Fugen gerät. Ob wir jetzt wirklich ganz neu anfangen müssen, und zwar damit, Dinge zu verlernen, die wir für selbstverständlich gehalten haben, und dass das aufregend und sinnstiftend und schmerzhaft sein wird, aber es ist auch so, dieser Text schweift gewaltig ab… Kopfschmerzen zum Wetterumschwung. Wie ich in letzter Zeit immer und immer wieder dasselbe Lied höre. Die ersten Tage des Frühlings und die letzten des Sommers. Gefolgt von einer losen Aneinanderreihung von ersten Lieblingssätzen in Romanen, die man nicht zu Ende gelesen hat. Eine Tür schließt sich und so weiter. Ein Text über das Anfangen ohne Trennungsschmerz, geht das? Eine Freundin hat mal gesagt: „Es gibt nur ein Ende. Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei.“ Der Text verplappert sich und drückt sich davor, ernsthaft anzufangen. Dramaturgie der Verweigerung. Den Text nicht loslassen können.

Irgendwie ist das alles doch auch schon einmal da gewesen: Angst vor Veränderung vs. Burning Bridges. Mit jedem Leitungs- und Personalwechsel – in Theaterhäusern, Redaktionen, Companies, Festivalteams – stehen alle doch irgendwie zwischen den Stühlen, also zwischen: „Alles wird anders“ und „Alles wird so bleiben wie es war“. Nicht alles über Bord werfen und trotzdem Neuanfänge wagen, Platz für andere Themen, Menschen und Formate schaffen, darum geht es doch. Hier in Frankfurt feiere ich den Neuanfang mit einem größtenteils neuen Team, einer alten-neuen Leitung und viel Auftriebswind. Wir stecken als Tanz-und Theaterschaffende kollektiv derzeit in vielen Transformationsprozessen. 2020 haben wir uns gefragt, ob die sogenannte Normalität, die durch die Pandemie unterbrochen oder verschoben wurde, überhaupt ein Ort ist, an dem man „zurückkehren“ wollen sollte. In meiner Wahrnehmung haben wir seitdem Vieles zu hinterfragen begonnen. Wir sprechen über ableistische, rassistische und klassistische Strukturen so offen und konsequent wie noch nie, wir lernen eine Menge dazu und versuchen hoffentlich Platz zu machen für alle Konzepte, Lebensrealitäten, Bedürfnisse und Experimente, die lange Zeit keinen Raum bekommen haben. Wir befragen die hegemoniale Geschichtsschreibung und beschwören neue Wurzeln und vergessene Geschichten, und gestehen uns ein, dass wir uns kritisch umschauen müssen, wenn wir „wir“ sagen. Das ist doch schon ein Anfang, oder.

Ein Versuch, dahin zurückzukommen, wo es angefangen haben könnte.

Im Nachhinein scheint alles Sinn zu ergeben. Die eigene Geschichte lässt sich oft nicht anders als eine logische Folge von eigentlich zufälligen Ereignissen erzählen und trotzdem tendieren wir dazu, alles rund machen zu wollen. Im Blick zurück konstruieren sich Bedeutungsstränge und Initialmomente, die unumstößliche Richtungswechsel eingezogen haben. Ein von pathetischen Anflügen begleitetes Gefühl, dass ab diesem Moment alles anders gewesen sein wird… Und am Ende komme ich doch nicht umhin, persönlich zu werden.

Danke, tanzraumberlin, für das Vertrauen und die Chance, hier den Anfang machen zu dürfen. Ein Special Honor für eine Person, der Anfänge und Abschiede gleichermaßen schwerfallen.

Wenn sich ein neues Kapitel aufschlägt, ist der Anspruch natürlich mega hoch. Bauchgefühl statt Erwartungsmanagement! Völlig losgelöst. Countdown und Feuerwerk und

auf Los geht’s los.

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