edition July/August 2020

"Wir müssen das Paradigma unserer Arbeit ändern"

Wie ist internationales Produzieren in Zeiten von Corona denkbar? Und wie geht es den Künstler*innen in anderen Ländern? Ein Gespräch mit Annemie Vanackere und Ricardo Carmona vom HAU Hebbel am Ufer.

Umweltbewusstes Kunstschaffen ist für sie schon Alltag: Jared Gradinger und Angela Schubot in "YEW: outside" im Botanischen Volkspark Pankow. Foto: Rachel De Joode

Zu einem Halt ist Mitte März das Reisen gekommen – für den internationalen Kunstaustausch und die Koproduktion über Kontinente hinweg eine Katastrophe, insbesondere für den weitgehend in freien Strukturen produzierten Tanz. Tanzschaffende können aufgrund von Physical Distancing und Reisebeschränkungen weder proben noch Uraufführungen entwickeln oder ihre Arbeiten touren, wie es auf der Webseite von Tanz im August heißt. Berlins internationales Tanzfestival ist von den Pandemiebeschränkungen direkt betroffen: Mitte Mai musste das Bühnenprogramm abgesagt werden. Welche Folgen hat Covid-19 für die Sommerfestivals und die assoziierten Künstler*innen? Welchen Herausforderungen begegnet derzeit ein Internationales Produktionshaus wie das HAU Hebbel am Ufer? Und inwiefern ist die Corona-Krise ein Anlass, die eigene Arbeit neu zu denken? tanzraumberlin hat via Zoom mit der Intendantin und Geschäftsführerin des HAU, Annemie Vanackere, und dem Kurator Tanz & Performance, Ricardo Carmona, gesprochen.

Interview: Elena Philipp

Annemie Vanackere und Ricardo Carmona, welche Erfahrungen teilen die Künstler*innen, mit denen Sie arbeiten? Wie geht es ihnen?

Annemie Vanackere: Neulich hatte ich ein Zoom-Gespräch mit Antonio Araujo aus São Paulo und Ismail Mahomed aus Johannesburg. Ismail hat die derzeitige Situation in Südafrika in den Kontext der tiefgreifenden Erfahrungen mit der Apartheid und vor allem auch der Wahrheits- und Versöhnungskommission gesetzt: Die Menschen haben damals Resilienz geübt, sie wissen, was Empathie ist, und können das jetzt wieder anwenden. Es gibt viel Solidarität. In Brasilien ist die Situation ganz anders: Der Präsident wütet herum und die Leute wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Für die Kunst gibt es null Geld. Künstler*innen überleben nur noch durch ihre Reserven und versuchen, sich gegenseitig irgendwie zu unterstützen. Drei Monate lang geht das, aber wenn es sechs oder neun Monate dauert, wird es hart. Antonio, der Leiter des International Theatre Festival of São Paulo, wirkte sehr ‚shaky‘, weil er wirklich nicht wusste, wie es weitergeht.

Was bedeutet der Ausfall der europäischen Sommerfestivals für die internationalen Künstler*innen?

Annemie Vanackere: Für Künstler*innen in Indien, Brasilien oder auf dem afrikanischen Kontinent, die mit Geldern aus Europa produzieren, ist das ganz schwierig und teils bedrohlich. Alle Veranstalter*innen bemühen sich darum, ihnen eine Präsenz zu bieten, vor allem online. Sollten wir bald wieder ‚normaler‘ spielen können, werden sie das hoffentlich überstehen – sofern wir dafür sorgen, dass die Künstler*innen unterdessen Geld haben, um ihre Kunst zu betreiben oder ihre eigene Praxis weiterzudenken. Dauert die Corona-Krise zu lange, verlieren wir viele Kunstschaffende, weil sie in diesem Beruf dann keine Überlebenschancen haben. Viele Zweitjobs sind weggefallen.

Kulturpolitisch lässt sich das internationale Netzwerk nicht so einfach sichern.

Annemie Vanackere: Die Frage ist: an wen adressieren wir dieses Anliegen? Allenfalls an die EU, aber dann landet man doch wieder auf der nationalen Ebene. Das Beispiel Brasilien lässt nichts Gutes erahnen, denn viele Staaten haben derzeit noch ein ganz anders Problem – wie nehmen wir uns endlich der Rassismusprobleme an? Und damit eng verbunden auch des weiterschreitenden Klimawandels, der für noch mehr Fluchtbewegungen sorgen wird? Als Theater können wir zwar unterstützend für einzelne Künstler*innen agieren, aber wir sind kein Notfonds.

Wie stehen Sie mit Partnerinstitutionen weltweit im Austausch?

Ricardo Carmona: Als der Shutdown im März begann, gab es einen neuen Grad an Verbundenheit und Empathie, wenn wir uns mit Kolleg*innen ausgetauscht haben. Auch wenn wir nur gefragt haben: Wie läuft’s bei Euch in Indien?, hat uns dieser Moment des Austauschs verbunden, über die Isolation hinweg. Das Team von Tanz im August ist im engen Kontakt mit den Sommerfestivals. Diese Solidarität, auch bei der Entscheidung, ob wir die Bühnenperformances absagen müssen, hilft uns, weiterzumachen.

Annemie Vanackere: Wie geht Ihr mit Absagen um, was bezahlt Ihr den Künstler*innen?, waren wichtige Fragen, zu denen es bei den Festivals sehr unterschiedliche Stimmen gab. Die reiche Schweiz bezahlt Ausfälle zu 100 Prozent, in anderen Ländern konnte von Ausfallhonoraren nicht die Rede sein.

Welche über die Corona-Krise hinausreichenden Erkenntnisse ergeben sich aus diesem Austausch?

Annemie Vanackere: Zwei Herausforderungen sehe ich derzeit: Der ganze internationale Betrieb muss neu gedacht werden – da gibt es kein Entkommen. Einher geht das mit dem Gefühl von Verlust, auch für die Künstler*innen, die teils vom globalen Austausch leben. Die Einnahmen einer Performance-Gruppe wie She She Pop stammen zu einem Drittel aus (inter)nationalen Gastspielen. In die Zukunft gedacht, ist für diese Gruppen die Frage: Wie kann man künftige Koproduzent*innen finden, wenn man nicht weiß, ob man eine Arbeit dann auch zeigen kann?

Ricardo Carmona: Viele Künstler*innen sind besorgt: Hört, das funktioniert so nicht mehr, sagen sie, wir können nicht drei Monate warten! Diese Plädoyers müssen wir in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Wir müssen das Paradigma unserer Arbeit ändern. Die Tätigkeit in unserem Feld beruhte in den letzten zwanzig Jahren auf der Vorstellung, dass mehr Touren mehr Erfolg und Prestige bedeutet.
Annemie Vanackere: Das bringt uns zur zweiten Herausforderung: Wir müssen uns auch der Klimakrise stellen. Müssen wir als Veranstalter*innen so viel reisen? Am HAU haben wir Kurator*innen das auch nicht so wahnsinnig viel gemacht, aber es kam schon vor, dass wir für einen Tag nach Brüssel, Paris oder Zürich geflogen sind. Darüber zerbrechen wir uns den Kopf: Wie können wir trotzdem den internationalen Austausch aufrechterhalten? Ein besseres Abstimmen von Touren, die Künstler*innen länger an einem Ort sein lassen – das sind einige einfache Gedanken, die umgesetzt werden müssen.

Wie würde ein neues Paradigma aussehen?

Ricardo Carmona: Lia Rodrigues, eine brasilianische Choreografin, denkt aktiv über Ökologie und Nachhaltigkeit nach. Wie sie reisen kann, ohne zu viel Schaden zu verursachen. Sie muss nach Europa fliegen, ja, aber sie organisiert ihre Tour sehr strikt: Die Auftrittsorte sollen nah beieinander liegen, so dass sie innerhalb Europas mit dem Zug reisen kann. Die Materialien, die sie auf der Bühne verwendet, sind wiederverwendbar. In „Para que o céu não caia / For the Sky Not To Fall“, das 2016 am HAU zu sehen war, sind die Tänzer*innen am ganzen Körper bemalt – mit Naturfarben wie Kurkuma. Wäscht man nach dem Auftritt die Kleidung, verschmutzt man die Umwelt nicht so sehr. Ich denke auch an Angela Schubot und Jared Gradinger mit ihrer Performance „YEW: outside“ im Botanischen Volkspark Pankow. Es gibt viele gute Beispiele, die wir uns ansehen können.

Annemie Vanackere: Neu nachdenken können wir auch noch einmal über das Lokale, im Kontext der Globalisierung. Das heißt dann: translokal. Viele der (Tanz-)Künstler*innen, die am HAU spielen, kommen von woanders her. Aber unser Publikum ist hier in Berlin, nicht in Paris oder Brüssel. Ob wir das gleiche Programm zeigen wie das Théâtre de la Ville oder das Kaaitheater, ist nicht von Belang. Wir denken zunehmend translokal, denn in international steckt immer noch national – und mit Nationalismus kommen wir nicht weiter. Translokal bedeutet, wir stehen in Verbindung, sind in Kontakt mit anderen Orten weltweit.

Zur Idee der Nachhaltigkeit: Wie lässt sie sich mit einem eher hohen Durchsatz von Gastspielen an Produktionshäusern wie dem HAU verwirklichen?

Annemie Vanackere: So hoch ist unser Durchsatz gar nicht. Etwa 80 Prozent der Künstler*innen, die bei uns arbeiten, wohnen in Berlin oder in der Bundesrepublik. Wir produzieren vor Ort und pflegen gerne eine bestimmte Treue. Ricardo macht das musterbeispielhaft und denkt das mit langem Atem mit. Unser internationales Programm landet vor allem in Schwerpunkten, in Festivals wie Tanz im August oder Spy on Me. Aber auch das werden wir neu denken und schauen, wie wir weitere Formate mit digitaler Präsenz weiterentwickeln. Ich denke, dass wir mit Corona sozusagen „mit mutieren“ müssen und dass unser Programm eine Mischung von Analogem und Digitalem sein wird.

Wie die Saison 2020/21 aussehen wird, kann derzeit noch niemand absehen. Wie planen Sie für die nächste Spielzeit am HAU?

Ricardo Carmona: Im Herbst werden wir einen anderen Rhythmus haben als sonst. Berliner Künstler*innen werden wir mehr Zeit auf der Bühne einräumen als sonst. Auch die Techniker*innen benötigen mehr Zeit für Auf- und Abbau. Es können nicht alle gleichzeitig auf der Bühne sein. Wir müssen das Bühnenbild, das Licht und den Ton in Slots nacheinander einrichten. Wir überlegen kontinuierlich, wie wir unsere Kunstproduktion an die neuen Umstände anpassen.

Annemie Vanackere: Als Spielstätte rechnen wir mit dem, was Kultursenator Klaus Lederer gesagt hat: dass die nächste Saison keine normale sein wird. Große Gruppenstücke stehen nicht auf dem Spielplan – dabei haben wir uns lange dafür eingesetzt, die Bedingungen für große Arbeiten in Berlin zu verbessern. Für Herbst haben wir einen guten Plan. Wir sind derzeit im Gespräch mit der Szenografin Janina Audick, die mit ihren Studierenden von der UdK das HAU1 in einen anderen Raum umbauen soll, inspiriert von Paul Preciados Text „Vom Virus lernen“, den wir auf unserer Seite veröffentlich haben: Lasst uns freiwillig mutieren, und nicht nur, weil der Staat es sagt. Diesen Raum zu betreten, soll Spaß machen und nicht ständig daran erinnern, dass wir statt 500 Leuten nur 100-120 ins HAU1 einlassen können. Das HAU2 ist ohnehin flexibel, alles ist breiter, größer, barrierefrei. Aber auch dort wird es Vorstellungen für nur 50 Leute geben.

Wie ist das Internationale in die Spielzeit-Überlegungen eingebunden?

Ricardo Carmona: Gastspiele, zum Beispiel von Marlene Monteiro Freitas oder Michael Turinsky, haben wir auf Frühling 2021 verlegt, andere abgesagt.

Annemie Vanackere: Man kann die internationale Präsenz auch andenken, ohne dass die Künstler*innen hier sind. Viele von uns haben es zwar satt, dauernd auf den Bildschirm zu gucken. Aber man soll nicht aufhören, zu experimentieren. Es braucht eine neue Art und Weise, internationale Verbindungen lebendig zu halten.
Bestehende Verbindungen aufrechtzuerhalten, geht für eine Weile. Wie knüpft man neue Beziehungen – und wie fördert man vor allem junge Künstler*innen, die es jetzt noch schwerer haben, sichtbar zu werden?

Ricardo Carmona: Neues entsteht aus der Corona-Krise ja auch. In unserem Online-Programm haben wir ein internationales Publikum, das wir zuvor nicht hatten. Für die Künstler*innen ist das aufregend. Faustin Linyekula, mit dem wir seit langem zusammenarbeiten, hat aus der Krise heraus ein Projekt entwickelt, das die Situation außerhalb Europas einfängt: Er hat 21 Künstler*innen aus rund 18 Städten des afrikanischen Kontinents eingeladen, in einem kurzen Video über ihre Situation zu sprechen, über ihren Blick auf diesen historischen Moment, über ihre künstlerischen Visionen. Viele der Beteiligten kennen wir noch nicht, es sind etliche junge Künstler*innen dabei. Die Ergebnisse sollen im Oktober als Film gezeigt werden und später auch online zur Verfügung stehen.

Kurzfristig ist das sicher ein schönes Angebot. Aber was passiert, wenn die Situation neun Monate anhält oder zwei Jahre?

Ricardo Carmona: Den Gedanken halte ich mir bisher noch vom Leib. Wir planen bis Dezember. Was danach kommt, werden wir sehen. Für den Tanz, der so sehr mit der Berührung verbunden ist, ist das Corona-Virus schwierig. Wir merken derzeit sehr deutlich, dass die Vorschläge, die die Berliner Tanzszene 2018 am Runden Tisch Tanz erarbeitet hat, wirklich Sinn machen, um den prekären Produktionsbedingungen entgegenzuwirken: das Stipendium „Tanzpraxis“ zum Beispiel, das ein kontinuierliches Arbeiten jenseits einzelner Produktionen ermöglicht.

Annemie Vanackere: Unser Zeitbegriff verändert sich durch die Corona-Krise. Wir haben in unserem Produktionssystem bislang auch als Kulturproduzent*innen nur vorwärts gedacht, in Output, Output, Output – und auf einmal wissen wir nicht, wie es weitergeht. Das ist eine interessante Öffnung in unserem kapitalistischen System. Ich persönlich bin nicht in jeglicher Hinsicht hoffnungsvoll, aber ich bin Zweckoptimistin. Und die Künstler*innen sind die richtigen Personen, um über all die drängenden Fragen nachzudenken und diese künstlerisch zu bearbeiten.

 

Internationale Stimmen von Künstler*innen zur Krise veröffentlicht das Bündnis internationaler Produktionshäuser auf seiner Webseite hier.

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