edition July/August 2020

"Wir lebten im Prekariat, jetzt leben wir im Elend"

Eine Brandrede des Tänzers und Choreografen Jochen Roller.

Wandelnde Manifeste: Jochen Rollers Text als Mahnfläche in der Performance "La Pute de la Joie" von Gintersdorfer/ Klaßen, gezeigt beim Live Art Festival #10 auf Kampnagel, Hamburg, Mitte Juni 2020. Foto: Knut Klaßen

So geht’s nicht weiter. Das auf kurzfristigem Durchsatz und prekären Lebensmodellen beruhende System der freien Kunstproduktion ist am Ende. Der Ansicht ist Jochen Roller, Tänzer und Choreograf, der sich seit langem mit den Arbeitsbedingungen von Künstler*innen beschäftigt. Auch die aktuelle Studie des Kulturrats, „Frauen und Männer im Kulturmarkt“, verdeutlicht drastisch, dass sich Beschäftigte im Kulturbereich ökonomisch auf dünnem Eis bewegen. Mit Corona ist die Fragilität der Kulturstrukturen besonders offenbar geworden. Jochen Roller machte seiner Wut Luft in einer Brandrede, die er gewissermaßen an die Tore der Kulturverwaltungen und Spielstätten nagelt wie einst Luther seine Thesen.

So nicht! Wie dann? Konkrete Ideen entwickelt Jochen Roller, über die Kritik an den Zuständen hinaus, seit längerem gemeinsam mit Künstler*innen wie Jule Flierl oder Monika Gintersdorfer. Mitte Juli zeigen sie in einem Video, wie ein künstler*innengeführtes Produktionshaus nach ihren Vorstellungen aussehen könnte. Wir teilen die Episode „Es prickelt, weil es perlt (La chose picote parce qu‘elle perle) – Das Maison de Crémant zieht Bilanz“ auf der Webseite von tanzraumberlin.

Text: Jochen Roller
Tänzer und Choreograf

Jede*r freie Tanzschaffende hat eine eigene Corona-Ampel. Meine funktioniert so: Kriege ich keine Förderung (neuerdings auch gerne: keinen Spieltermin) und die Showampel springt auf rot, biete ich mehr Workshops an. Wenn dort auch kein Bedarf besteht (was bisher nur manchmal in der Sommerpause oder vor Weihnachten passiert ist), springt die Kursampel auch auf rot und ich mache mehr Schichten in meinem Job im Nachtleben. Momentan sind alle drei Ampeln auf rot, und das seit drei Monaten. Wie sagte ein Kollege: „Wir lebten im Prekariat, jetzt leben wir im Elend.“ Die freie Szene ist am Arsch.

Wir können uns jetzt für die Anerkennung unserer Kunst als systemrelevant einsetzen. Eine solche Anerkennung bringt uns perspektivisch mehr Förderung. Wir können aber auch darüber diskutieren, dass das neoliberale Produktionssystem, das wir in der freien Tanzszene praktizieren, tendenziell vor allem einer Berufsgruppe nicht nützt – den Künstler*innen. Denn mehr Förderung produziert mehr Kunst und damit mehr Abhängigkeit der Künstler*innen gegenüber den Theatern und Jurys. Was wir brauchen, ist nicht (nur) mehr Förderung, sondern eine andere Förderung.
„Haben wir doch schon längst am Start“, rufen jetzt die ThinkTanker der Fonds, Stiftungen und Verwaltungen. Das stimmt. Angesichts der gegenwärtigen Kontaktbeschränkungen gibt es tatsächlich mehr Förderungen, die dem „mehr (Kunst) ist besser (für wen eigentlich?)“ entgegenwirkt und finanzierte Kreativfreizeit für uns schafft (#takecare, #reload und #all die anderen gut ausgedachten Titel). Allerdings geht ja nun gerade auch nichts im Theater.
Das Problem ist, dass jetzt – wie immer – andere für uns entscheiden, wie wir arbeiten sollen. So wie die Kulturverwaltungsmenschen finden, wir sollten jetzt mal Input statt Output finanziert bekommen, finden Jurymitglieder*innen, wir sollten komplexe künstlerische Prozesse mental antizipieren und linear schriftlich zusammenfassen können. Und Theaterintendant*innen finden, wir sollten jede Saison den neuen heißen Scheiß produzieren, dabei permanent international touren und gleichzeitig das lokale Publikum an die Institution Theater binden (ach ja, und Inklusion wär auch noch ganz gut). Wünsch Dir was! Jetzt wünsch ich mir mal was:
Ich wünsche mir, dass die Menschen, die sich gerne zu unserer Szene zählen (vor allem wenn es um Gästelisten und kulturpolitische Solidaritätsbekundungen geht), aber de facto die Herren und Damen über unseren Monatslohn sind, aufhören zu glauben, wir würden sofort jede Förderung versaufen, die wir ohne ein kilometerlanges Kontrollregularium ausbezahlt bekommen („Hallo Frau X in der Verwaltung Y, den Differenzbetrag zwischen meinem gekauften Modell und der billigeren Variante zahl ich wirklich nicht zurück, da können sie lange drauf warten!“).
Ich wünsche mir, dass Nachhaltigkeit nicht ein neuer Modetrend der Kulturverwaltungselite wird, die glaubt, mit No-Fly Policies und Umweltzeichen auf Kostümtextilien bessere Kunst hervorzubringen (sie ja sowieso nicht, denn sie produziert selbst keine Kunst – das sollen wir machen, aber nach ihren Vorgaben). Macht doch bitte endlich mal ein Praktikum in der freien Szene und schaut Euch an, wie das in echt mit dem Kunstherstellen läuft. Was da nicht nachhaltig ist, ist, wie man in acht Wochen alle Projektgelder auf den Kopf haut, um nach kurzer Zeit das Produkt in die Tonne zu werfen und sofort ein neues zu produzieren. Wollt Ihr nicht mal auch alle zwei Monate einen Antrag an uns freie Künstler*innen schreiben, damit Euer Job weiterläuft?
Ich wünsche mir, dass die sogenannten freien Produktionshäuser mir mal erklären, was sie eigentlich produzieren. Also wir finanzieren unsere Arbeit, bringen unser Publikum ins Theater, bewerben unser Produkt und vermitteln unser Kunstschaffen. Ach ja, und herstellen tun wir die Kunst nebenbei auch.
Ich wünsche mir, dass ich keine weiteren kostenlosen Weiterbildungen von den Berufsverbänden angeboten bekomme, wie ich mich besser selbst optimieren kann (besonders jetzt).
Und ich wünsche mir, dass ich nicht mehr auf Podiumsdiskussionen eingeladen werde, wo ich für die freie Szene sprechen soll und alle anderen Menschen auf dem Podium feste Anstellungen haben und verständnisvoll nicken zu allem, was ich sage.
Die gegenwärtige Gesundheitskrise wirft nicht wirklich neue Probleme auf, sie verschärft nur die bestehenden.
Ich hab’ noch viel viel mehr, aber schon zu viele Zeichen (bitte mehr als 4.500, aber weniger als 5.000 – jahrelang im Antragschreiben geprobt).

Kurz: Ich glaube, wir können uns besser selbst organisieren.
Hallo Grundeinkommen.
Hallo selbstverwaltete Produktionshäuser.
Hello Paradise.

Das ist meine Hoffnung in der Krise.
Weniger geht nicht mehr. Aber anders.   

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