edition July/August 2020

Konfetti zwischen Dielen

Warum Remote-Performances für Künstler*innen mit Behinderung eine Chance sind.

Ein Zoom-Videoanruf mit vier Fenstern. Mehrere Performende schauen in die Kamera, im Hintergrund stehen leuchtende Bühnenelemente. Es leuchtet der Schriftzug No Limit.
The Show does go on: Screenshot aus Angela Alves’ "NO LIMIT", online im Juni 2020-Programm der Sophiensæle. Im Uhrzeigersinn von links oben: Gal Naor, Angela Alves, Athina Lange, Simone Detig und Musiker Christoph Rothmeier. Screenshot: Philippe Krueger

Text: Alex Hennig
Dramaturgin und Tanzjournalistin

Wer behindert ist, entscheidet die Gesellschaft – indem sie, mal implizit, mal ausgesprochen, eine Normalität definiert, die es für jede Person zu erreichen gilt. In ihrer Zoom-Performance „NO LIMIT“ dreht Angela Alves den Spiegel um: ‚Normal‘ ist hier, wer behindert ist. Augenöffnend absurde Szenen spielen sich in einem virtuellen Showsetting ab, wenn Angela Alves als Nichtbehinderte erklären muss, warum sie ständig so energiegeladen ist und andauernd mehr erreicht als sie sich vorgenommen hat. Um zu zeigen, wie eine barrierefreie Performance funktioniert, wenden sich die Performer*innen Athina Lange und Gal Naor zugleich verbal wie gebärdend an die Zuschauer*innen vor den Bildschirmen, und Simone Detig steuert eine Audiodeskription für die Tanz- und Filmszenen bei. Wie „NO LIMIT“, das am 16. Juni 2020 in den Sophiensælen Zoom-Premiere feierte, entstanden ist und warum Remote-Performances im digitalen Raum für Künstler*innen mit Behinderung keine Verlegenheitslösung sind, berichtet hier die Produktionsdramaturgin Alex Hennig.

Text: Alex Hennig
Dramaturgin und Tanzjournalistin

Noch vor einem halben Jahr saßen die Choreografin Angela Alves und ich mit unseren Laptops auf ihrem Bett. Ich auf der Bettkante, sie neben mir.
Wir waren dabei, ein Projekt zu planen, für das wir bereits Fördermittel bekommen hatten, dessen Umsetzung wir selbst jedoch nicht (mehr) mit Sicherheit voraussagen konnten. Angela hat Multiple Sklerose, eine chronische Entzündung des zentralen Nervensystems. Anfang diesen Jahres hat ein heftiger Schub im Rückenmark ihre linke Körperhälfte beinahe komplett gelähmt; Aufstehen, Gehen, Bewegen – auf einmal eine Herausforderung. Also fanden wir uns zum ersten Konzeptionstreffen für „NO LIMIT“ statt im Proberaum in ihrem Schlafzimmer wieder. Unausgesprochen einig darüber, dass wir genau deswegen schon mitten im Prozess waren.

Wenn Realität von Fiktion eingeholt wird
„NO LIMIT“ behauptet eine Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse. In dieser Show bilden Menschen mit Behinderung die Mehrheit – der Auftritt von nicht-behinderten Performer*innen-Körpern wird mit großer Geste in Szene gesetzt: virtuelle Showtreppen, Bühnenräume in fernen Galaxien, hautnahe Portraits. Übersetzungsfeuerwerk, aufwändiges Bühnenbesteck, Charity, Tutti Frutti. Mit Ausbruch der weltweiten Pandemie scheint sich diese Umkehrung auf paradoxe Weise eingelöst zu haben: Ob ‚krank’ oder ‚gesund’ – alle mussten zu Hause bleiben. Bemerkenswert festzustellen, dass mich diese Krise, der Zustand von Ungewissheit, die Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit viel mehr getroffen hat als Angela, für die der ‚Ausnahmezustand’ ohnehin seit langem dazu gehört.
Seit über einem Jahr verbindet uns eine enge Zusammenarbeit und Freundschaft, in der vor allem ich mich immer wieder selbst daran erinnern muss, dass Angelas Behinderung meist unsichtbar, deswegen jedoch nicht weniger real ist. Bis zu diesem letzten Schub war sie seit Jahren beinahe symptomfrei, dabei jedoch stets mit der Gefahr konfrontiert, von einem Tag auf den anderen nicht mehr aufstehen zu können. Wenn wir jetzt kurz vor der Premiere von „NO LIMIT“ gefragt werden, wie wir das Stück trotz Corona umsetzen konnten, müssen wir zugeben, dass uns die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus die Arbeit im Gegenteil allererst ermöglicht haben.

Nähe in der virtuellen Ko-Präsenz
Die Entscheidung, die Performance als interaktives Webinar zu entwickeln, war insofern alles andere als eine Verlegenheitslösung. „NO LIMIT“ verteidigt Barrierefreiheit nicht nur auf Seiten des Publikums, sondern bereits auf Produktionsebene – in dem Moment, in dem die Künstlerin entscheiden kann, ob sie fit genug ist, die Wohnung zu verlassen. Wenn jetzt überall Streaming-Formate mit Verweis auf die nicht einzulösende Qualität im Vergleich mit Live-Situationen abgewunken werden (ehrlich gesagt eh klar, nicht nur für alle, die, wie ich, im ersten Semester Theaterwissenschaft bis zum Umfallen die „leibliche Ko-Präsenz“ zitiert haben), übersehen wir gleichzeitig, dass es unter anderem für behinderte Künstler*innen dringend notwendig ist, Aufführungsformate jenseits der bestehenden Produktions- und Aufführungslogik zu etablieren, da der ‚normale Apparat‘ immer noch Teil eines Leistungssystems ist, das Ausfälle, Krankheiten, Unvorhersehbarkeiten nicht zulässt.
„NO LIMIT“ versucht dabei nicht, den Theaterraum zu imitieren, sondern mit den (Un)-Möglichkeiten des Online-Konferenz-Formats kreativ umzugehen; das Verhältnis von Zuschauenden und Performenden trotz Remote-Ferne aus nächster Nähe zu verhandeln, neue Dimensionen von Zugänglichkeit (accessibility) zu behaupten und Vorstellungen von ‚Normalität‘ nicht ohne Augenzwinkern durcheinander zu bringen.
Corona hat Chancen und Grenzen der Solidarität zugleich erfahrbar gemacht. Wenn Frédérik Valin in der taz schreibt, „Es sind immer die anderen, die sterben“, dann trifft das für unsere Arbeit an „NO LIMIT“ genau den Moment der Einsicht, dass Inklusion nur funktioniert, wenn sie uns alle etwas angeht.
Wenn wir uns mittlerweile wieder vorstellen können, dass diese Krise endlich ist, müssen wir uns umso ernsthafter fragen, zu welcher Normalität wir ‚danach’ eigentlich zurückkehren wollen.

Der Gang durch die Zauberkugel
„NO LIMIT“ passt so gut in diese Zeit, weil die Unvorhersehbarkeit, die Unverfügbarkeit der Körper, das Nicht-Mithalten-Können grundlegende künstlerische Strategien von Angela Alves sind. Für die Zuschauer*innen im Web-Space entfaltet sich hier keine Utopie, sondern der Versuch, Barrierefreiheit nicht als Bonus, sondern als integrativen Bestandteil der Show selbst zu verstehen: Audiodeskription, Gebärdensprache, Zugang für Screen­reader und eben auch die Möglichkeit, vom Bett aus teilzunehmen. Natürlich ist das Versprechen von Inklusion eines, das sich nie vollkommen einlösen kann – trotzdem ist es einen Versuch wert, nach den Sternen zu greifen.
Während der letzten zwei Monate, zwischen unzähligen Stunden im Zoom-Proberaum, vor geteilten Bildschirmen und zwischen Übersetzungsschleifen, habe ich mich nicht selten an eine bis dahin unerfüllte Kindheitssehnsucht erinnert: Einmal durch Marijke Amados Zauberkugel gehen! (Eine Referenz auf die Fernsehsendung „Mini Playback Show“, die von 1990-1998 auf RTL zu sehen war und bei der Kinder bekannte Hits der Zeit interpretierten. Der „Gang durch die Zauberkugel“ markierte hier die Verwandlung zum jeweiligen Star.) Die Wohnzimmer der Performer*innen haben sich zu kleinen Sendestationen verwandelt, der Eintritt in den „NO LIMIT“-Kosmos markiert die Schwelle zu einem phantastischen Raum.
Wenn sich die Performer*innen am Ende vor ihren bloßen Greenscreens versammeln (die Hände neben dem Kopf erhoben, tanzende Finger und Handgelenke – die Gebärde für Applaus), ist der Vorhang gefallen und einige Zuschauer*innen fragen sich vielleicht noch immer, ob sie selbst während der letzten 75 Minuten eigentlich zu sehen waren. Statt Sektempfang im Theaterfoyer wird jetzt die Chatfunktion für das Publikum aktiviert und das ist der Moment, in dem sich doch etwas wie Gemeinschaft herstellt: Komplimente, Applaus, kurze Feedbacks oder der Ruf nach Zugabe. Einmal läuft die Katze der Showmoderatorin Athina Lange durchs Bild, eine neue Qualität von ‚Backstage‘, und wenn Angela sich noch einmal bedankt und die letzten Chatgäste verabschiedet, fühlt es sich wirklich noch nach einer „richtigen Premiere“ an. Konfettireste zwischen Dielen überdauern als reale Spuren einer virtuellen Theatervorstellung.  

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