Kachelkurs statt Körper in Kontakt
Wie unterrichtet man Tanzstudierende, wenn Abstandsregeln zu beachten und gemeinsame Studiozeiten nur eingeschränkt möglich sind? Die Professorin im Master-Studiengang Choreographie Susanne Vincenz berichtet vom derzeit alltäglichen Ausnahmezustand am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin (HZT).
Text: Susanne Vincenz
Gastprofessorin im Master-Studiengang Choreographie des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin (HZT)
1. Lockerungsstufe
Mikro an. Mikro aus. Irritiert vom Geruckel auf dem Bildschirm. Fünfzehn Kacheln, aus jeder wuchert eine Vielzahl von Informationen. Gesichter mit Augenpaaren, die sich in jede Richtung bewegen, manche huschen von rechts nach links, andere scheinen den Bildschirm abzutasten. Das ganze Fenster ist gefüllt mit zappelnden Handpuppen, ein Flickenteppich aus Bewegungen. Es ist mein erstes Zoom-Meeting, und dies ist der Auftakt zu einem digitalen Semester am HZT nach dem Shutdown. Aber wie soll das gehen? Wie kann man Tanz und Choreografie digital unterrichten, wie gemeinsam proben, ohne im gleichen Raum zu sein? Wie begegnet man einander digital in einer Kunstform, die von Kontakt, gegenseitiger Wahrnehmung und Kopräsenz abhängt?
Geplant waren im aktuellen Sommersemester unter anderem die Abschlussarbeiten des Master Choreographie (maC). Sollen sie nun trotzdem realisiert werden?, fragen wir uns. Eventuell ohne Zuschauer*innen? Wir Lehrenden und die Studierenden brauchen einige Zeit, um zu verstehen, dass die Abschlussarbeiten nicht stattfinden können. – Die Studierenden im ersten maC-Jahrgang wären bei den Potsdamer Tanztagen der fabrik Potsdam zu Gast gewesen und hätten dort im Stadtraum ortsspezifische Arbeiten entwickelt. Auch das fällt aus.
Während andere Studiengänge das Medium wechseln und digital unterrichtet werden können, ist die physische Anwesenheit Voraussetzung für dieses Studium.
Jetzt also Zoom. Die Studierenden werden über ihre Ansätze und Arbeiten sprechen können, darüber, was sie im Kopf entwickeln, allein in ihren Wohnungen. Was mich an den Choreografen Amir Anjavi Amiri in Teheran erinnert, für den diese Arbeitsweise Alltag ist: Er entwickelt seine Choreografien im Kopf bis in die letzte Bewegung hinein, und das hat, wie Amir sagt, nicht nur damit zu tun, dass es keine Studios oder anderen Räume für den Tanz gibt und die Proben so schwer zu organisieren sind. Die Proben sind dann ganz kurz und nur die Umsetzung dessen, was er sich schon ausgedacht hat. Für uns ist es nicht denkbar, so zu arbeiten. Kann man sich Bewegung vorstellen? Kann man diese Imagination trainieren?
Statt also gemeinsam eine Arbeit im Stadtraum von Potsdam zu entwickeln, werden die maC-Studierenden je ein Solo erarbeiten, bei sich zuhause. Eine Bewegungsrecherche auf engstem Raum, eine Reise durch das eigene Zimmer. Die Zimmerreise ist ein literarischer Topos, ein Genre, das ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert Bezug nahm auf die Reisebeschreibungen als große Erzählungen von der Entdeckung der Welt. Die Zimmerreise war eine Hommage an die Einbildungskraft des Individuums als Kapitän*in einer Nussschale auf den Wogen des Teppichs.
2. Lockerungsübung
Anders als die historischen Zimmerreisen haben die Home-Soli der Studierenden Zuschauer*innen – allerdings nur, wenn eine Kamera ins Spiel kommt. Und darüber denken wir gemeinsam nach: Was ist dieser Kamerablick? Ein Spion oder eine Partnerin? Als Begleitprogramm veranstalten wir eine Lecture-Reihe mit Videokünstler*innen und Filmemacher*innen, die sich mit Tanz und Bewegung beschäftigt haben. Deren künstlerisches Spektrum reicht von Video auf der Bühne in Live-Formaten bis zu improvisierten Sessions, in denen die Kamera eine Mitspielerin wird und selbst Bewegung generiert. Diese besondere Verbindung von Bewegung und Kamera gab es schon im frühen Kino, bei Germaine Dulac und Maya Deren, deren Filme wir wiederentdecken.
In ihren digitalen Skizzen gehen die Studierenden ganz unterschiedliche Wege: Manchmal wird die Kamera als Gegenüber gedacht und es entsteht eine Art Duett, manchmal generiert sie die Bewegung und choreografiert Objekte im Raum. Bei etlichen Arbeiten ist der Entzug der Physis ein Thema, die verordnete Zweidimensionalität.
Rocio Marano, die es zu Semesterbeginn nicht nach Berlin zurück geschafft hat und die deswegen lange in der kleinen Stadt Blanca in Spanien festsaß, filmt die Menschen auf den Dächern, die durch die Ausgangssperre zu Hotspots der alltäglichen Beschäftigungen geworden sind. Kontrastiert werden die dokumentarischen Bilder von einer somatischen Recherche zum Gähnen: mit dem Versuch, diese unwillkürliche Reaktion durch das bewegte Bild zu initiieren.
3. Lockerungsvorstoß
Für uns alle ist das neu und eine Erfahrung, welche wir durch die noch vor kurzem undenkbaren Restriktionen gemeinsam machen. Viele dieser neuen Erfahrungen sind ambivalent und auch nur erträglich, weil sie zeitlich limitiert sind. Das HZT hat viele Studierende, die kürzlich aus dem Ausland nach Berlin gezogen sind, und für manche ist die Situation schwierig: Die Jobs, mit denen sie sich finanzieren, sind weggebrochen; die finanzielle Hilfe von zuhause, wo die Pandemie ebenfalls zu Einbrüchen geführt hat, ist eingestellt; zum Teil sind sie in Berlin noch nicht oder noch nicht gut angekommen und dadurch vereinzelt. Um erste Härten abzufangen, gibt es einen Spendenaufruf am HZT, doch auch langfristig wird es schwierig bleiben. Der Einstieg in die Arbeitswelt wird kompliziert, und Aufführungsmöglichkeiten werden für die Studierenden, wie für alle aus dem Feld, in einer ohnehin schon prekären Situation erschwert.
Auch wenn wir im Team mit Neugier reagiert haben auf die Frage, wie man digital unterrichten kann, sind jetzt unsere Kapazitäten erschöpft. Unbefriedigend ist die Situation, dass aus dem dreidimensionalen Denken ein zweidimensionaler Chat wird, aus dem Dialog ein Austausch von Statements, die häufig eine Unvereinbarkeit suggerieren – die Zwischentöne und die shadow movements fehlen beim Zoomen, die non-verbale Kommunikation entfällt. Es wird steiniger: Ein Gedanke ist wie ein Zelt, aber eine Meinung ist ein Betonklotz, sagte Christoph Schlingensief. Die Videobilder erstarren, verzerren, das Medium verändert das Sprechen, da können wir die Zoom-Plattform noch so sehr ortsspezifisch erkunden. Es gibt für die Präsenzlehre keinen Ersatz durch Online-Formate. Die Übergangslösung droht zudem zur Dauereinrichtung zu werden: Mit dem Digitalunterricht lassen sich Kosten einsparen. An britischen und US-amerikanischen Universitäten zeichnet sich ein Rückzug der Lehre aus dem realen Raum in Post-Corona-Zeiten bereits ab.
Worüber wir häufig sprechen: Wie die Pandemie die soziale Choreografie im Stadtraum verändert und wie rasend schnell wir uns angepasst haben. Noch vor kurzem schienen die Bilder aus Asien nicht übertragbar in unsere Gegenwart: Menschen mit Masken, die in der U-Bahn Abstand halten; Zickzack umeinander statt Berliner Rempelei. Wir alle sind Teil einer Feldstudie in der Adaption von Bewegungsmustern: Was Normalität ist, wird vor dem Hintergrund dieser Anpassung und ihrer Geschwindigkeit neu zu verhandeln sein.
Präsenzunterricht wird es in diesem Sommersemester nicht mehr geben. Probenbesuche können unter der Auflage wieder stattfinden, dass sechs Meter Abstand zwischen Beweger*in und Beobachter*in eingehalten werden. Falls wirklich auch das kommende Wintersemester digital stattfinden sollte – und diese Entscheidung nicht nur dem Stand der Covid-19-Infektionen geschuldet ist –, sollte sich das „Zoom politikon“, das kontaktlose und entgesellschaftete Einzelwesen, aufmachen und einen Lockerungsvorstoß provozieren.
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