Das Dazwischen denken
Matthias Mohr möchte das Radialsystem stärker als Ort für die zeitgenössische Berliner Tanzszene etablieren
Als Dramaturg für Musiktheater und Tanz hat Matthias Mohr bei der Ruhrtriennale und dem Choreographischen Zentrum NRW PACT Zollverein gearbeitet, bevor er im Juli 2018 als Programmleiter ans Radialsystem wechselte. Dort, an dem von Jochen Sandig und Folkert Uhde gegründeten und 2006 eröffneten Veranstaltungsort, soll künftig neben experimenteller Musik auch mehr zeitgenössischer Tanz gezeigt werden; zwei Kooperationsprojekte haben Anfang 2019 Premiere. Was Matthias Mohr künstlerisch interessiert und wie er das Radialsystem im Gefüge der Berliner Tanzlandschaft verortet, hat er tanzraumberlin erzählt.
Elena Philipp
Im Frühjahr 2018 erwarb das Land Berlin die Immobilie Radialsystem, um einen Kulturstandort langfristig zu sichern. Erstmals erhielt das Radialsystem auch eine infrastrukturelle Förderung des Senats; damit sollte das Proben und Aufführen für Berliner Künstler*innen erschwinglicher werden. Quasi zeitgleich wurden Sie von der Leitung ans Radialsystem berufen – ein Haus ohne eigenen Produktionsetat. Zu zwei Dritteln finanziert es sich noch immer über Vermietungen. Das heißt, Ihr Programm folgt, ähnlich wie das der Sophiensæle und teils auch des HAU Hebbel am Ufer, der Logik des ‚Drittmittelkuratierens’?
Matthias Mohr: Ja, wir sind komplett von Drittmitteln abhängig. Wir können nicht koproduzieren, sondern unterstützen die Anträge von Einzelkünstler*innen beim Senat oder dem Hauptstadtkulturfonds. Außerdem kooperieren wir mit anderen Institutionen und Festivals: Ende Januar zeigen wir gemeinsam mit dem Maxim Gorki Theater "tongue twisters" von Modjgan Hashemian und im Februar Sergiu Matis’ "Hopeless", in Kooperation mit der Tanzfabrik Berlin. Durch die internationale Ausstrahlung, die das Radialsystem als Produktions- und Spielort der Kompanie Sasha Waltz & Guests gewonnen hat, können wir den Künstler*innen noch einmal eine andere Plattform und Rahmung bieten.
Kannibalisieren Sie nicht das Programm anderer Spielstätten, wenn Sie am Radialsystem jetzt teils die gleichen Künstler*innen präsentieren?
Matthias Mohr: Der Wechsel von Künstler*innen zwischen den Häusern ist gängig und die Berliner zeitgenössische Tanzszene ist reich ausgestattet mit künstlerischen Positionen, denen die Aufführungsmöglichkeit fehlt. Die aus Künstler*innensicht luxuriöse Situation, dass sich die Berliner Institutionen in die Quere kämen, liegt in weiter Ferne. Bedarf für einen dritten Tanzort mittlerer Größe neben HAU und Sophiensælen gibt es schon lange. Mit den Leitungen der anderen Häuser, die jeweils auch unterschiedliche ästhetische und thematische Schwerpunkte setzen, sind wir in einem offenen kollegialen Austausch, und wir sind überzeugt, dass sich eine organische Zusammenarbeit ergibt.
Welchen künstlerischen Schwerpunkt möchten Sie setzen?
Matthias Mohr: Das Transdisziplinäre ist am Radialsystem seit Beginn verankert. Primär wird es also um die Berührung von Tanz mit anderen Kunstformen gehen, insbesondere mit der Musik. Mich interessiert das Dazwischen, das Zusammenspiel von Körper, Raum, Klang und Denken und das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Systeme – die unauflösbaren, aber produktiven und sinnlich erfahrbaren Spannungen, die dadurch entstehen. Die Wechselwirkung von Bewegung und Sprache etwa spielt sowohl bei Sergiu Matis als auch Modjgan Hashemian eine entscheidende Rolle, führt aber zu unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen.
Derzeit wird über die Notwendigkeit eines Tanzhauses für Berlin diskutiert. Macht es Sinn, verstärkt auf Tanz zu setzen, wenn das Radialsystem baulich dafür gar nicht in Frage kommt?
Matthias Mohr: Ein Tanzhaus wird es, selbst wenn sich Berlin dafür entscheidet, frühestens in einigen Jahren geben. Bis dahin muss etwas passieren. Es gibt hier zu wenige produzierende Häuser und kaum Residenzen oder Forschungsstipendien. Hier können und möchten wir tätig werden. Das Radialsystem wird aber auch weiterhin ein wichtiger Ort für die Musik bleiben.