Ausgabe September-Oktober 2023

Permanente Gefängnisausbrüche

Kanon, Anti-Kanon und Somatics

Somatics fallen to the ground. Credit: Lilly Pöhlmann

Wie zeigt sich der Tanz-Kanon in der Praxis, und welche kanonisierten Körper werden im Ausbildungskontext vermittelt? Anna Chwialkowska berichtet von ihren Erfahrungen mit somatischen Praktiken innerhalb ihrer tänzerischen Ausbildung, und von den Grenzen an die sie gestoßen ist.

Text: Anna Chwialkowska
Kultur- und Sozialanthropologin, Dramaturgin, Tänzerin

 

Was ist der Tanzkanon? Bewegt sich der Tanzkanon? Und wenn ja, wie? Welche Bewegungsqualität hat er? Ist er dicht? Multidirektional? Schüttelt er oder schwebt er? Contract und Release? Was weiß er über Partnerschaften? Kann er sich wie ein Oktopus bewegen, mit sich unabhängig voneinander bewegenden Gliedmaßen? Benutzt er seinen peripheren Blick? Und sind diese Fragen nicht bereits Teil eines Kanons, der mir beigebracht wurde? Seit mehr als einem Jahr begebe ich mich auf eine autoethnografische Reise und erforsche (meist informelle) Trainingsumgebungen für zeitgenössischen Tanz. Ich begann zu untersuchen, was zeitgenössische Tanzpraktiken lehren, vermitteln, einbeziehen und auslassen, kurzum: was sie derzeit an einem so heterogenen und zugleich privilegierten wie prekären Tanzstandort wie Berlin vorgeben zu sein.

Es sind seltsame Zeiten für Tanzstudierende. Bevor ich den Kanon kannte, lernte ich den Anti-Kanon kennen. Während eines zehnmonatigen Intensivprogramms für zeitgenössischen Tanz führten meine Versuche, irgendeine Technik zu erlernen (z.B. Ballett oder was auch immer sonst als klassischer dominanter Tanz gilt), immer in eine Sackgasse. Es war einfach nicht Teil des Lehrplans. Zugegebenermaßen war ich auch ein wenig faul, um neben dem Pflichtprogramm noch zusätzliche Ballettstunden zu belegen. Aber es würde mich auch niemand wirklich dazu motivieren, es zu lernen.

Während des Programms hörte ich die Dozent*innen mehr als einmal sagen, dass das, was professionelle Tänzer*innen tun, ungesund für ihren Körper ist, und dass es unsere Priorität sei, uns um unseren Körper zu kümmern. Was im Unterricht folgte, waren minimale Bewegungssequenzen und somatische Ausdauerübungen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt, konnte es aber nicht in Worte fassen. Dieses Jahr kam ich in Form von zwei Offenbarungen zu einer Antwort auf dieses Gefühl.

Offenbarung 1: Ich beobachtete, wie ein Choreograf, der normalerweise mit professionellen Tänzer*innen arbeitet, einen Workshop für eine Gruppe erschöpfter Tanzstudierende im Grundstudium leitet. Als Aufwärmübung schlug er eine Bewegungsmeditation im Stehen vor, bestehend aus einem gründlichen Körperscan, der die Konzentration auf das eigene Innere und auf minimalste Bewegungen erfordert. Professionelle Tänzer*innen sind dankbar für derartige Praktiken, die sich jeglichem Anspruch an Virtuosität entziehen – die Studierenden konnten es jedoch kaum ertragen. Einige von ihnen setzten oder legten sich wenige Minuten nach Beginn der Übung auf den Boden. Einige begannen, sich auf nach außen gerichtete Bewegungen einzulassen, obwohl dies nicht Sinn der Übung war. Als der Choreograf am nächsten Tag mit der gleichen Übung beginnen wollte, fragte eine*r der Studierenden unverblümt: „Haben Sie noch einen anderen Vorschlag, etwas das sich nicht wie ein Gefängnis anfühlt?“ Lustigerweise sollen somatische Praktiken genau das Gegenteil bewirken: nämlich den tanzenden Körper von den Zwängen befreien, die ihm durch Techniken auferlegt werden. Obwohl es sich um wichtige ergänzende Praktiken für professionelle Tänzer*innen handelt, scheint es für Menschen, die gerade erst einen Fuß ins Studio gesetzt haben, eher schwierig zu sein, diese Art von „Freiheit“ in der somatischen Praxis zu finden.

Offenbarung 2: Als ich universalisierende Konzepte darüber las, was ein „natürlicher“ Körper im somatischen Tanztraining ist (Doran George 2020), verstand ich, dass sich der Großteil meiner Ausbildung direkt oder indirekt auf genau diese Prinzipien stützte. Insofern denke ich, dass auch somatische Praktiken, die vermeintlich „gesunde“ und „natürliche“ Bewegungsformen beihalten und oft auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, als Kanon betrachtet werden können. Georges Buch mit all den Informationen darüber, wie Somatics Practitioner des frühen 20. Jahrhunderts (zum Beispiel F. M. Alexander) ihre Praktiken konzipierten, machte mich schwindelig. Von der Evolutionstheorie bis hin zu Ideen von „primitiven Geistern“ ist alles zu finden, und neben Beispielen wie Kinder und Tiere werden auch „nichtwestliche Stammesvölker“ als eine Art Idealisierung einer „vorkulturellen“ Bewegung herangezogen. Viele dieser frühen Ideen haben es geschafft, die „Erinnerung an rassistische und eugenische Rhetorik in Bezug auf Somatics des frühen 20. Jahrhunderts wegzuwaschen, als ob sie für dauerhafte Erkenntnisse irrelevant wäre“ (George 2020).

Um nicht falsch verstanden zu werden: Somatics haben mir sehr dabei geholfen, meinen Körper über das Tanztraining hinaus zu verstehen und über ihn zu sprechen. Ich frage mich allerdings, warum dieser Aspekt der Geschichte nicht Teil des Lehrprogramms im Tanz-Studium ist.

 

 

BIBLIOGRAPHIE

George, Doran (2020) Der natürliche Körper im somatischen Tanztraining. Oxford: Oxford University Press.

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