Ausgabe September-Oktober 2023

Zwischen Tradition und Zukunft

Christian Spuck. Foto: Maria Cheilopoulou

Christian Spuck übernimmt mit Beginn der Spielzeit 2023/24 als neuer Intendant die Künstlerische Leitung des Staatsballetts Berlin. Zum Auftakt seiner ersten Saison sprach tanzraumberlin-Redakteurin Johanna Withelm mit ihm über den Spagat zwischen Erbe und Neuausrichtung, den Umgang mit problematischem Ballett-Erbe und seine Inszenierung Bovary, die im Oktober uraufgeführt wird. Wir treffen uns noch vor der Sommerpause, an einem warmen Tag im Juni im Konferenzsaal der Deutschen Oper.

Interview: Johanna Withelm

 

Unsere Gesellschaft befindet sich momentan in diversen Transformationsprozessen. Wie gehen Sie als neuer Ballett-Intendant in Berlin mit der Spannung zwischen Tradition und Neuausrichtung um?

Christian Spuck: Ich denke das Neue kann nur entstehen, wenn es ein Bewusstsein für die Tradition gibt. Wir sollten traditionelle Werke immer wieder auf den Prüfstand stellen. Beim Nussknacker und bei La Bayadère gibt es heute zum Beispiel Schwierigkeiten mit dem kolonialen Erbe, da ist es wichtig, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Diese Herausforderung finde ich spannend und zukunftsweisend. Außerdem ist es wichtig, auch mal Schritte ins Unbekannte zu wagen, nur dann kann etwas Neues entstehen.

Mir scheint, dass es in der Ballettwelt eine starke Hinwendung zum Erbe und zur Tradition gibt. Warum ist es so schwierig, problematische Werke loszulassen und damit Platz für Neues zu schaffen?

CS: Dinge loszulassen schafft in meinen Augen keinen Platz für Neues, das ist ein Irrglaube. Ich finde, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insbesondere wenn sie problematisch ist, nur bereichernd und notwendig ist, denn wir müssen aus den Erfahrungen lernen. Ein gutes Beispiel ist Das Frühlingsopfer von Pina Bausch, ein Meisterwerk. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage: Ist das noch zeitgemäß? Und wenn die Antwort ‚nein‘ lautet, was ist dann die Konsequenz: Das Werk vom Spielplan streichen? Oder es unkommentiert stehen lassen? Ich denke, wir brauchen vor allem den Diskurs darüber.

Das heißt, ältere Werke mit beispielsweise rassistischen Inhalten nicht mehr aufzuführen, käme für Sie nicht in Frage, aber die Auseinandersetzung darüber sollte stattfinden. Auch innerhalb einer Inszenierung?

CS: Jedes Werk muss für sich betrachtet werden hinsichtlich der Frage, ob eine historische Rekonstruktion denkbar ist und welchen Mehrwert das hat. Oder ob eine zeitgenössische Interpretation sinnvoller wäre. Wir würden beispielswiese keine Originalfassung von Petruschka aufführen, da hier die rassistischen Inhalte so omnipräsent sind, dass eine Kontextualisierung zu schwach wäre. Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, wie das Staatsballett Berlin in der vergangenen Spielzeit mit der Problematik dieses Werks umgegangen ist, so kann man sich die Inszenierung anschauen und trotzdem genießen. [Anm. d. Red.: Das Staatsballett präsentierte im Juni 2023 einen Strawinsky-Abend mit Petruschka von Marco Goecke und Das Frühlingsopfer von Pina Bausch. Im Programmheft gab es einen Text der Tanzwissenschaftlerin Hanna Järvinen über stereotypische Darstellungen in den Ballets Russes, außerdem wurde die Problematik in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit externen Expert*innen thematisiert.]

Im Jahr 2018 hat es am Staatsballett eine historische Rekonstruktion von Petipas La Bayadère von Alexander Ratmansky gegeben, in der die Exotismen der Entstehungszeit reproduziert wurden. Wird es unter Ihrer Leitung historische Rekonstruktionen geben?

CS: Momentan ist keine historische Rekonstruktion vorgesehen. Falls wir in Zukunft wieder Rekonstruktionen von Werken mit problematischen Inhalten inszenieren, werden wir sehr darauf achten, entsprechend damit umzugehen und einen Diskurs darüber zu führen.

In den letzten zwei Jahren fand am Staatsballett die öffentliche Diskursreihe Ballet for Future statt, in der Repertoire, Kanon und Praxis des klassischen Balletts hinterfragt wurden. Wird es in Zukunft weitere Diskursformate dieser Art geben?

CS: Ja, es wird die Diskursreihe Forum zu gesellschaftspolitischen Themen sowie das Format Ballettgespräch mit Künstlerinnen und Künstlern geben. Wir werden den Prozess, den Christiane Theobald mit Ballet for Future angestoßen hat und den ich als sehr wertvoll empfinde, weiterführen.

Wie gehen Sie mit dem Ballettkanon als russisches Kulturerbe nach dem Überfall auf die Ukraine um?

CS: Den Überfall auf die Ukraine verurteile ich zutiefst. Ich selbst habe 2021 am Bolschoi Theater in Moskau die Produktion Orlando erarbeitet, die sich mit dem Wandel der Geschlechterrollen beschäftigt. Mittlerweile ist die Produktion vom Spielplan gestrichen worden, weil sie nicht mehr den Vorstellungen der russischen Regierung entspricht. Das russische Kulturgut und der Kulturaustausch mit Russland werden momentan von der Regierung zerstört. Das ist bitter und traurig für das Ballett und für die vielen russischen Künstlerinnen und Künstler, die darunter leiden.

Am 20. Oktober findet die Uraufführung des von Ihnen choreografierten und inszenierten Tanzstücks Bovary statt, nach dem im Jahr 1856 erschienenen Roman von Gustave Flaubert. Was interessiert Sie an dem Stoff?

CS: Mich fasziniert dieses Werk schon lange, es ist ein Meilenstein der Literatur und erzählt uns zugleich viel über die heutige Zeit. Die Hauptfigur Emma steckt in einem tiefen Konflikt und weckt sowohl Sympathie als auch Antipathie, das macht sie als Figur so spannend. Für die Sehnsucht nach einem intensiveren Leben gibt sie alles und verschuldet sich gnadenlos, wird ausgenutzt und scheitert natürlich komplett. Dieser Wunsch, jemand anderes sein zu wollen, sich aus der Realität wegzuträumen, findet sich heute noch immer. Wenn man bedenkt, wie sehr sich Menschen heute auf Instagram auf befremdliche Weise inszenieren und mit unzähligen Filtern versuchen, die Realität zu verändern, um einem Schönheitsideal zu entsprechen.

In der Geschichte geht es ja auch um weibliche Selbstbestimmung – welchen Zugriff haben Sie auf das Thema?

CS: Ich habe in der Vergangenheit schon viele weibliche Figuren inszeniert und mich mit großen Frauenfiguren auseinandergesetzt. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, eine Figur festzulegen, sondern erforsche diese gemeinsam mit der Darstellerin, die eine Frau ist. Das ist ein wechselseitiger Prozess, den ich zwar anleite, dabei aber auch selbst viel lerne.

Wird es unter Ihrer Leitung neben dem klassischen Ballett auch wieder einen Schwerpunkt zeitgenössischer Choreografie geben?

CS: Das Programm ist darauf ausgerichtet, was Ballett heute sein kann. Ich freue mich sehr darüber, dass Marcos Morau im Rahmen unseres Artist-in-Residence-Programms in dieser Spielzeit regelmäßig mit dem Ensemble arbeiten wird. Ich finde seine Arbeiten spektakulär, sie gehen für eine klassische Compagnie sehr weit. Marcos Morau versteht es, Begegnungen mit dem Unbekannten zu schaffen und die Tänzerinnen und Tänzer mitunter an ihre kreativen Grenzen zu bringen, sie im positiven Sinne zu fordern. Außerdem wird William Forsythe mit einer Premiere im Programm vertreten sein und es wird eine neue Kreation sowie eine Wiederaufnahme von Sharon Eyal geben.

Wie schätzen Sie das Publikum in Berlin ein?

CS: Ich habe hier sehr viele Vorstellungen gesehen und einen Tag werde ich nie vergessen: Staatsoper, Sonntag um 14 Uhr, Sharon Eyal. Ich dachte, um die Uhrzeit wird wohl kaum jemand kommen, jedoch füllte ein unerwartet buntes und junges Publikum die Staatsoper bis unter das Dach. Es gibt aber auch ein großes Publikum für Giselle, Schwanensee und Dornröschen, diese Abende sind ebenfalls immer ausverkauft. Ich denke, dass sich diese beiden Pole gegenseitig inspirieren können. Diese bunte Vielfalt ist ja das Schöne an Berlin.

 

 

Bovary

Choreografie und Inszenierung: Christian Spuck

Uraufführung: 20. Oktober 2023

Weitere Vorstellungen: 24., 27., 30. + 31. Oktober 2023

www.staatsballett-berlin.de

 

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