Ausgabe Mai/Juni 2020

Editorial

Tanz ist widerstandsfähig – und unverzichtbar

"LOSS" © Dorothea Tuch (www.dorotheatuch.de)

Liebe Leser*innen,
Tanz findet derzeit nicht statt. Covid-19 ist für die Kunst der körperlichen Kopräsenz eine unüberwindliche Klippe, aktuell zumindest für Vorstellungen auf der Bühne und vor Publikum. Was bedeutet die erzwungene Auszeit für Tänzer*innen, Choreograf*innen und Spielstätten?

Gefragt haben wir das mit Beginn des Corona-Shutdowns Mitte März. Meistenteils gefasst begegnen die Antwortenden der Situation, viele suchen nach einem kreativen Umgang mit ihr – obwohl die Einnahmeausfälle nicht selten existenzbedrohend sind für freie Künstler*innen, die im Tanz besonders oft prekär beschäftigt sind. Pointiert fasst das der Tänzer und Choreograf Jochen Roller in seinem Statement auf Seite 10 zusammen.

Einigen Tanzschaffenden hat die Soforthilfe II des Berliner Senats vorerst über Liquiditätsengpässe hinweg geholfen. Andere, die sich nicht früh genug um die Landeshilfe bewarben, sind leer ausgegangen. Das nachfolgende Bundesprogramm fördert (Stand April) lediglich Betriebskosten, die bei freien Tanzschaffenden selten anfallen. Auch für (Tanz-)Orte wird die Lage Woche für Woche enger: Wo Kurse gegeben werden, bricht der Umsatz ein, und Planungen für die kommenden Monate sind schwierig – wer weiß, wann wieder wirklich geprobt geschweige denn vor Publikum gespielt werden kann? Entscheidend ist die Frage gemeinsamen Trainings beispielsweise für das Ensemble des Staatsballett Berlin, das sich zuhause fit halten muss, wie die Erste Solotänzerin Ksenia Ovsyanick auf Seite 17 berichtet.

Ob der Kultur in Berlin und insbesondere der wenig institutionalisierten Tanzszene durch den Corona-Shutdown eine Flurbereinigung droht, die Vielfalt kostet, hängt von den Öffnungs-Szenarien und wesentlich vom Handeln der Politik ab. Trotz unklarer Zukunftsaussichten aber erweist sich die Kunst in der Corona-Krise nicht nur als systemrelevant – wie ließe sich #stayathome ertragen ohne Musik, Literatur oder (Tanz-)Filme? – und sie ist resilient, das zeigen die allerorten sprießenden Digitalformate. Christine Matschke hat sich einige Online-Angebote angesehen, u.a. von Sasha Waltz & Guests, deren Werkschau an der Volksbühne im April hätte stattfinden sollen, und der cie. toula ­limnaios, die ihre für Ende April geplante Premiere „broken mirror“ im Mai zwar zeigen wird, aber nicht live auf der Bühne.

Unterkriegen lässt sich Berlins Tanzszene also nicht. Spielräume für den Tanz während der Schließzeit erkundete Alexandra Hennig Ende März im Skype-Interview mit Gabi Beier, Leiterin des ada Studio. Kritische Gedanken über die auch von Privilegien bestimmten Voraussetzungen für Kunst machte sich Susanne Foellmer: Die Corona-Pandemie trifft alle. Wie unterschiedlich aber die Räume sind, in denen die Weltgemeinschaft die Krise aussitzt oder ihr ausgesetzt ist, überlegte die Tanzwissenschaftlerin in ihrem Essay, der Mitte April entstanden ist.

„Ins Flache des Bildschirms“ verlagert sich die Kultur dieser Tage, schreibt Susanne Foellmer im Anschluss an die Philosophin Sybille Krämer. Einer der Programmpunkte, den die Corona-Krise aus dem öffentlichen Raum verbannt, ist das Festival Unacknowledged Loss des HAU Hebbel am Ufer. Für Juni war der zweite Durchgang des bereits 2017 den Umgang mit Trauer und Verlust thematisierenden Forschungsfestivals geplant. Über den Zusammenhang von Verlust, Kunst und Ritual schreibt die Kuratorin und Trauerbegleiterin Barbara Raes in ihrem Essay. Im Interview, das von Mitte April datiert, wendet sie sich der aktuellen Situation zu: Welche Rituale brauchen wir, als Individuen wie als Gesellschaft, um die Ereignisse zu verarbeiten?

Wir von tanzraumberlin halten das Ritual des zweimonatlichen Erscheinens aufrecht. Das Herzstück des Magazins, der Tanzkalender, ist diesmal allerdings nur eine Minimalvariante: Bis Ende Juli findet definitiv kein Bühnenprogramm statt. Digitale Angebote verzeichnet die Web-Version des Tanzkalenders. Ausschließlich digital erscheint auch das Magazin – erstmals wird es nicht gedruckt, denn die Orte, an denen es sonst ausliegt, sind geschlossen.

Kreativ genutzt haben wir diese Einschränkung insofern als unser Graphiker Benjamin Gutzler viele Seiten mehr ins Heft gehoben hat: Raum für eine Fotoserie. Dorothea Tuch, die insbesondere am HAU Tanz fotografiert, hat sieben Aufnahmen aus ihrem Archiv zur Verfügung gestellt*, die sich für sie mit Einsamkeit verbinden: Alle Abgebildeten sind in sich gekehrt, niemand sucht ein Gegenüber, wie sie schreibt. Ambivalent ist ihre Haltung, der derzeitigen Situation entsprechend – zwischen Melancholie und Kampfgeist, Zukunftssorgen und Hoffnung.

Wird die Tanzlandschaft nach dem Shutdown „Phönix-aus-der-Asche-mäßig“ wiederauferstehen, wie es der Intendant des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, für die (allerdings öffentlich geförderten) Theater prophezeit? Dafür müssen sich alle Akteur*innen und insbesondere die Kulturpolitik weiterhin stark machen. Wie sagte Senator Klaus Lederer in einem Interview Mitte April: „In einer Stadt wie Berlin ist die Hilfe für die Kultur Selbsterhaltung.“ Das unterschreiben wir.

Gutes Durchhalten und sonnige Gedanken wünscht Ihnen und Euch

Elena Philipp

*Die Fotos der Serie können käuflich erworben werden, in einer signierten 20er-Edition, bis Ende Juli 2020. Kontakt zu Dorothea Tuch via E-Mail oder Telefon.

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