edition November / December 2021

Ort der Begegnung

deufert&plischke über die Kraft des Neubeginns und Räume für Kunst jenseits der urbanen Zentren.

deufert 6 plischke, "Family Studies" © deufert & plischke

In Berlin haben sie einen Großteil ihrer Arbeiten entwickelt und gezeigt, hier wurden ihre Kinder geboren: Kattrin Deufert und ­Thomas Plischke, zusammen der Künstlerzwilling deufert&plischke, gehörten über Jahre fest zur hiesigen Tanzszene. Bis sie umzogen – von der Großstadt in eine mittlere Kreisstadt am Rand des Ruhrgebiets, aus dem Osten in den Westen Deutschlands. Wie gestalten sie diesen künstlerischen Neubeginn? Inwiefern ist er auch beispielhaft?

Text: deufert&plischke

Text: deufert&plischke

Vor etwas über einem Jahr sind wir aus dem Berliner Wedding nach Nordrhein-Westfalen gezogen, in die Altstadt von Schwelm – im Mai 2020, mitten im ersten Lockdown. Die Entscheidung für den Umzug wurde aber schon kurz vor dem Ausbruch der Pandemie getroffen. Über zehn Jahre hatten wir uns in Berlin und vor allem international ein Netzwerk aufgebaut, das sich in nachhaltigen und prozessbasierten transdisziplinären Projekten verwob. Wir haben unsere gemeinschaftlichen Arbeitsweisen mitgenommen nach NRW und in Schwelm Anfang 2021 mitten in der Fußgängerzone eine 150 Quadratmeter große Ladengalerie angemietet. Mit Hilfe der Fördergelder von Neustart Kultur konnten wir den Raum einrichten und nun entsteht in dieser Stadt erstmals und einzigartig ein Raum für Live Art und Performancekunst.

Gemeinsam arbeiten, lachen und träumen
Immer wieder wurden wir zuerst von Nachbar*innen und nun von Besucher*innen der Spinnerei Schwelm gefragt: Warum? Wie kommt es, dass ein international aktives Künstlerduo Berlin verlässt für eine mittelgroße Stadt im Bergischen Land? Vielleicht wissen wir selbst nicht die ganze Antwort, aber ein Teil steht fest: für mehr Kommunikation im Tanz und für den Aufbau eines lebendigen Kunst­ortes, an dem Leute gemeinsam Fragen stellen können, weil sie sich begegnen. Die Spinnerei versteht sich als Ort für prozessbasierte, experimentelle künstlerische Arbeit, an der Jede*r teilhaben kann. Das Kernteam besteht mittlerweile aus knapp zehn Leuten aus den Bereichen Tanz, Musik, Medienkunst, Design, Film, Dramaturgie und Produktion.
Der Name „Spinnerei“ in seiner Mehrdeutigkeit ist Konzept. Auch erinnert er an die vielen Projekte, die wir mit Freund*innen in Berlin und anderswo rund um die mythologische Figur der Arachne – der kopflosen Weberin, die zur Spinne wird, um ihre Kunst zu retten – veranstaltet haben. In der Spinnerei Schwelm wird Zeit verbracht ohne Konsumzwang, Menschen begegnen einander, um ihre Ideen einzubringen und kreativ umzusetzen, hier wird gemeinsam gearbeitet, geschrieben, genäht, gestrickt, gelacht, erzählt, verschoben, verrückt, geträumt, geatmet und gedacht. Und wenn es drinnen zu eng wird, gehen wir in wenigen Minuten den Berg hinauf in den Wald, um dort an der frischen Luft weiterzuspinnen.

Für ein kreatives Quartier mitten
in der Stadt
Kurze Wege und geringer Straßenverkehr eröffnen auch für Tanz und Choreografie ganz neue Möglichkeiten für Kunst im öffentlichen Raum. Die Spinnerei wird weniger Produktionsort sein, als temporär einen sozialen Austausch über die aktive Begegnung mit experimenteller Kunst zu ermöglichen. Wir sind überzeugt, dass sich im Zuge der Pandemie auch die darstellende Kunst neu orientieren muss, weg vom Konzept der regelmäßigen Produktion und Präsentation von Stücken hin zu offen gestalteten künstlerischen Prozessen, die sich den momentanen Bedingungen anpassen können.
Die Spinnerei liegt in der Innenstadt am Rande der Fußgängerzone, gegenüber befindet sich nicht nur ein großes Bankgebäude, sondern es wird gerade ein neues Kunstzentrum gebaut, in dem es Raum für eine Stadtbibliothek und für andere kulturelle Aktivitäten geben soll. In dieser unmittelbaren Nachbarschaft hoffen wir darauf, an einem kreativen Quartier mitzubauen, das es ermöglicht, mitten in der Stadt eine Alternative zu bieten zur Dominanz der Shopping-Aktivitäten. Wir wünschen uns Räume, in denen Menschen miteinander Zeit verbringen und in einem geschützten Raum eine soziale Nähe aufbauen können.
Für unser Eröffnungswochenende im September hatten wir vier Frauen eingeladen, zwei aus Berlin, eine aus Schwelm und eine aus Brüssel, die alle vor kurzem oder vor langer Zeit etwas Neues gegründet haben, die einen Neubeginn gewagt haben im kulturellen und sozialen Sektor, was ihr Leben komplett verändert hat. Alle vier Frauen konnten dadurch eine Praxis entwickeln, die es ihnen ermöglicht, etwas Einzigartiges mit anderen Menschen zu teilen, etwas, das nur sie können und sonst niemand. Diese Erfahrungen werden gebraucht – nicht nur in Schwelm: die Bereitschaft neu zu starten, Stadtgesellschaften mit zu entwickeln und Neues auch mit-, ver- und aufteilen zu können. Nicht nur unter den Insider:innen, sondern mit allen, die im Leben auch mal tanzen wollen.

www.spinnereischwelm.net

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