edition November / December 2021

Neues aus altem Stoff

Absetzen, umschreiben oder kritisch neu begutachten? Zum Umgang mit dem Ballettrepertoire.

Reden übers Repertoire bei der Diskussionsreihe "Ballet For Future? Wir müssen reden!": Black Pearl De Almeida Lima, Federico Spallitta und Arnd Wesemann (v.l.) © Staatsballett Berlin, Michael Hoh

Zeiten ändern sich, kollektive Verabredungen ebenso. Was einst en vogue war, möchte heute niemand mehr sehen. In der Kunst wird derzeit neu ausgehandelt, was auf den Bühnen als Abbild unserer Kultur zu sehen sein soll und was nicht mehr. Während der zeitgenössische Tanz auf Projekten und Neuentwicklungen beruht (auch, weil die Förderung zu wenig Kontinuität ermöglicht), trägt das klassische Ballett mit seinem Repertoire einigen Ballast an überkommenen Stoffen und Inszenierungsweisen mit sich. Beim Staatsballett Berlin ist man sich dieser Problematik bewusst. Nicht zuletzt aufgrund des Rassismus-Vorfalls, dem sich die Institution Anfang 2021 vor dem Bühnenschiedsgericht stellen musste: Eine Tänzerin wurde mehrfach aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert und ging damit an die Öffentlichkeit. Intern ist eine Aufarbeitung unter Beobachtung des Senats im Gange. In deren Zuge startete das Staatsballett jetzt auch eine Diskussionsreihe, „Ballet for Future? Wir müssen reden!“, bei der etliche derzeit heiße (Tanz-)Themen angepackt werden: Machtverhältnisse und Diskriminierung im Kulturbetrieb, die Ausbildungssituation oder die Gesundheit von Tänzer*innen. Bei der ersten Veranstaltung Mitte September ging es um den Umgang mit dem Repertoire. Als Diskutierende begegneten sich im Foyer de la Danse der Deutschen Oper die Kommissarische Intendantin des Staatsballett Berlin, Christiane Theobald, die Künstlerische Leiterin des Norwegischen Nationalballetts Oslo, Ingrid Lorentzen, die freie Tänzerin Black Pearl De Almeida Lima, ehemals Mitglied in Richard Siegals Ballet of Difference, der Staatsballett-Solist Federico Spallitta, der Tanzjournalist Arnd Wesemann sowie die Tanzwissenschaftlerinnen Gabriele Brandstetter und Mariama Diagne. Zugehört und im Anschluss mitdiskutiert haben Interessierte aus der Ballettschul-Szene, Wegbegleiter*innen der Ballett-Universität sowie Vertreter*innen von Dancers Connect, der Lobby für Bühnentänzer*innen. Die Tanzwissenschaftlerin Mariama Diagne und die tanzraumberlin-Redakteurin Elena Philipp verabredeten sich kurze Zeit später via Zoom, um einige der Themen und Fragestellungen aus der Veranstaltung weiterzudenken.

Text: Mariama Diagne mit Elena Philipp
Tanzwissenschaftlerin | Redakteurin

Wieso ist die Diskussion um das Ballettrepertoire so aktuell und warum muss sie zunehmend geführt werden? Divers sein ohne Sorge um das eigene Leben ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Der Mord an George Floyd und die #BlackLivesMatter-Proteste riefen im Sommer 2019 diesen Umstand deutlich ins Bewusstsein. Hierzulande waren es vor allem Kunstschaffende, die daran erinnerten, dass institutionelle, strukturelle Gewalt nach wie vor existiert. Von den Verhältnissen in den USA ausgehend, lenkten sie den Blick unmittelbar auf den eigenen Wirkungskreis, die Institutionen vor Ort. Wie steht es am eigenen Theater um den Missbrauch von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen?

Neue Solidarität und Gegenpositionen
Mit den Protesten wurden Publikationen aus dem Bereich der antidiskriminierenden Initiativen in öffentlichen Räumen und den sozialen Medien geteilt und diskutiert. Themen wie Rassismus, institutionelle Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Alter und körperlichen Einschränkungen in ihrer Relation wurden zueinander perspektiviert. Morde an Individuen ließen sich nicht mehr als Einzelfall bedauern, sondern mussten als weitere Beispiele eines gesamtgesellschaftlichen Grundproblems anerkannt werden. So haben viele Kulturinstitutionen Solidarität gezeigt, auch jene – und das ist neu –, die selbst nicht betroffen waren.

Im Frühjahr 2021 gab es weitere konkrete Sexismus- und Rassismusvorfälle an Theatern wie der Volksbühne Berlin oder dem Schauspielhaus Düsseldorf. Dort ist im Zuge der Auseinandersetzung auch ein Offener Brief des Kollektivs AfroKultur erschienen, in dem als solidarische Reaktion eine eigene Bühne für ein diskriminierungsfreies Arbeiten Schwarzer Künstler*innen in NRW gefordert wurde.

Zeitgleich, antwortend, entwickelten sich Gegenpositionen, die Cancel Culture am Werk vermuteten. In der Gemengelage von Äußerungen wurde das Problem verschoben. Das ging bis zum Whataboutism, der rhetorischen Ablenkungsstrategie, in der eine kritische Position mit einer kritischen Gegenfrage ausgekontert wird.

Kritische Tanzwissenschaft
In der Tanzwissenschaft gehört das kritische Hinterfragen von klassischem Repertoire zum guten Ton. Beispielhaft ist hier die getanzte Ballettkritik wie sie etwa Susan Foster 2011 in ihrer Performance Lecture „The Ballerina‘s Phallic Pointe“ übte. Die von der romantischen Tänzerin Maria Taglioni selbst entwickelte und daher als Selbstermächtigung lesbare Spitzentanz-Technik rückte die Frau Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals als Virtuosin in den Fokus. Aus männlicher Feder stammende Narrative sorgten allerdings gleich wieder dafür, dass die weiblichen Körper sexualisiert und in die Objektposition gerückt wurden.

Ähnliche Mechanismen lassen sich auch an den exotistischen Inhalten manch klassischer Repertoireballette beobachten. Warum müssen im „Don Quixote“ die fröhlich vor Zelten tanzenden Figuren als in Karawanen umherziehende Sinti und Roma bestimmt werden? Ist Miguel de Cervantes’ Geschichte aus dem 16. Jahrhundert nicht anders aktualisierbar?

Es ist an der Zeit, aufzuräumen. Als Klassiker der Kunstform anerkannte Ballett-Narrative existieren erst seit 150 Jahren. Ihre Inhalte sind genauso konstruiert wie die verstärkten Sohlen und Kappen der Spitzenschuhe. Und jede Konstruktion lässt sich dekonstruieren oder umwerten, das wissen wir spätestens seit dem Postmodern Dance oder dem Konzepttanz.


Geisterwesen anders fassen
Wie das einigermaßen behutsam funktionieren kann, zeigte 1984 die „Creole Giselle“ des Dance Theatre of Harlem, der ersten Kompanie mit afroamerikanischen Tanzenden. Gegründet wurde sie 1969 in Reaktion auf die Ermordung Martin Luther Kings von Arthur Mitchell, dem lange Zeit einzigen Schwarzen Principal Dancer des New York City Ballet. Mit dem Zusatz „Creole“ verlegte der Choreograf Frederik Franklin das deutsche Märchen ins 19. Jahrhundert und an den Mississippi: Befreite Sklaven leben in einer Dorfgemeinschaft.

Wie wurde hier der weiße Akt, der nebelige Wald mit üblicherweise hell pigmentierten oder weiß geschminkten Tänzerinnen, dargestellt? In der „Creole Giselle“ übertrug man das Geisterhafte ins Material der Kostüme. Die individuelle Pigmentierung der Tänzerinnen blieb. Auch die Stoffe waren nicht schneeweiß – eine Farbe, die ohnehin keinem Menschen zueigen ist –, sondern crèmefarben, rosé, bräunlich. Den Geister-Effekt vermittelten Röcke aus leichtem Tüll mit abschließenden Fransen statt glattem Saum. Im Tanzen lösten sich die strengen Linien der Choreografie und die Kleider bauschten sich auf. Im Bewegen von Körpern und Kleidern erzielten die Tänzerinnen die sonst durch weiße Farbe erzeugte Transluzenz und Jenseitigkeit.

Institutionen ver_wandeln
Mit kreativen Ideen wie diesen lassen sich Stereotype vermeiden, die in manchen der klassischen Repertoire-Ballette angelegt sind. Trotzdem lösen sie nicht das Grundproblem: Die Verkettung von Diskriminierungen und das Zelebrieren starrer sozialer Systeme. Welche künstlerische Handschrift enthält welche Mechanismen des Ausschlusses? Wann werden inhaltliche Vorstellungen ideologisch? Und, als daraus folgende Frage: Sollte man fragwürdige Stücke nicht aus dem Spielplan streichen?

In der Diskussion um das Repertoire zog man bei „Ballet for Future? Wir müssen reden!“ die „3C“ heran, um einen möglichen Umgang mit problematischen Inhalten und Darstellungsweisen zuzuspitzen: 3C wie Cancelling, Censorship, Critical Revision. Letzteres erscheint als produktiver Ansatz. Ohne eine kritische Bestandsaufnahme können wir nicht weitermachen. Wer auf die derzeitige Trägerschicht des klassischen Balletts setzt – „die Zuschauer*innen wollen ihren ‚Schwanensee‘ sehen“ – entscheidet aus rein ökonomischen und nicht aus künstlerischen Gründen. Das Bewahren überkommenden Kulturguts nur der Verkaufszahlen wegen wäre der falsche Auftrag.

Fragen sollte sich eine Ballett-Kompanie bei Erstellung des Spielplans: Was ist am „Schwanensee“ in welcher Inszenierung spezifisch und daher wirklich interessant? Ballette wie „Schwanensee“ entstanden Ende des 19. Jahrhunderts und waren bereits Show-offs einer etablierten Form. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts begann mit dem Tänzer Vaslav Nijinsky die Avantgarde radikal neue Zeichen zu setzen. Und wiederentdeckt, auch das ist (tanz-)historisch zu bedenken, wurde die Romantik als zu feiernde Form in den 50er Jahren, einer Zeit der Restauration.

Stücke umzuschreiben kann Sinn machen, wenn der kritische Blick aufs Detail stimmt. Black Pearl, die als Transfrau und Balletttänzerin Rollenbilder im Blick hat, regte bei der Staatsballett-Diskussion an, statt dessen die zeitgenössische Repertoirebildung zu stärken und neue Arbeiten in Auftrag zu geben, also nach vorne zu schauen. Nun waren auch die heute klassischen Bühnenstücke – retrospektiv – immer Experimente mit Formen und Stilen. Aus tanzwissenschaftlicher Perspektive sei daher zu dem Mut geraten, das Repertoire nicht zu konservieren, sondern den Materialpool aus vergangenen Zeiten kreativ zu nutzen.

Ein Upcycling der alten Stoffe und Stile – genügt das? Wer es ernst meint mit der Diversifizierung von Programm, Personal und Publikum, muss auch dort umbesetzen, wo Kultursicherung so fatal an vermeintlich repräsentative Körper gekoppelt wird. Warum nicht mutig zusätzlich Personen mit bislang nicht einbezogenen Perspektiven einstellen, statt einen Millionen teuren Klassiker nach dem anderen zu rekonstruieren? Damit würde die Theorie aus den Antidiskrimierungs-Workshops tatsächlich umgesetzt. Auch eine stärkere Beteiligung der Tanzenden ist nötig. Nicht als Verpflichtung, den Spielplan mitzugestalten, aber als Möglichkeit, sich mit der eigenen Expertise einzubringen. Wenn sich Strukturen ändern, dann ändert sich auch das Repertoire – und das Ballett kann vom Konsumgut wieder zum Kulturgut werden.

Ballet For Future? Wir müssen reden! #2
4. November 2021
Deutsche Oper, Foyer de la Danse
www.staatsballett-berlin.de

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