edition November/December 2019

Erfahrungen für die Zukunft

Tanz als kritische Praxis einer gesellschaftlichen Transformation.

„Violin Phase", Anne Teresa de Keersmaeker © Anne van Aerschot „Violin Phase", Anne Teresa de Keersmaeker © Anne van Aerschot

Als Geschichte einer Emanzipationsbewegung hat die Ausstellung "Das Jahrhundert des Tanzes" an der Akademie der Künste kürzlich die Historie des zeitgenössischen Tanzes erzählt – als künstlerischen Kampf für Gleichberechtigung, Freiheit des Ausdrucks und das Recht auf den eigenen Lebensentwurf. Irrungen wie die (zeitweise) Nähe etlicher Ausdruckstänzer*innen zum Nazi-Regime inbegriffen. Angeregt und mit kuratiert hat die Ausstellung Johannes Odenthal, Kunsthistoriker, Publizist und, nach knapp zehn Jahren als Kurator am Haus der Kulturen der Welt, seit 2006 Programmbeauftragter der Akademie der Künste Berlin. Im Gespräch über die Ausstellung für einen Vorbericht ging es bald auch um die heutige Rolle des Tanzes in der Gesellschaft. Für tanzraumberlin hat Johannes Odenthal einige Gedanken zum transformatorischen Potenzial des zeitgenössischen Tanzes aufgeschrieben – ein Plädoyer und zugleich Beispiel für komplexes, verwobenes Denken.

Programmbeauftragter der Akademie der Künste: Johannes Odenthal

Wenn wir auf die zentralen gesellschafts- und kulturpolitischen Themen der Gegenwart schauen, dann müssten wir zu dem Ergebnis kommen, dass erstens die aktuellen Tanzszenen hier wichtige Beiträge zu leisten haben und sie zweitens bei Entscheidungsträger*innen sowie in einer breiten Öffentlichkeit ernsthaftes Gehör finden sollten. Der nachfolgende Textbeitrag kommt zu dem Ergebnis, dass ersteres auf vielfältigen Ebenen stattfindet, zweiteres hingegen so gut wie nicht existiert.

Massiver Wandel ist nötig
Zentrale Themen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die von Menschen verursachte Zerstörung der Naturgrundlagen von Leben auf der Erde, die Hegemonie kapitalistischer und autokratischer Interessen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Lebensformen zunehmend unter Druck oder außer Kraft setzen, der Kampf um Diversität nicht nur in der Natur, sondern vor allem in der Kultur, und schließlich die Digitalisierung, die menschliches Vermögen zunehmend "excorpiert", wie es Aleida Assmann für das Gedächtnis beschrieben hat, also aus dem Körper heraus verlagert.
Es gibt zugleich ein breites Bewusstsein dafür, dass es zu einer massiven Transformation der aktuellen Denk- und Handlungsstrukturen kommen muss, um eine Zukunft für die menschlichen Gesellschaften mit demokratischen Grundwerten auf diesem Planeten zu erhalten.

Im Dialog mit der Umwelt
Das Thema der Naturzerstörung betrifft den Tanz unmittelbar. Mit Natur ist der Mensch selbst gemeint, mit seinem Körper und seinen Fähigkeiten, ebenso wie die Erde mit ihren physikalischen Gesetzen, mit Pflanzen und Tieren, aber auch der Kosmos. Im Dialog mit den Kräften der Natur geht es um die Erkenntnis, dass der Mensch Teil der Natur ist und sich im eigenen Wahrnehmungshorizont die Energien und Strukturen der Umwelt spiegeln. Diese Möglichkeit haben Tänzer*innen überall auf der Welt thematisiert, haben sie in ihren Tanztechniken, Choreografien, Ritualen und in ihrer Lebenspraxis entwickelt und überliefert. Selbstverständlich spielt dieses Wissen auch eine wichtige Rolle in der zeitgenössischen Tanzkunst, explizit in den Werken von Min Tanaka oder Kazuo Ohno, von Koffi Kôkô oder Chandralekha, in den Werken von Anne Teresa De Keersmaeker oder Trisha Brown und Steve Paxton.
Welchen Erfahrungshorizont der Tanz umspannen kann, verdeutlicht exemplarisch ein Zitat von Anne Teresa De Keersmaeker im Reader zur Akademie-Ausstellung "Das Jahrhundert des Tanzes": "Nach der Definition von Tanz im Allgemeinen gefragt, würde ich sagen: Tanz ist eine Form von Gebet. Tanz ist bewegte Architektur. Tanz ist Kommunikation. Tanz ist in der Lage, die Energien von Himmel und Erde miteinander zu verbinden. Es ist eine Art und Weise, die Erfahrungen auszudrücken, die der Körper in sich trägt. Kommunikation, in der sich unsere Beziehung zur Welt zeigt. Tanz ist auch Verführung. Er erzählt in höchst individueller Weise über unser Potential an möglicher gemeinsamer Erfahrung. (...) Und ich glaube mehr denn je an den Tanz. Als eine Sprache, die über uns hier und heute erzählt. Vielleicht ist es auch ein verzweifelter Versuch, eine Art von natürlicher Schönheit zu verteidigen, die sich durch Tanz und Musik offenbart. Selbst in einer Welt, die ein so problematisches Verhältnis zur Natur hat."
Die belgische Choreografin nimmt hier eine wichtige und riskante Position zu einem zentralen Thema der Gegenwart ein, zur Zerstörung der natürlichen Grundlagen der Erde. Und nur wer ihre Choreografien und Tänze gesehen hat, wird verstehen, um welche Dimension der menschlichen Erfahrung es sich bei ihr handelt. Wir können natürlich weiterhin ein solches Denken als esoterisch oder naiv abtun. In Wirklichkeit ist es ein komplexes Denken, das sich dem Geistigen und Sinnlichen als Potential von Erkenntnis und Handeln nicht verschließt. Die wirkliche Esoterik ist der Glaube an den Fortschritt, an den Rationalismus einer postreligiösen und postspirituellen Erkenntnis als Grundlage eines uneingeschränkten Materialismus. Die zeitgenössische Tanzszene sollte sich mit Forschungsansätzen wie GAIA 2.0 eines Timothy M. Lenton und Bruno Latour vernetzen, in denen die Selbst-Wahrnehmung menschlichen Handelns in Bezug auf die Selbst-Regulierungskräfte der Erde genutzt und reflektiert werden.

Widerstand und Austausch
Die Aushöhlung demokratischer Lebensformen durch Nationalismus, autokratische Herrschaft, Lobbyismus von Finanz- und Wirtschaftsinteressen hat zu Formen des Widerstands geführt, für die eine Rückeroberung des öffentlichen Raums durch Demonstrationen und performative Aktionen entscheidende Strategien von Revolte und Veränderung geworden sind. Spätestens mit dem Arabischen Frühling in Tunesien und Ägypten, den Protesten in Kiew, Istanbul oder in Hongkong und jetzt weltweit mit Fridays for Future stehen Millionen von Menschen auf für ihre Rechte. Die Mittel der Performance-Künste nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein. Diese Entwicklungen haben auch den Tanz verändert und die Praxis des Handelns mit dem eigenen Körper neu politisiert. Dafür stehen exemplarisch Künstler*innen wie Lia Rodrigues, Arcadi Zaides oder Meg Stuart und vielfältigste Initiativen an immer neuen Orten, die das klassische Theaterkonzept transformiert haben.

Probebühne fürs Neue
Widerstand bedeutet eben auch Entzug von Repräsentation und das Öffnen neuer Kommunikations- und Aktionsformen. So hat sich der Tanzkongress im Festspielhaus in Hellerau im Juni dieses Jahres den Forderungen des Marktes, wie sie auf Festivals, Tanzmessen oder internationalen Tanzplattformen herrschen, systematisch entzogen und einen Raum des Austauschs, der Vernetzung und des gemeinsamen Lernens erschaffen. Entzug als eine andere Form von Widerstand, so wie er auf wirtschaftspolitischer Ebene von Giorgio Agamben als Strategie des Ausstiegs aus hegemonialen Diskursen beschrieben wurde. Die zeitgenössische Tanz- und Performanceszene kann genau als dieses Forschungsfeld beschrieben werden, in dem die vorherrschenden Diskurse von Selbstoptimierung und Ökonomisierung hinterfragt, ja ausgehebelt werden. Allein die Tatsache, dass Tausende von Tänzer*innen weltweit in ihren Übungen, Trainings mit ihren Kompanien und Schüler*innen jenseits vom Fitnesskult eine Praxis lernen und lehren, die nicht verwertbar ist im Sinne materieller Effizienz, bildet eine einzigartige Plattform für die Befragung der eigenen Identität, der sozialen Beziehungen, der Kommunikation mit der Umwelt, die zum Ausgangspunkt einer sehr vielfältigen Tanz- und Performanceszene geworden ist.
Ich würde sogar so weit gehen, dass die Tanzszene in den letzten Jahrzehnten die Räume für die Rituale urbaner Gegenwart geschaffen hat, für die Verständigung zwischen radikalen Selbstfindungsprozessen und ihrer sozialen Rückbindung. Dafür sind zahlreiche neue Orte entstanden, Studios, kleine Bühnen und Projekträume. Sie sind gleichsam die Antwort auf eine extrem individualisierte Stadtgesellschaft, die ihre gemeinsame Verständigung nicht mehr selbstverständlich auf den großen Bühnen findet, wie das im 20. Jahrhundert der Fall war.
Dabei ist entscheidend, dass sich diese Tanzszene und ihr Publikum nicht mehr über nationale oder lokale Identitätsmotive definiert. Es handelt sich um eine absolut internationale und interkulturelle Szene, die weltweit vernetzt ist und insofern genau das abbildet, was von Klimaforscher*innen, Philosoph*innen und visionären Politiker*innen als Hoffnungsperspektive beschrieben wird. Ein Handeln und Kommunizieren, das die größte Diversität mit einem gemeinsamen Engagement verbindet: Netzwerke, die das Wissen aus unterschiedlichsten Kontexten neu verknüpfen können. Die neuen "Bühnen" der Verständigung sind die Orte, an denen die fragmentierten und individuellen Narrative zur Aufführung kommen, als Transformationsprozesse einer zukunftsorientierten Lerngemeinschaft. Sie sind eine konstruktive und produktive Antwort auf eine offene Gesellschaft der Vielen, die Themen wie Exil, Gender, Flucht und kulturelle Diversität zum Teil einer gesellschaftlichen Praxis macht.

Empowerment im Analogen
Selbstredend wächst der Tanzszene auch eine wichtige Funktion in Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung unseres Lebens zu. Ich persönlich sehe den menschlichen Körper als den wichtigsten Widerstand gegen die leichtfertige Abgabe von Verantwortung in den Bereichen der Gesundheit und der Gedächtniskultur – als ein Instrument für die Selbstermächtigung des Individuums. Die unreflektierten Hymnen auf die Digitalisierung im Kulturbereich, wie sie aktuell aus der Kulturpolitik verbreitet werden, sind die falschen Antworten auf das notwendige Empowerment einer analogen, äußerst vitalen Tanzszene, deren Potential für die gesellschaftliche Zukunftsentwicklung ignoriert wird.
Die kultur- und gesellschaftspolitische Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Das beschriebene Szenario einer höchst aktuellen Kunst- und Kulturszene des zeitgenössischen Tanzes hat keine wirkliche Präsenz im Rahmen der Kulturförderung, und schon gar nicht im Rahmen von Bildung und Gesellschaft. Um das zu verändern, erscheinen mir neben der notwendigen Lobbyarbeit in der Kultur vor allem strategische Partnerschaften notwendig, mit den wegweisenden Forschungsansätzen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften, aber auch mit den zivilen Organisationen, die für gesellschaftliche Transformation stehen. Exemplarisch möchte ich das Fellowship des Tänzerchoreografen Koffi Kôkô am IASS, dem Institut for Advanced Sustainability Studies in Potsdam nennen, an dem hunderte von Wissenschaftler*innen jetzt auch mit Künstler*innen zusammenarbeiten. Wir brauchen zunehmend eine enge Vernetzung zwischen den Wissens- und Handlungsformen. In diesem Netzwerk, aber auch im gesamtgesellschaftlichen Geflecht, kann die ästhetische Praxis der Tanzszene einen wichtigen Platz einnehmen.

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