Tanzen ist cringe
Tanz verrät viel über gesellschaftliche Machtverhältnisse. Denn wer nicht tanzt, hat etwas zu verlieren. Doch genau das kann Tanz zu einem Akt des Widerstandes machen, denkt die Autorin und Podcasterin Alice Hasters. Für das tanzraumberlin-Magazin schreibt sie über soziale Erwartungen und Normen, darüber wer tanzt und wer nicht, und warum das Tanzen so eng mit Scham verbunden ist.
Text: Alice Hasters
Autorin und Podcasterin
Erinnern Sie sich noch an das Musikvideo zu Fatboy Slims Hit Weapon of Choice? Es beginnt mit einer Totalen auf einen weißen älteren Mann im Anzug (gespielt von Schauspieler Christopher Walken), der schulterhängend in einer leeren Hotellobby auf einem Sessel sitzt. Doch dann erklingt ein Song und der Mann beginnt sich langsam zu bewegen, bis er letztendlich aufspringt und durch das ganze menschenlose Gebäude tanzt. Er steppt auf einem Tisch, hüpft in den Fahrstuhl, dreht sich, wirbelt mit den Armen umher – so euphorisch, dass er irgendwann sogar die Schwerkraft besiegt und durch das Hotel schwebt. Doch am Ende landet er wieder auf dem Boden, setzt sich in den Sessel, als sei nichts gewesen. Das Video hat eine gewisse Komik, weil es eben ein weißer älterer Mann im Anzug ist, der beginnt zu tanzen. Wäre es zum Beispiel eine weiße Frau oder eine Schwarze Person, wäre die Botschaft des Videos eine andere gewesen. Denn ein weißer mittelalter Geschäftsmann ist eine Figur, der man das Tanzen nicht zutraut – oder nicht zubilligt. Im Video scheint es, als würde er ein Tabu brechen. Als würde er sich in einem unbeobachteten Moment endlich die Freiheit geben, seinem Körper Ausdruck zu verleihen. Das Video wurde 2001 mit sechs MTV Music Awards und ein Jahr darauf mit einem Grammy ausgezeichnet. Regie führte übrigens Spike Jonze.
Diese Tanzfreiheit hat der Mann im Musikvideo vor allem, weil ihn niemand sieht. Er ist befreit von äußeren Blicken und somit auch von sozialen Erwartungen. Und in dem Moment, wo er frei davon ist, kann er nicht nur tanzen, sondern sogar fliegen. Was wiederum vermittelt: Die Idee, dass ein weißer Mann im Anzug in der Öffentlichkeit tanzt, ist so utopisch wie der Traum vom Fliegen. Diese Sehnsucht, einfach tanzen zu dürfen oder überhaupt tanzen zu können, kennen wohl die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften. Warum fällt uns das Tanzen so schwer? Freies Tanzen scheint mit dem Risiko verbunden, sich ziemlich zu blamieren. Aber warum eigentlich? Was ist so peinlich an rhythmischen Körperbewegungen?
Tanzen ist cringe. Ein Begriff, der 2021 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde. Cringe beschreibt ein eingefrorenes Lächeln, aufeinander gepresste Zähne und steife Mundwinkel. Man könnte es als Fremdscham bezeichnen. Doch eigentlich ist es etwas anderes. Wenn etwas cringe ist, dann ist es mit einem Schamgefühl belegt, jedoch wünscht man sich, es wäre nicht so. Man möchte ehrlich Lächeln, Freude empfinden, aber man schafft es nicht – irgendwas hindert eine*n. Auch deshalb kursieren auf sozialen Medien zahlreiche ermutigende Memes, man solle den “cringe umarmen”, sprich, das Schamgefühl überwinden. Es ist ungefähr die gleiche Botschaft, wie der altbekannte Spruch: Dance like Nobody is watching. Tanze so, als ob dich niemand sieht.
Das, was zwischen Tanz und Mensch steht, sind jedoch nicht nur Blicke an sich. Es ist die Macht – oder zumindest der Machtanspruch. Tanz und Macht scheinen besonders in westlichen Gesellschaften schwer miteinander vereinbar. Tanz hat etwas Offenbarendes, Entblößendes. Und Transparenz ist ebenfalls schwer mit Macht vereinbar.
Außerdem ist Tanz untrennbar von der eigenen Person. Er kann nicht ohne den eigenen Körper stattfinden (wenn wir jetzt mal die Möglichkeiten von Motion Capture undvirtueller Realität außen vor lassen). Drauflostanzen funktioniert nur, wenn man den Körper führen lässt. Hier herrscht oftmals allgemeine Verunsicherung, weil viele Menschen nicht gelernt haben, wie man tanzt. Aber auch hier könnte man fragen: Warum eigentlich nicht? Warum ist uns Tanz als gesellschaftliche Praxis so unwichtig, dass so wenig Menschen ein gutes Körper- und Rhythmusgefühl entwickeln? Und da viele Menschen nie lernen zu tanzen, empfinden sie Tanz umso mehr als Kontrollverlust. Selbstbeherrschung verbindet man für gewöhnlich mit geistigen Fähigkeiten, Körper hingegen werden als Ausdruck und Auslöser unserer Triebe angesehen. Um das zu umgehen, sind Tanztraditionen im Westen oft sehr kontrolliert und regelgebunden: Klare Schrittabfolgen, wenig Improvisation. Gerade in elitären gesellschaftlichen Räumen folgt Tanz strengen Regeln. Tanz soll schwer sein, er ist standardisiert, codiert, mit ihm geht ein versteckter Schmerz einher. Der Tanz muss dann zum Ausdruck bringen, was er eigentlich droht aufzulösen: Selbstbeherrschung.
Schaut man auf westliche Gesellschaften heute, scheinen viele jegliche Tanztraditionen aufgegeben zu haben. Der einzige Raum, in dem sich Menschen trauen zu tanzen, ist der Club. Im Dunkeln und im Rausch schafft man es letztendlich, die Scham und die Angst vor dem tanzenden Selbst zu überwinden. Doch auf gängigen Tanzflächen scheint es nach wie vor eine ungleiche Verteilung der Tanzfreiheit zu geben. Während Frauen tanzen, stehen Männer meist am Rand und schauen zu.
Je höher man auf der Leiter der sozialen Hierarchien steht, desto unangebrachter scheint es zu tanzen. Macht ist an Identitäten gebunden. Männlichkeit, Weißsein, Heterosexualität, Alter – all das sind Markierungen, die mit einer gesellschaftlichen Vorherrschaftsstellung einhergehen. Der Tanz scheint mit diesen Identitätszuschreibungen schwer vereinbar. Ein tanzender Mann scheint weniger männlich, eine tanzende Frau hingegen scheint ihre Geschlechterrolle durch Tanz bestätigen zu können. Ein weißer Mensch, der gut tanzen kann, sorgt für überraschte Begeisterung, ein Schwarzer Mensch der schlecht tanzen kann, für Enttäuschung und Verwirrung.
Und bis heute hält sich das Stereotyp, dass professionelle Tänzer schwul sein müssen – zumindest wenn sie typisch westliche Tanzstile praktizieren, allen voran klassisches Ballett. In unseren Köpfen ist Tanz schwul, weiblich, kindlich und/oder nicht-weiß. Wer tanzt, wird in dieser Gesellschaft schnell als unreif, zart, unintelligent und unseriös gesehen. Alles Zuschreibungen, die ein fester Bestandteil von rassistischen, misogynen und queerfeindlichen Erzählungen sind.
Auch wenn viele Formen von Tanz heteronormativ sind, wie beispielsweise annähernd alle Formen von Standardtanz, werden tanzende Männer in der Regel nur akzeptiert, wenn sie mit – oder zumindest in Anwesenheit von – Frauen tanzen. Der tanzende Mann ist quasi nur da, um die Frau zu unterstützen, sie zu führen, zu heben, zu drehen. Selbst als Tänzer bleibt er Zuschauer. Wo heterosexuellen weißen Männern tendenziell ein Rollenkonflikt droht, wenn sie tanzen, macht sich bei marginalisierten Menschen, denen Tanz mittels Identität zugetraut wird, ein anderes Problem auf. Es ist unter dem Namen Stereotype Threat bekannt. Man bestätigt durch das Tanzen das eigene Anderssein. Die Bestätigung des eigenen Stereotyps, auch wenn es etwas vermeintlich Positives wie Tanztalent ist, geht automatisch mit einer Subordination einher. Warum? Weil die Identität als Frau, als nicht-weiße Person oder als queerer Mensch ohnehin untergeordnet ist.
Und gleichzeitig bleibt eine Tatsache: Tanz ist Ausdruck von Freiheit. Und diese Freiheit ist dann zugänglicher, wenn Tanz sich nicht mit der eigenen Identität reibt, wenn er kein Stirnrunzeln auslöst. Die Marginalisierten besitzen mit ihrer Zuschreibung als Tanzende damit etwas, dass privilegierten Gruppen verwehrt bleibt. Tanz stellt also ein Paradoxon dar: Er ist Symbol der Freiheit und der Unterdrückung gleichzeitig.
Tanz kann für marginalisierte Menschen ein Instrument sein, in einer tiefergestellten Position gefangen zu bleiben. Gleichzeitig kann es auch ein Mittel des Widerstandes und des Empowerments sein. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist Pole-Dancing. Für die einen ist es Ausdruck von Unterdrückung und Sexismus, andere sehen darin Empowerment und feministische Selbstbestimmung, installieren sich eine Stange zuhause oder besuchen Kurse um tanzen zu können wie Stripper*innen.
Denn es ist nicht der Akt des Tanzes an sich, der unterdrückend ist. Es sind die beurteilenden Blicke und die gesellschaftlichen Hierarchien, die den Tanz zu etwas Subordinativen machen. Nicht der Poledance an sich ist sexistisch, sondern der patriarchale Blick der Nicht-Tanzenden, genauso wie der Umstand, dass eine Frau von dem Geld der Zuschauenden abhängig ist. Die Bewertung von Tänzen als unterordnend oder emanzipierend hängt von der Frage ab, wer die Kontrolle hat – das Publikum oder die tanzende Person.
Tanz ist frei, wenn niemand hinschaut. Tanz ist frei, wenn er selbstbestimmt ist. Wer es schafft, sich diese Freiheit im Angesicht fremder Blicke zu bewahren, trotz ihrer subordinativen Kraft, macht Tanz zu einem Akt des Widerstandes. Wenn Tanz und Macht nicht miteinander vereinbar sind, dann stimmt etwas mit den Machtverhältnissen nicht. Freier, emanzipierter Tanz kann nur für alle möglich sein, wenn soziale Hierarchien abgebaut werden. Wäre das nicht schön, in einer Welt zu leben, in der Tanz nicht mehr cringe wäre? Wo wir uns nicht erst nachts in dunklen Räumen betrinken müssten, damit wir uns trauen, unseren Körpern Ausdruck zu verleihen? Das mag utopisch klingen – aber ist es das wirklich? Ich träume ja nicht vom Fliegen.