Seltsame Berge und Geschöpfe der Hoffnung
Miriam Jakob und Lee Méir studierten bis 2013 gemeinsam am HZT (Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin) und sind seitdem Freundinnen und Kolleginnen in der Freien Berliner Tanzszene. Für tanzraumberlin beginnen sie, sich Briefe zu schreiben. Sie teilen ihre Gedanken über die Rolle von Kunst in der Gesellschaft, und darüber, was es heute bedeutet, zeitgenössische Choreografin zu sein. Sie schreiben über das kritische Potential und die heilende Kraft des Kunstmachens, und natürlich über ihre eigene Arbeit: Beide zeigen jeweils eine neue Solo-Arbeit, zu sehen vom 23. bis 25. Mai in den Uferstudios.
TEXT: Miriam Jakob und Lee Méir
Miriam Jakob – Choreografin, Performerin und künstlerische Forscherin & Lee Méir – Choreografin, Performerin und Kostümbildnerin
Liebe Miri,
ich tauche ein in den Begriff "Zeitgenoss*innenschaft" und schaue nach, was Google sagt: "1. zur gleichen Zeit vorkommend, 2. aktuell/gegenwärtig". Ein guter Anfang?
Der erste Vorschlag lässt mich an unseren grenzenlosen Zugang zu Informationen denken, der uns scheinbar ständig mit allem auf der Welt verbindet. Es ist beängstigend, ständig allem ausgesetzt zu sein, vor allem wenn vieles davon nicht verkörpert ist. Die Konfrontation mit diesem Paradox treibt uns an, es aufzulösen. Aber vielleicht ist das auch die Wahrheit unserer Zeit – mit dieser Unerträglichkeit zu leben.
Was den zweiten Vorschlag betrifft, denke ich, dass Performance die Qualität der Gegenwart verkörpert – sie existiert kurz und verschwindet dann. Diese Flüchtigkeit ist ein Grund, warum ich Performances mache; sie verankern uns in einer hyperintensiven, gemeinsamen, physischen Gegenwart. Aber es gibt auch einen weniger romantischen Aspekt dieser Idee, nämlich das permanente Aushandeln von Relevanz und Innovation innerhalb des Kunstmarkts.
Mir wird klar, dass ich mit crying creatures crying versuche, dieses "Relevant Sein" zu hinterfragen – und insbesondere den Druck, die Verwertung der Kunst durch Sprache und Logik zu artikulieren. Wir leben in einer Zeit, in der die Sprache zu einer Art Waffe geworden ist und gleichzeitig, inmitten zahlreicher Katastrophen, oft versagt. In diesem Solo distanziere ich mich von der Sprache und der wortwörtlichen Bedeutung und suche nach einer Art Fremdheit, die der Abstraktion bedarf um ihr eigenes Bedeutungssystem zu erfinden.
Um auf die Idee der Auflösung des Unerträglichen zurückzukommen: Die westliche Kunstwelt betont die Rolle der Kunst als Gesellschaftskritik und festigt ihre Position, indem sie sich mit "realen Problemen" auseinandersetzt. Ich bin der Meinung, dass die Kunst ihren Kontext kritisieren sollte, aber ich denke, dass ihre umfassendere Aufgabe ist, den Verstand und das Herz über das Unmittelbare hinaus zu erweitern. Der Versuch der Kunstwelt, die Kunst zu kontrollieren, erstickt sie. Darüber hinaus kann die eurozentrische Vorstellung von Kunst als alleinige Kritik an der Gesellschaft ungewollt Selbstbestätigung statt Selbstreflexion stärken. Ich plädiere für eine Kunst, die sich mit ihrer Zeit auseinandersetzt und sie gleichzeitig transzendiert.
Noch etwas – die letzten Monate waren schwierig. Das Tanzen war ein wahrer Freund für mich.
In unserem letzten Gespräch hast Du die Bedeutung von Zeit in Deinem neuen Solo erwähnt. Kannst Du mir mehr dazu sagen?
Deine Lee
Liebe Lee,
danke, dass du diesen Dialog zwischen uns initiiert hast. Wenn ich die Worte "zwischen uns" schreibe, muss ich sofort an Deinen ersten Auftritt im HZT denken, wo du das Publikum wiederholt gefragt hast: "Funktioniert es zwischen uns?" – Nun ja, ich denke schon.
Als ich mit Dir über die Bedeutung von Zeit für meine neue Performance Geteilte Echos sprach, dachte ich an Zeitskalen jenseits der menschlichen Sphäre, insbesondere an geologische Zeit und an Phänomene, die außerhalb der menschlichen Wahrnehmbarkeit liegen. Wie kann mein sich ständig verändernder menschlicher Körper mit seiner vergleichsweise kurzen Lebensspanne, mit den Mikrobewegungen und Rhythmen eines Berges in Resonanz treten? Ich lasse mich von dem Vokabular inspirieren, das in der Geomorphologie verwendet wird, um Phänomene der Landschaftsentwicklung zu beschreiben. Ich frage mich, wie diese Konzepte mit der Transformation meines Körpers und der Art und Weise, wie Traumata in ihm gespeichert sind, korrespondieren: Zonen der Schwäche, Risse, Kriechen, fragile Stabilität.
Ich versuche immer, meine eigene Wahrnehmung und mein Verständnis aus verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln zu betrachten. Es gibt dieses schöne Zitat der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector: "Um mich zu interpretieren und zu gestalten, brauche ich neue Zeichen und neue Artikulationen in Formen, die sowohl auf dieser Seite meiner menschlichen Geschichte als auch auf der anderen zu finden sind."
Auch wenn es paradox klingt, mich interessiert die Performance als Medium, um die gängige Annahme oder das Versprechen der "Zeitgenoss*innenschaft", die Qualität der Gegenwart, zu hinterfragen: Wie können wir bei einem Ereignis anwesend sein, das sich nicht nur an uns als, sagen wir, menschliche Tiere richtet?
In diesen Polyrealitäten sehe ich die politische Dimension meiner Arbeit. Es geht mir weniger darum, mit verschiedenen Darstellungsformen zu experimentieren, sondern vielmehr darum, Fremdheit hervorzurufen – das, was ich kenne, was ich erwarte oder was ich erkenne, zu hinterfragen oder zu verzerren. Vielleicht gibt mir das Streben nach Fremdheit auch Hoffnung. Wenn vermeintliche Gewissheiten und Glaubenssysteme ins Wanken geraten, mag das für einen Moment destabilisierend sein, aber es gibt mir auch die Hoffnung, dass der Wandel bereits im Gange ist.
Ich denke, es gibt da einige Dinge zwischen uns, ja, ich hoffe, dass es funktioniert.
Deine Miri
Geteilte Echos von Miriam Jakob
23. - 26. Mai 2024, Uferstudios, Heizhaus
crying creatures crying von Lee Méir
24. - 26. Mai 2024, Uferstudios, Studio 14