Raum für eine andere Sicht der Welt
Berlins internationales Festival Tanz im August wird letztmalig von Virve Sutinen verantwortet. Über Kontinuitäten und die diesjährigen Schwerpunkte hat Sandra Luzina mit der finnischen Kuratorin gesprochen.
Groß waren die Erwartungen, als Virve Sutinen 2013 zur neuen künstlerischen Leiterin von Tanz im August ernannt wurde. Die finnische Tanzexpertin war von einer international besetzten Findungskommission berufen worden, vorerst für die Jahre 2014 und 2015. Sie sollte dem Festival neue Impulse verleihen, das zuletzt unter einem Fünfer-Direktorium gewisse Ermüdungserscheinungen zeigte und seine Bedeutung und internationale Strahlkraft zu verlieren drohte. Das Festival-Line-Up unterschied sich kaum noch vom sonstigen Spielplan am HAU Hebbel am Ufer, das das Festival gemeinsam mit der TanzWerkstatt Berlin ausrichtete. Mit Virve Sutinens Ernennung verband sich vor allem die Hoffnung, dass das Festival wieder große Formate präsentieren würde, um damit ein breiteres Publikum zu erreichen.
Text: Sandra Luzina
Tanzjournalistin
Widerstandsfähigkeit des Tanzsektors
Zwei Mal wurde Virven Sutinens Vertrag verlängert; die diesjährige Ausgabe ist die letzte, die sie verantwortet. Nach der Online-Ausgabe 2020 und der hybriden Redux-Ausgabe 2021 kann der Tanz im August endlich wieder ein volles Programm präsentieren, das sich über drei Wochen erstreckt. Vom 5. bis 27. August 2022 werden insgesamt 21 Produktionen gezeigt, darunter drei Uraufführungen und acht Deutschlandpremieren; rund 200 Künstler*innen aus mehr als 25 Ländern werden in Berlin auftreten. Neben dem HAU gibt es sechs weitere Spielorte: das Haus der Berliner Festspiele, KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, radialsystem, Sophiensæle, St. Elisabeth-Kirche und Volksbühne.
„Dieses Programm ist wirklich ein Beweis für die Widerstandsfähigkeit des Tanzsektors und der Künstler*innen, die in den Pandemie-Jahren weitergearbeitet haben“, sagte Virve Sutinen beim Pressegespräch Anfang Juni im HAU. Es sei zudem ein Programm, das durch altes und neues „Commitment“ geprägt sei. Denn in diesem Sommer werden auch Gastspiele und Koproduktionen gezeigt, die schon vor drei oder vier Jahren vereinbart wurden.
Frauen in den Kanon
Expertise, Engagement und Enthusiasmus – bei Virve Sutinen kommt das zusammen. Zudem nimmt die Finnin durch Witz und Selbstironie und ihr großes Kommunikationstalent für sich ein. Sie hat keinen dogmatisch verengten Blick auf das internationale Tanzgeschehen, sondern zeichnet sich durch eine große Offenheit und Neugier aus. Und so war es ihr wichtig, bei Tanz im August stets ein breites Spektrum an Stilen und Ästhetiken zu präsentieren. Der gefeierte Flamenco-Tänzer Israel Galván, ein Künstler mit Roma-Wurzeln, tritt in „Mellizo Doble“ mit dem Musiker Niño de Elche im Haus der Berliner Festspiele auf. Oona Doherty setzt sich in „Navy Blue“ am gleichen Ort erneut mit der Arbeiter*innenklasse auseinander.
Angetreten ist Virve Sutinen mit einer feministischen Mission. Sie achtete stets auf ein ausbalanciertes Verhältnis von Männern und Frauen im Programm. Neu ins Leben gerufen hat sie die Retrospektive-Reihe, die alle zwei Jahre das Lebenswerk einer zeitgenössischen Choreografin beleuchtet. Bisher wurden Rosemary Butcher (2015), La Ribot (2017) und Deborah Hay (2019) präsentiert. Unter dem Titel „Once Over Time“ widmet das Festival diesmal der schwedisch-italienischen Choreografin Cristina Caprioli eine große Retrospektive. Sie sei eine vehemente Verfechterin interdisziplinärer und kollaborativer Arbeitsweisen und führe die Choreografie immer wieder an ihre Grenzen, so Sutinen. Gezeigt werden 22 Arbeiten aus den vergangenen 20 Jahren. „Diese Serie ist der Versuch, Frauen in den Kanon zu bringen“, sagt Sutinen. Und sie habe durchaus etwas bewirkt, bestätigt sie. La Ribot habe ihre Retrospektive mittlerweile in ganz Europa gezeigt, und auch das Interesse an Deborah Hay habe zugenommen.
Wertebasiertes Kuratieren
Virve Sutinen gehört nicht zu den Festivalleiter*innen, die nur um die Welt reisen und einkaufen, was gerade angesagt ist. Sie steht für ein Kuratieren, das auf emanzipativen Werten basiert. Als sie den Job in Berlin übernahm, hat sie gemeinsam mit ihrem Team aufgeschrieben, an welchen Werten sich das Festival orientieren soll: neben Geschlechterparität etwa Diversität, Inklusion und Nachhaltigkeit. Die Corona-Pandemie hat Sutinen und ihr Team zwar ausgebremst; aber sie haben die Zeit auch zum Nachdenken genutzt über das, was sie tun und vor allem, wie sie es tun. „Vor zwei Jahren haben wir überprüft: Worin sind wir gut? Was müssen wir verbessern?“, erzählt Sutinen. Nachgedacht wurde etwa über nachhaltige Touring-Konzepte – und darüber, wie man Künstler*innen mit unterschiedlichem Hintergrund unterstützen kann, größere Produktionen zu realisieren.
Diese Überlegungen schlagen sich im diesjährigen Programm bereits nieder: „Unser EU-Projekt Big Pulse Dance Alliance versucht genau das umzusetzen“, so Sutinen. Als Beispiel nennt sie die neue Arbeit des französisch-senegalesischen Choreografen Amala Dianor. Seine Produktion „Siguifin“ wurde durch die Unterstützung von zwölf europäischen Tanzfestivals ermöglicht. Dianor lud daraufhin seine Kolleg*innen Alioune Diagne (Senegal), Ladji Koné (Burkina Faso) und Naomi Fall (Mali) ein, das Stück gemeinsam mit ihm zu erarbeiten.
Als Kuratorin kann sie die Entwicklung im Tanz mit vorantreiben, davon ist Virve Sutinen überzeugt. Zu den Künstler*innen, die sie schon früher unterstützt hat, gehört der New Yorker Choreograf Trajal Harrell, der queere Themen behandelt. Harrell war schon bei Sutinens erster Ausgabe von Tanz im August dabei und kommt nun mit „The Köln Concert“ aus Zürich zum Festival. Auch der Katalane Marcos Morau ist eine der Entdeckungen Sutinens. Seine Kompanie La Veronal gastiert mit der Produktion „Sonoma“ in Berlin. Beide Künstler gehören mittlerweile zu den tonangebenden Choreograf*innen ihrer Generation. „Es ist wundervoll, sie zurückzubringen und mit denjenigen zu feiern, die vor acht langen Jahren ganz am Anfang dabei waren“, freut sich Sutinen.
Indigene Perspektiven
Ein Fokus der diesjährigen Ausgabe liegt auf Künstler*innen mit indigenem Hintergrund. Damit wird eine Linie weiter verfolgt, die 2021 mit Amanda Piña begann. Eröffnet wird die 34. Edition von der australischen Tanzkompanie Marrugeku, die in „Jurrungu Ngan-ga / Straight Talk“ indigene Lebensgeschichten und Fluchterfahrungen verarbeitet hat. Das Stück ist auch eine Kritik am australischen Justizsystem: Es geht der Frage nach, warum jugendliche Aborigines so häufig inhaftiert werden. Die samische Choreografin Elle Sofe Sara kombiniert in „Vástádus eana – The answer is land” Tanz und traditionellen Joik-Gesang. Und auch das bereits erwähnte kollektiv erarbeitete „Siguifin“ für neun junge afrikanische Tänzer*innen zählt zu den Produktionen indigener Künstler*innen bei Tanz im August.
„Die Stimmen von Indigenen sind lange beiseite geschoben worden, weil sie angeblich nicht bedeutsam rational genug sind“, sagt Sutinen. „Nun, da uns dieser Rationalismus an den Rand der Katastrophe geführt hat, erkennen wir, dass wir vielleicht doch auf ihre Stimmen hätten hören sollen. Wir sollten den Menschen mehr Raum geben, die eine andere Sicht der Welt haben“, begründet Sutinen den diesjährigen Schwerpunkt.
Anderen zuhören und sie einbeziehen: Virve Sutinen hat den Vermittlungsaspekt immer als wichtigen Teil ihrer kuratorischen Praxis begriffen. Das hat auch damit zu tun, dass sie einige Jahre im Museum gearbeitet hat. Sie hat das Diskurs-Programm bei Tanz im August erweitert und neue Gesprächsformate eingeführt. Große Anstrengungen seien unternommen worden, um unterschiedliche Publikumsschichten zu erreichen. Es reiche nicht, ein Stück auf der Bühne zu zeigen und Tickets zu verkaufen, meint sie; es sei auch wichtig, den Entstehungsprozess zu begleiten und anschließend zu Diskussion und Interpretation einzuladen.
Berlin als Tanzmetropole
Mit „City Horses“ des schwedischen Duos Byström Källblad zeigt Tanz im August diesmal auch ein Open-Air-Projekt, in dem sich die Erfahrungen von Frauen einem patriarchalisch geprägten Stadtraum einschreiben. Koproduziert wird das Projekt von der Big Pulse Dance Alliance, realisiert wird es von lokalen Tänzerinnen. An die 100 Tanzschaffende hätten sich beworben: „Das zeigt, das Berlin wirklich eine Tanzmetropole ist“, sagt Sutinen. Die Tanzszene vor Ort wird auch erneut eingebunden in das Festival. Zu sehen sind Choreografien von Jefta van Dinther, Adam Linder und Martha Hincapié Charry sowie ein interaktives Projekt von Sebastian Matthias.
Die Vielfältigkeit des zeitgenössischen Tanzes zu präsentieren, war immer Sutinens Mission. Nicht immer ist ihr die Balance zwischen experimentellen Arbeiten und zugänglicheren Produktionen ganz gelungen. Aber sie hat nicht nur die Professionals angesprochen, sondern – zumindest vor Corona – auch wie erwünscht ein breiteres Publikum erreicht. Virve Sutinen ist eine leidenschaftliche Verfechterin des zeitgenössischen Tanzes, mit ansteckendem Enthusiasmus. Ihre Setzungen haben dem Festival ihren Stempel aufgedrückt.
Neue Leitung
Nun endet die ‚Ära Sutinen‘. Und wie geht es weiter mit Tanz im August? Schon im letzten September teilte das HAU mit, dass Ricardo Carmona ab 2023 die künstlerische Leitung des Festivals übernehmen wird. Der Portugiese war seit 2012 Kurator für Tanz und Performance am HAU. Im Mai 2022 wurde er von Petra Pölzl abgelöst. Wie die Berufung zustande kam, stand allerdings nicht in der Pressemeldung. Eine Findungskommission wie bei Virve Sutinen hat es jedenfalls nicht gegeben.
Nicht nur die mangelnde Transparenz des Verfahrens ist ärgerlich. Es hat ganz den Anschein, als wolle sich das HAU den Tanz im August nun gänzlich einverleiben. Dabei gehört doch eine gewisse Unabhängigkeit zur DNA des 1989 gegründeten Festivals. In Teilen der Tanzszene wird der „Coup“ des HAU denn auch kritisch gesehen. Aber jetzt heißt es erst einmal, sich auf die 34. Ausgabe von Tanz im August zu freuen – und Virve Sutinen zu feiern.