Ausgabe März-April 2024

Neigung der Umlaufbahn

"Über Überüberübermorgen" ("The Day after the Day after Tomorrow") von Cécile Bally und Cathy Walsh. Foto: Dieter Hartwig

Im April wird die Choreografin Cécile Bally gemeinsam mit Cathy Walsh das Kinderstück The Day after the Day after Tomorrow im Feld Theater für Junges Publikum präsentieren. Für das tanzraumberlin Magazin schreibt sie über ihre Arbeit mit Science Fiction als politische Praxis und choreografisches Werkzeug – um sich eine erträumte Zukunft vorzustellen, die auf sozialen Beziehungen und auf kollektiven Ängsten und Hoffnungen beruht.

Text: Cécile Bally
Performerin, Choreografin, Bühnenbildnerin

 

So gern ich auch Hard Sci-Fi und Weltraumopern lese und anschaue, so gern ich auch durch die Sterne reise und außerirdischen Spezies begegne, die Science Fiction, die ich auf der Bühne inszenieren möchte, basiert auf sozialen Beziehungen und auf Lokalität.

Science Fiction als Werkzeug, um sich eine erträumte Zukunft vorzustellen, die auf kollektiven Ängsten und Hoffnungen beruht, als Katalysator für den sozialen Wandel. Science Fiction uses the future as a blank canvas on which to project concerns that occupy society right now […] for SF writers, the mere idea of ‘things to come’ is licence to re-imagine, re-configure, and re-interrogate the present.[1]

Meine Reise mit Science Fiction war eine kollektive Reise, die dem Wunsch entsprach, das Schreiben einer Performance als politische Praxis zu erleichtern.

Sich zu erlauben, lokal zu träumen, sich eine Zukunft vorstellen, die die eigene Realität einschließt. Hier liegt die Herausforderung. In dem Jahr, das zu unserer Performance The Flood führte, haben Emma Tricard und ich eine Reihe von SF-Schreibworkshops in Deutschland, Belgien, Frankreich und Chile veranstaltet. Folgende Fragen haben uns beschäftigt: Wie kann ein Science Fiction-Buch gemeinsam geschrieben werden? Wie kann eine Geschichte, die sich mit lokalen Themen und Hoffnungen befasst, durch verschiedene Länder und Kontinente reisen und von Gruppen fortgesetzt werden, die ihren Alltag auf völlig unterschiedliche Weise erleben? Wie können wir eine gemeinsame Geschichte schaffen, die die jewiligen Besonderheiten nicht ausblendet? Eine Geschichte, die mit der Angst vor Überschwemmungen in Kortrijk zu tun hat; die von monatelangen Massendemonstrationen und der Hoffnung auf eine neue Verfassung in Santiago elektrisiert ist; die vom Alltag in einer psychiatrischen Einrichtung in Aix-en-Provence geprägt ist, etc.

Basierend auf diesen Begegnungen haben wir gemeinsam mit Clay A.D. einen Roman geschrieben, den wir dann in eine Performance umgewandelt haben.

The party was in full swing already. There was hardcore cumbia playing and the space was crowded, my senses suddenly overwhelmed by trying to take everything in. Some people had oxygen masks on. They likely belonged to the military and the state official class, though most of them had dressed down to try to fit in. In the masks they could breathe perfectly well, but came here to bottom feed and feel their neighbors running out of air. The physical suffering excited them.[2]

Die in den The Flood-Workshops geschriebenen Fiktionen waren oft katastrophal. Als wir beschlossen, zusammen mit Cathy Walsh ein SF-Kinderstück zu schreiben, wollten wir eine Zukunft vorschlagen, auf die sich Kinder freuen würden. Eine Inspirationsquelle waren Begegnungen mit Schulkindern über ihre Vorstellungen von der Zukunft. Über Übermorgen ist ein Solarpunk-Stück, das über Vorstellung von Zeit und Linearität reflektiert. Die Solarpunk-Bewegung hat ihren Ursprung in Südamerika und entwirft eine optimistische Zukunft mit einer nachhaltigen Mischung aus Natur und Jugaad (d. h. DIY)-Innovationen. Da die DIY-Magie eine Technik ist, die ich in jedem meiner Werke anwende, war ich sofort von Solarpunk angetan. In der Ausstellung haben wir einen Sandwich-Baum, zusätzliche Gliedmaßen, die an Pflanzen wachsen, und eine App zur Übersetzung von Elefantensprache in menschliche Sprache.

 

Wenn Magie real wird

Ein Rückblick auf meine künstlerische Reise der letzten 10 Jahre: ein moderner Vampir sein und versuchen, in einer Welt, die nicht mehr an sich glaubt, rational zu handeln; einen Supermarkt bevölkern, in dem die Produkte versuchen, dich auszutricksen; als Teenager in einem futuristischen Banlieue umherziehen; gegen die hemmende Macht der synthetischen Pommes Frittes und die implantierte KI in der überfluteten Stadt K kämpfen, Zeitreisen machen.

Ich bin von Fantasy, in der unerklärliche und übernatürliche Ereignisse in einer realistischen Erzählung auftauchen, zur Science Fiction übergegangen. Je mehr ich meine Figuren in die Zukunft versetzte, desto glaubwürdiger erschien ihnen ihre Realität. Als ob sie zuvor in eine magische Welt versetzt worden wären, ohne zu verstehen, wie sie dort gelandet sind, und jetzt versetze ich sie in eine für sie logische Welt, in der Magie akzeptiert und zur Technologie geworden ist.

Was sich nicht geändert hat, ist meine Arbeitsmethode. Ich beginne immer noch mit der Erschaffung der Welt: die Szenografie erweckt Figuren zum Leben und evoziert Bewegung und Erzählung. Ein Flickenteppich von Personen, deren Tänze sich aus ihrer Umgebung ergeben und die ständig von einem lebhaften Traum in den nächsten fallen.

Da es in meiner nächsten Arbeit um Videospiele geht, übertrage ich diese Reise in den digitalen Bereich, indem ich von einem materiellen zu einem projizierten Set übergehe.

Früher habe ich SF gelesen, um zu träumen, jetzt lese ich sie, um den Gedanken der Gegenwart zu entkommen.

 

Über Überüberübermorgen

(The Day after the Day after Tomorrow)

für Kinder ab 5 

von Cécile Bally und Cathy Walsh

18. - 21.4.2024

FELD Theater für junges Publikum

www.jungesfeld.de

 


[1] Ghalayini B., Palestine +100 (2019) Comma Press

[2] Clay A.D., The Flood (2021) Murdered Ones

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