Argumente für eine Zukunft der Vergangenheit
Wie können wir über die Zukunft (des Tanzes) nachdenken? Die Dramaturgin und Tanzwissenschaftlerin Mila Pavicevic setzt für das Schreiben über die Zukunft den Blick in die Vergangenheit voraus. Sie schlägt vor, den Spuren unserer kollektiven sowie individuellen und ungewöhnlichen Biografien zu folgen, Brücken zu bauen und Allianzen zu bilden. Ein Plädoyer für eine Zukunft der Vielstimmigkeit.
Text: Mila Pavićević
Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin
Wie schreibt man über die Zukunft des Tanzes in einem historischen Moment, in dem sich die Geschichte brutal wiederholt? Unter diesen Umständen setzt das Schreiben über die Zukunft voraus, dass wir unsere (eigene) Geschichte kennen. Und dieses Wissen ist niemals ein neutrales Wissen. Um mit den Worten von Fredric Jameson in seinem Vorwort zu Darko Suvins[1] Buch über die Geschichte und den Zerfall Jugoslawiens zu sprechen: “It should be noted that the ‘sacred’ obligations of objectivity are ruled out in advance, as signs of reified disciplinary convention and prejudice. The very choice of a history of socialism is a partisan one." (Jameson 2016: IX). In diesem Sinne möchte ich eine Geschichte über den Tanz erzählen, die vor nicht allzu langer Zeit nicht weit von Berlin, Deutschland, stattfand.
Wir schreiben das Jahr 2009. Die Arbeit League of Time/Liga vremena des Künstlerkollektivs BADco. (bezimeno autorsko društvo, namenlose Gesellschaft von Autoren) wird in Rijeka, Kroatien aufgeführt. Zwei NGOs, BADco. und Drugo More/Other Seas aus Rijeka, Kroatien, arbeiteten bei diesem Stück mit dem kroatischen Nationaltheater Ivan pl Zajc. BADco. war ein Kollektiv von Dramaturg*innen und Choreograf*innen mit Sitz in Zagreb, Kroatien, das von 2000 bis 2020 lokal und international agierte. Der Kern der Gruppe bestand aus Ivana Ivković, Ana Kreitmeyer, Tomislav Medak, Nikolina Pristaš, Goran Sergej Pristaš und Zrinka Užbinec. Im Jahr 2020 löste sich das Kollektiv auf und beschloss, das kollektive Produzieren von Tanz zu beenden. Im Jahr 2024 schlossen sich einige der Mitglieder von BADco. der grün-linken politischen Plattform Možemo!/ We can! an, um politische Entscheidungen über die Gegenwart und die Zukunft von Kunst und Kultur aktiv mitzugestalten.
In dieser Aufführung von 2009 stellte BADco. die folgende Frage: "At the beginning of the new century, we ask ourselves: What happens to all future times whose time has run out? What happens when the founding social narratives no longer offer the key to understanding reality?"[2] Diese sozialen Narrative umkreisen die Transformation des sozioökonomischen Systems vom Sozialismus zum Kapitalismus in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien ab den späten 1980er Jahren, einschließlich der Transformation der Arbeit. Um von dieser komplizierten Zeit zu erzählen, nutzt die Performance die Idee der Utopie als Rahmen für eine fiktionale Zukunftserzählung. Der Kern der Arbeit dreht sich um einen seltsam vertrauten fiktiven Konflikt zwischen "the bourgeoise America and the soviet Eurasia, which Vladimir Mayakovski envisioned 200 years into the future” (The League of Time 2009: 26:34). Sich eine mögliche Zukunft vorstellen und dabei die philosophischen Gedanken von Fredric Jameson berücksichtigen, bedeutet für sie, sich auf eine archäologische Untersuchung der Vergangenheit einzulassen, die nie stattgefunden hat. Wie bereits erwähnt, lassen sie sich für ihren performativen Text von der futuristischen Poesie des russischen Avantgarde-Dichters Vladimir Mayakovski inspirieren, der diese Welt viel zu früh verlassen hat. Die Sprache von Majakowskis Dichtung liest sich wie ein Versuch, eine zukünftige poetische Sprache in einer Situation neu zu erfinden: " where the world has lost its fixity; it lost its solidity" (The League of Time 2009: 13:45). Und ich möchte hinzufügen, dass es sich in gewisser Weise um einen doppelten Verlust handelt; nicht nur weil die neue neoliberale Welt ihre Festigkeit verliert, sondern auch weil wir als Gesellschaft eine Sprache verloren haben, die es schafft, diese neue Welt zu bewältigen und zu interpretieren.
Wladimir Majakowskis Gedicht Fliegender Proletarier, das in der Aufführung von BADco. verwendet wird, wurde 1925 aus der Perspektive von Arbeitern geschrieben, die beobachten, wie der Himmel sich mit den Raketen eines tobenden Krieges füllt. Es liest sich fast wie eine messianische Vorhersage der Zukunft – indem diese Zukunft aus Arbeiterperspektive betrachtet wird, wird zugleich der Untergang des Kapitalismus enthüllt. In dieser Umgebung ähneln die Körper der Tänzer*innen der Vorstellung von Arbeitern aus Majakowskis Gedicht, die inmitten dieses in Flammen stehenden Himmels gefangen sind. Sie verkörpern vier archetypische Figuren: ein Ufologe, ein Pilot, eine Frau-Maschine und ein Kosmonaut, alle erzählen abwechselnd mit Worten und Bewegungen Geschichten über die zukünftige Vergangenheit. Unter ihren Füßen auf dem roten Betonboden ist ein Schlachtfeld eingezeichnet. Auf jeder Seite des Schlachtfelds stehen sich zwei Reihen von Zuschauer*innen gegenüber. Wenn die Choreografie den Raum zwischen ihnen freiräumt, stehen sich die Zuschauenden in grellem Licht (es herrscht keine klassisch-theatrale Dunkelheit) mit ihrer Geschichte und ihren Zukunftsprojektionen gegenüber. Der Song I Hear a New World von Joe Meek aus den 1960er Jahren erklingt in diesen Lichtungen: "I hear a new world, calling me. So strange and so real, haunting me.". In diesem Kontext wirken die Texte wie eine unheilvolle Vorahnung auf einen weiteren Menschen, der diese Welt zu früh verlassen hat – Mark Fisher, der das Konzept der Geisterforschung nutzte, um den Geist der Vergangenheit in Zeiten zurückzubringen, in denen wir glauben, es gäbe nichts als eine ertrinkende Gegenwart und sehr wenig Hoffnung auf morgen.
Zu Ehren von Mark Fisher möchte ich eine Anekdote aus der Vergangenheit erzählen. Diese Anekdote hat nicht direkt mit The League of Time/Liga Vremena zu tun, sondern eher mit dem Ort, an dem ich die Performance zum ersten Mal gesehen habe: POGON Jedinstvo, ein Zentrum für unabhängige Kultur und Jugend in Zagreb. POGON war eine ehemalige Fabrik, die bis in die 1990er Jahre andere Fabriken mit verschiedenen Maschinenteilen belieferte. In den 1990er Jahren wurden diese und viele andere Fabriken im ehemaligen Jugoslawien geschlossen und aufgegeben. Der Name POGON bedeutet "Dinge in Bewegung setzen", im Sinne der treibenden Kraft von industrieller Produktion und Arbeit. Die Eröffnung von POGON war ein weiteres Schlachtfeld. Durch jahrelange Lobbyarbeit und den Aktivismus von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Akteur*innen der Freien Szene wurde 2005 das Kulturzentrum POGON eröffnet. Es war eine der Einrichtungen, die auf einer zivilen öffentlichen Partnerschaft zwischen den NGOs und der Stadt Zagreb fußte.
Außerdem war es ein Ort für experimentelle künstlerische und kulturelle Praktiken, einschließlich des zeitgenössischen Tanzes. POGON befindet sich nicht weit von den Arbeitervierteln von Zagreb am Rand des Stadtzentrums, in der Nähe des breiten Flusses Sava und abseits der Straße, unsichtbar für zufällige Passant*innen. Im Jahr 2012 lebte ich noch in Zagreb und arbeitete als junge Tanzdramaturgin im POGON, einem der wenigen Orte, die damals ihre Türen für junge Praktiker*innen öffneten. Meine Mutter, die aus unserer kleinen Stadt im Süden Kroatiens zu Besuch war, beschloss, unsere Eröffnungsvorstellung zu besuchen. Sie bestellte ein Taxi, um zu POGON zu fahren. Als der örtliche Taxifahrer anhielt, wahrscheinlich um den dunklen Industriekomplex zu betrachten, und dann meine Mutter beobachtete, fragte er sie mit einer Stimme ehrlicher Besorgnis: "Aber Madam, sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen?" Sie lachte und bedankte sich für die Fahrt.
Obwohl ich davon ausgehe, dass sich diese Situation im Jahr 2024 anders abgespielt hätte, erstens dank besserer Bedingungen für den zeitgenössischen Tanz und zweitens vielleicht aufgrund einer größeren Sichtbarkeit[3], erinnere ich mich oft an diese Anekdote als ein hervorragendes Beispiel um die Beziehungen zwischen zeitgenössischem Tanz und seiner unmittelbaren Umgebung zu verstehen. Diese oft sprachlose Beziehung beruht auf einem Missverständnis zwischen den beteiligten Parteien. Ich frage mich mit Blick auf die Zukunft des Tanzes und damit auch mit Blick auf die Zukunft des Tanzes in Berlin, ob es an der Zeit ist, diese Missverständnisse zu überwinden. Und damit meine ich nicht die Annäherung einer formalen Sprache eines Bereichs an eine formale Sprache eines anderen Bereichs, sondern vielmehr die Idee von Allianzen innerhalb unserer Gesellschaft. Vielleicht ist es an der Zeit, umzudenken, zu reflektieren und letztendlich die Frage zu stellen: Was kann ich als Mitglied meiner Gesellschaft für diese Gesellschaft tun? anstatt sich ständig in Bezug auf die Zugehörigkeit zu positionieren, die auf unserer Identität beruht. Dieselbe Zugehörigkeit, die eine ältere Frau aus der Arbeiterklasse als Zuschauerin des zeitgenössischen Tanzes, als Besucherin des POGON a priori und nominell ausschließt, ebenso wie den Taxifahrer selbst. Aufgrund dieser und ähnlicher Ausschlüsse fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie die Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Tanzes aussehen könnte. Auch wenn sie aus tanzwissenschaftlicher Perspektive derzeit relevant ist, wird es schwieriger, sie sich vorzustellen ohne andere Perspektiven zu berücksichtigen, die wir normalerweise nicht in Betracht ziehen. Die Art und Weise, wie man über den Tanz in Bezug auf transdisziplinäre und mikropolitische Ansätze nachdenkt, wird in Zukunft eine noch wichtigere Aufgabe sein. Ich schlage vor, dass wir über mögliche Zukünfte nachdenken, die sich an unseren gemeinsamen oder ungewöhnlichen Lebensgeschichten orientieren – indem wir uns ständig daran erinnern, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bereits in unterschiedlichen Kontexten und Perspektiven stattgefunden haben.
The League of Time /Liga vremena bietet Diagnosen der Gegenwart und liefert gleichzeitig die Werkzeuge um Zukunftsaufgaben zu bewältigen. Die Diagnose wird formuliert als “a world [that] is radically transformed, into the ever-shifting morphing world, a world that has lost its solidity, a world that escapes interpretation, a world where superheroes were lost” (The League of Time 2009: 46:03). Die vorgeschlagenen Werkzeuge sind in der aktiven Form des lebendigen Erinnerns enthalten – als Erzählung, Fiktionalisierung, als ständige Äußerung der Vergangenheit. Diese Vergangenheit wird dann bis zur Erschöpfung wiederholt, sie wird zu einer Wiederholung der Gegenwart. Die Logik der Wiederholungen erzwingt eine dramaturgische Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart innerhalb desselben performativen Rahmens – und innerhalb dieses Feldes sind neue Artikulationen der Geschichte möglich. Tomislav Medak, der in The League of Time/ Liga vremena auftritt, schlägt diese neuen Artikulationen mit der Metapher des Brückenbaus vor: “In this time we took a stroll of remains of bridges yet to be built, excavating remanence of future time and letting our imagination to run wild” (2009: 21:55). Und in der abstrakten Welt des Neoliberalismus, in der jegliche Bedeutungsproduktion schnell vereinnahmt wird, plädiert BADco. für eine Wiederholung vergangener Nonsens-Poesie als eine Art Gegenmittel für die Gegenwart. Dem Rezept von BADco. folgend, schließe ich diesen Essay mit einem Gedicht in serbokroatischer Sprache ab, verfügbar für zukünftige Google-Übersetzungen:
Koreografija za budućnost
Stojim na desnoj nozi
Poviše svoje lijeve noge
Pa gledam kako povijest
Opet bije isto
Stojim na desnoj nozi
Ne spavam jer stojim
Sutra ću opet
Stajati
Bibliography
● Mark Fisher (2014): Ghosts of My Life, Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures, Winchester, Washington: zero books.
● Fredric Jameson (2005): Archeologies of the Future, The Desire Called Utopia and Other Science Fictions, London, New York: Verso.
● Fredric Jameson (2016): Vorwort in: Darko Suvin Splendour, Misery, and Possibilities An X-Ray of Socialist Yugoslavia, Leiden: Boston, Seiten XIX -1.
● Weitere Quellen: Dance performance League of Time/Liga Vremena (2009), BADco. [Hartera, Rijeka, 07.09.2009].
[1] Siehe: Darko Suvin (2016): Splendour, Misery, and Possibilities. An X-Ray of Socialist Yugoslavia, Leiden: Boston
[2] Siehe: bezimeni.wordpress.com/works/league-of-time/ [01.02.2024]
[3] Nach Angaben der Stadtverwaltung hat sich die Förderung der freien Tanzszene durch die Stadt Zagreb in diesem Jahr auf 625.000 Euro erhöht, was fast einer Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr (348.000 Euro) entspricht.
Dieser Aufsatz ist inspiriert und stammt aus meiner Doktorarbeit mit dem Titel Daydreams for a Future Past: Dramaturgies from Former Yugoslavia and its Contributions to Contemporary Dance die am Institut für Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin angesiedelt ist.