edition May/June 2021

Sinnliches Spielmaterial

Im Auftrag des Theater o.N. hat Isabelle Schad ihr Stück „Harvest“ für Kinder ab drei Jahren entwickelt. Hier erzählt sie vom Kreationsprozess und dem Tanzen mit Weidenzweigen aus dem Studiogarten.

"Wie wenig es an Muskelkraft braucht, um die langen Stangen in Bewegung zu versetzen, und wie viel an Geschicklichkeit, Spürsinn und Verständnis für Gewichtsverlagerung, für innere und äußere Kräfte, um sie zum Schweben zu bringen": Proben zu Isabelle Schads "Harvest".
"Wie wenig es an Muskelkraft braucht, um die langen Stangen in Bewegung zu versetzen, und wie viel an Geschicklichkeit, Spürsinn und Verständnis für Gewichtsverlagerung, für innere und äußere Kräfte, um sie zum Schweben zu bringen": Proben zu Isabelle Schads "Harvest". Foto: Isabelle Schad

Text: Isabelle Schad
Choreografin

Als die Einladung vom Theater o.N. kam, ein Stück für das ganz junge Publikum, für Kinder ab 3 Jahren, zu machen, dachte ich zuerst daran, nach einem passenden Material zu suchen, mit welchem wir spielen, uns beschäftigen und bewegen können. Ziemlich schnell kam mir die Idee, die eigene Ernte aus dem Garten der Wiesenburg, wo wir unseren Arbeitsort, die Tanzhalle aufgebaut haben, zu untersuchen. Die erste Erprobung des ‚vorhandenen‘ Materials fand dann schon weit im Vorfeld statt, im Juni letzten Jahres. Denn nur, wenn das Verhältnis zwischen Material und uns selbst, unseren Bewegungen und Sinnen spannend erscheint, denke ich, dass es sich lohnt, damit ein Stück oder auch mehrere Stücke zu machen.

Präzision und starke Energie

Schon vom ersten Tag an war klar, dass die geernteten Weidenzweige und -gerten, die großen wie die kleinen oder mittleren, ein ganz wunderbares und überraschendes Eigenleben mit sich bringen.

Die großen Äste sind so lang, dass sie gerade eben der Breite nach in unsere Halle passen, wenn sie auf einer Hand balanciert werden und die Person den eigenen Schwerpunkt hinter die Hand bringt, so dass eine kreisförmige Bewegung entsteht. Man muss also extrem präzise sein, um nicht an den Wänden anzustoßen. Zugleich entsteht dadurch eine verblüffende, riesige ‚Maschine‘ im Raum und eine extrem starke Energie. Wie wenig es an Muskelkraft braucht, um die langen Stangen in Bewegung zu versetzen, und wie viel an Geschicklichkeit, Spürsinn und Verständnis für Gewichtsverlagerung, für innere und äußere Kräfte, um sie zum Schweben, zum Drehen, in Bewegung, in die Vertikale oder Horizontale zu bringen!

Hierfür hat das Training mit Stock und Schwert im Park, das ich seit dem zweiten Lockdown im Humboldthain initiiert habe, viel beigetragen. Die offenen Trainings sind übrigens ebenfalls in dem ­Spirit entstanden, mit dem umzugehen, was da ist – also auf eine Situation antworten zu müssen, in der Nähe und Training in geschlossenen Räumen unmöglich ist. Und zugleich haben wir im Training mit dem Stock auch viel Platz um jeden herum benötigt – da war der Park genau richtig. Selbst bei Wind und Wetter, auch im Schnee, haben wir uns getroffen. Ganz wichtig beim Aikido mit der Waffe ist, dass man nicht versucht, den Stock oder das Schwert zu bewegen, sondern dass man immer zuallererst sich selbst bewegt. Hier ist das Grundverständnis für den Umgang mit dem Material ungemein gewachsen – ohne gleich auf die ‚Kreation‘ hinarbeiten zu müssen.

Achtung der Natur gegenüber

Ich denke ja immer noch, dass das tägliche Training, das sich aus Elementen des Aikido und somatischen Praktiken nährt, eine wunderbare Grundlage für jegliches ‚Stück-Entwickeln‘ darstellt. Der Bezug von Selbst und Andere/Welt sowie das Verständnis für Bewegung und Schwerkraft, für Fluss und Energie wird abseits des choreografischen Schaffens geschult. Alles auf einmal erreichen zu wollen, geht oftmals schief oder wird ein ‚fake‘. Worum geht es überhaupt? Immer wieder neue Stücke zu kreieren, das kann es sicher nicht sein, denke ich immer wieder, wenn sich – gerade in schwierigen Zeiten – die Sinnfragen in den Vordergrund drängeln.

Aber zurück zur Ernte. Mir hat die Idee gefallen, dass unsere Ernte recycelt, weiterverwendet und genutzt werden kann. Damit werden relevante Themen unserer Zeit ganz nebenbei und spielerisch ins Zentrum gerückt: Es geht um die Aufmerksamkeit, um Respekt und Achtung der Natur gegenüber, die wir erbringen müssen, um unser Ökosystem und – am Ende des Tages – unseren Planeten nicht zu zerstören.

Im Prozess ist es eben diese Aufmerksamkeit, gegenüber den Zweigen, Bündeln und feinen Ästchen, die eine wirkliche Relation entstehen lässt: Genau wie ich es früher als Kind bei der Ernte erfahren habe, wenn wir bei den Bauern, bei denen unsere Pferde standen, helfen durften.

Reisigbündel mit Eigenleben

Gemeinsam mit den Tänzer*innen haben wir daher viel Zeit damit verbracht, die Weidenernte nach Größe, Länge und Stärke der Äste zu sortieren, sie zu organisieren und sie schließlich in der Bewegung kennenzulernen. Wie biegsam sind sie und wie stark? Was können sie tragen? Wie verhalten sich die großen Zweige, wie die ganz dünnen und feinen? Wann wird das Ganze so chaotisch im Raum, dass die Gerten besser zu Sträuchern gebündelt werden, um damit spielen zu können und um dem Reisigbündel ein Eigenleben zu geben? Oder um es zu einem schamanischen Kostüm werden zu lassen, zu feuerähnlichen Gebilden, die sich von allein zu bewegen zu scheinen, die so knistern, als würden sie selbst gerade brennen?

In einem Moment habe ich gedacht: Die Geräusche der unterschiedlichen Zweige sind so präsent, so lebendig und spannend! Wenn man das ganze Stück nun ausschließlich nach musikalischen Aspekten, nach Rhythmen und Resonanzen formt, als würde man an einem Musikstück oder einem Musical für die Kleinsten arbeiten, dann wäre das bestimmt perfekt.

Am Ende ist es natürlich nie nur das eine oder das andere, sondern viele Schichten formen nach und nach ein komplexes Ganzes, das dann wiederum ständig in Bewegung, in Veränderung ist…

Spannend zu bemerken finde ich, dass ich diese Arbeit, die auch ein ganz junges Publikum erreichen soll, eigentlich wie immer angehe: Die Aspekte von energetisch-kraftvollen Bewegungen, die aus dem täglichen gemeinsamen Training heraus wachsen, die visuellen und auditiven Aspekte, das Verhältnis von Selbst/Welt bleiben im Fokus. Und zugleich arbeite ich mit dem Bewusstsein, dass das Stück auch für die ganz Kleinen funktionieren soll. Also: Dass die gelenkte Aufmerksamkeit, dass Kommunikation, Dauer und Rhythmus einfach stimmig sein müssen. Denn es gibt kein kritischeres Publikum diesbezüglich als Kinder, gerade wenn sie noch ganz jung sind. Es ist ja eigentlich das schönste Geschenk, das man sich und anderen machen kann, wenn man nach den sinnlichen, haptischen Erfahrungen sucht, die abseits von Verstand und Konzept wahrgenommen werden und zugleich kleine Wunder im eigenen Erfahren auslösen können.

Dauer und Aufmerksamkeit werden für das junge Publikum anders beleuchtet. Aber im Grunde genommen ist ein Stück wirklich toll, wenn es für alle funktioniert, unabhängig vom Alter, Hintergrundwissen, von Erfahrung oder Herkunft. Das war eigentlich schon immer mein Anliegen: mit meiner Arbeit Grenzen jeglicher Art überwinden zu können. In unserer heutigen Zeit, in Zeiten der Pandemie, in denen die Grenzen immer enger werden, empfinde ich diesen Aspekt als relevanter denn je.

 

Hinweis der Redaktion: Kurz nach der Änderung des Infektionsschutzgesetzes im April haben Isabelle Schad und das Theater o.N. die Premiere und Spieltermine für „Harvest“ von Mai auf September 2021 verlegt.

Isabelle Schad
Harvest
16. – 19. und 21. – 22. September 2021
Wiesenburg
www.theater-on.de

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