edition May/June 2021

Jenseits von Brüssel, Madrid, Paris

Karin Kirchhoff über die Gastspielkooperationen im Programm Tanzland.

Ein INTHEGA-Haus, ohne eigenes professionelles Ensemble und mit nur acht festen Mitarbeiter*innen: das Theater Bernburg. Für März 2021 war dort die Tanzland-"Gastspielwerkstatt" geplant, die dann online stattfand.
Ein INTHEGA-Haus, ohne eigenes professionelles Ensemble und mit nur acht festen Mitarbeiter*innen: das Theater Bernburg. Für März 2021 war dort die Tanzland-"Gastspielwerkstatt" geplant, die dann online stattfand. Foto: Theater Bernburg

Von Aalen bis Wolfenbüttel bringt das Tanzland-Programm für Gastspielkooperationen zeitgenössischen Tanz in die Fläche. Vielmehr: brachte. Derzeit herrscht Stillstand. Pandemiebedingt geschlossen sind, wie alle Theater und Tanzorte, auch die Bühnen der INTHEGA, der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen. INTHEGA-Bühnen sind Theaterhäuser ohne Ensemble, Stadthallen oder Veranstaltungsräume in kleineren und mittleren Städten. Die rund 400 „Bespiel-Bühnen“ organisieren ein abwechslungsreiches Kulturprogramm mit Kabarett, Musiktheater, Konzert, Schauspiel oder Puppentheater. An 19 davon wird seit dem Tanzland-Start 2017 vermehrt auch Tanz gezeigt. Aus Berlin mit dabei sind die cie. toula limnaios, die mit dem Theater im Fischereihafen in Bremerhaven kooperiert, und das Ensemble Dance On, das drei Jahre lang immer wieder im Lessingtheater Wolfenbüttel gastierte. Initiiert wurde das Tanzland-Programm durch die Kulturstiftung des Bundes. Im Sommer 2021 wird das Programm von der Kulturstiftung des Bundes erneut ausgeschrieben. Mit Karin Kirchhoff, die seit November 2020 bei der Kulturstiftung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Programm zuständig ist, hat sich tanzraumberlin schriftlich ausgetauscht.

Interview: Elena Philipp
Redakteurin tanzraumberlin

Karin Kirchhoff, Tourneen sind abgesagt oder verschoben, seit über einem Jahr hat Corona die Kulturbranche im Griff. Wie ist der Stand im Tanzland-Programm – was geht, was nicht?

Karin Kirchhoff: Veranstaltungen dürfen nirgendwo stattfinden, geplante Vorstellungen müssen immer wieder verschoben werden, ebenso wie Tanz-Workshops. Die Kulturstiftung des Bundes hat 2020 schnell reagiert und den Förderzeitraum für die noch laufenden Kooperationen bis 2021 verlängert, aber auch in diesem Jahr durften die Bühnen bislang nicht öffnen – ein Trauerspiel. Derzeit arbeiten wir an der Vorbereitung der nächsten Förderrunde, damit Kompanien und Gastspielhäuser in den kommenden Jahren Unterstützung erhalten können.

Mit Tanzland haben Kompanien die Möglichkeit, neue Kooperations- und damit Verdienstmöglichkeiten zu erschließen. Welche Vorteile hat eine Tanzland-Beteiligung Ihrer Erfahrung nach für Kompanien und Künstler*innen?

Karin Kirchhoff: Die Kompanien können ihre Produktionen touren, mit einem anderen Publikum Erfahrungen machen. Gerade in kleineren Städten kann der Kontakt zum Publikum enger sein, die Reaktionen direkter. Der Stellenwert eines Gastspiels ist dort höher als in Städten mit einem ohnehin großen Kulturangebot. Das empfinden viele Ensembles als große Bereicherung. Es ist für sie mehr als nur eine Einnahmequelle. Die Künstler*innen müssen sich mit ihren Vermittlungsaktivitäten auch auf die neue Stadt einlassen.

Welche Voraussetzungen gelten für die Teilnahme?

Karin Kirchhoff: Das Programm richtet sich an die Ensembles der Stadt- und Staatstheater und an freie Gruppen. Bei freien Gruppen muss erkennbar sein, dass sie auch in den nächsten Jahren noch tourfähige Produktionen erarbeiten werden, davon mindestens eine mit mindestens fünf Tänzer*innen. Das bedeutet nicht, dass die Tänzer*innen festangestellt sein müssen, aber es braucht eine stabile Produktionssituation, denn die Ensembles gehen eine dreijährige Kooperation mit ein oder zwei INTHEGA-Häusern ein.

Welche Optionen gibt es für Berliner Künstler*innen, die sich neu beteiligen wollen?

Karin Kirchhoff: Ich baue im Rahmen des Programms gerade eine Datenbank auf, in der kooperationswillige INTHEGA-Häuser sich über Tanzensembles informieren können. Das wäre für solche Berliner Choreograf*innen interessant, die Gruppenstücke machen und eine Basis- oder Konzeptförderung erhalten oder ein stabiles Koproduzenten-Netzwerk haben. Für Nachwuchs-Choreograf*innen ist das Programm Tanzland nicht geeignet. Es geht nicht um die Produktion, sondern um das Touring von Stücken. Zuerst müssen sich INTHEGA-Haus und Ensemble(s) finden, dann erarbeiten sie gemeinsam eine Gastspiel-Reihe plus Vermittlungsformate und stellen zusammen den Tanzland-Antrag.

Tanzland verknüpft Akteur*innen aus dem gesamten Bundesgebiet. Hat Corona das weitgespannte, fein verästelte Gewebe des Gastspielens brüchig gemacht?

Karin Kirchhoff: Natürlich sind die freischaffenden Künstler*innen extrem stark in ihrer Existenz betroffen, das ist in Berlin ja weitgehend bekannt, und es gab und gibt verschiedene Rettungsprogramme, die zumindest teilweise helfen. Was weniger bekannt sein dürfte: Anders als in einer kulturaffinen Großstadt geraten INTHEGA-Häuser in Kleinstädten durch Corona unter einen starken Rechtfertigungsdruck. Von etlichen Leiter*innen habe ich gehört, dass ihnen von der Stadtverwaltung Sparmaßnahmen in Aussicht gestellt werden oder dass ihnen gesagt wird, sie sollten in der Stadthalle lieber Kongresse planen statt Gastspiele. Dagegen erlebe ich die INTHEGA-Veranstalter*innen, die sich für Tanzland interessieren, als dennoch sehr motiviert und engagiert, mit großer Lust, neue Wege zu beschreiten. Wie so häufig ist es das Engagement und die Zähigkeit einzelner Akteur*innen, die eine Entwicklung vorantreibt.

Gibt es für diese Akteur*innen in Klein- und Mittelstädten Förderinstrumente, auf die sie nach Corona zugreifen können, auch wenn ihnen die Kommunen die Mittel kürzen?

Karin Kirchhoff: Viele INTHEGA-Häuser sind kommunale Einrichtungen, daher stehen ihnen nur begrenzt Fördertöpfe zur Verfügung. Für Tanz-Gastspiele von freien Gruppen aus anderen Bundesländern könnten INTHEGA-Häuser Mittel des Nationalen Performance Netzes NPN beantragen, aber ich vermute, dass dieses Förderinstrument in INTHEGA-Kreisen wenig bekannt ist. Die Veranstalter*innen buchen eher über Agenturen oder sie laden kommerziellere Veranstaltungen ein, denn die Häuser sind auf die Ticketeinnahmen im hohem Maß angewiesen. Es wäre ein echter Paradigmenwechsel für alle Seiten, wenn mehr INTHEGA-Veranstalter*innen die freie Tanzszene entdeckten und die freien Gruppen nicht nur an Gastspielen in Brüssel, Paris oder Madrid interessiert wären, sondern auch in Herford, Aschaffenburg oder Staßfurt.

Welche Mittel erhalten die INTHEGA-Häuser aus dem Tanzland-Programm?

Karin Kirchhoff: Aus einer Tanzland-Förderung werden Gastspiele und Vermittlungsformate finanziert. Durch die Förderung abgesichert, können die INTHEGA-Häuser daher ein größeres kuratorisches Risiko eingehen, weil sie nicht ausschließlich auf die Einnahmen aus Kartenverkäufen angewiesen sind. Sie können zeitgenössischen Tanz als vielleicht neue Kunstsparte in ihr Programm aufnehmen und erhalten Ressourcen für den Aufbau eines Tanz-Publikums vor Ort. Bei den Vermittlungsformaten werden vorhandene Akteure und Strukturen einbezogen, zum Beispiel Ballettschulen, Sport- oder Freizeitvereine, damit die Gastspiele keine isolierten Veranstaltungen bleiben.

Zum Schluss wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wie geht es nach der Öffnung der Kultur­stätten bei Tanzland weiter?

Karin Kirchhoff: In Bezug auf Tanzland ist der lange zeitliche Vorlauf eine große Hilfe: Bewerbungsschluss für die zweite Runde ist der 15. Juli 2021, die Jury wird im Herbst diesen Jahres entscheiden, und die Gastspiele und Vermittlungsformate werden ab der Saison 2022/23 bis ins Jahr 2025 stattfinden. 2022 gibt es eine erneute Ausschreibung für Vorhaben bis 2026. Ich hoffe darauf, dass ab Herbst 2022 die Bühnen wieder geöffnet sein dürfen. Und bin mir sicher, dass – auch falls dann an der Kultur gespart werden sollte – Tanzland zur Vielfalt des kulturellen Angebots und zum Ermöglichen von neuen zeitgenössischen Tanz-Erfahrungen außerhalb der Großstädte beitragen wird.

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