edition January/February 2020

Mitten am Rande

Engagiert, queer-feministisch und postkolonial: Anna Mülter leitet zum sechsten und letzten Mal die Tanztage Berlin in den Sophiensælen

„Juck", Tanztage Berlin 2020 © Linus Enlund Rhythmische Rituale, feministisch fundiert: „Juck" von Juck © Linus Enlund

Anna Mülters Anruf erreicht mich aus den Niederlanden, wo sie gerade einen Tag Symposium hinter sich hat. Anzumerken ist das der Kuratorin und Dramaturgin, die ab Sommer 2021 die Leitung des internationalen Festivals Theaterformen in Hannover und Braunschweig übernimmt, kaum. Unabhängig von Tageszeiten scheinen ihr freundlich-aufgeweckter Ton und ihr leidenschaftliches Engagement für die Arbeit, die sie tut, einfach ‚da‘ zu sein. Angefangen hat Mülters Karriere am HAU Hebbel am Ufer als Produktionsleiterin und später als Mitarbeiterin der Theaterkuratorin Stefanie Wenner, unter der damaligen Intendanz von Matthias Lilienthal. 2014 programmierte sie mit ihm das Festival Theater der Welt in Mannheim und im selben Jahr ihre erste Ausgabe der Tanztage.

Christine Matschke
Tanzjournalistin

Vielschichtige Reflexion über die Gegenwart

Zurückblicken kann Anna Mülter jetzt auf sechs Jahre Nachwuchschoreograf*innen-Förderung. Künstlerinnen wie Melanie Jame Wolf, Ligia Lewis sowie die an der diesjährigen Tanzplattform teilnehmenden Stimm- und Filmtanzwunder Jule Flierl und Sheena McGrandles zeigten bei ihr erste Arbeiten. Eine Quote von zwei Dritteln Frauen zu erfüllen war Anna Mülter seit Beginn ihrer Tätigkeit an den Sophiensælen ein Anliegen. Und das ist es ihr noch, auch wenn sie in erster Linie nach künstlerisch überzeugenden Arbeiten sucht. Ihr Interesse an queeren, nicht-normativen und dekolonialisierenden Sichtweisen internationaler und schwerpunktmäßig in Berlin arbeitender Künstler*innen auf Körper und Tanz scheint sich im Laufe der Jahre noch verdichtet zu haben.

Bei den Tanztagen 2020 überschneiden sich queer-feministische und postkoloniale Perspektiven zu einer vielschichtigen Reflexion über die Gegenwart. So eignet sich die Tänzerin of Color Lois ­Alexander in „Neptune“ den Namen einer patriarchalen, weißen Mythenfigur ebenso an wie die damit einhergehende Herrschaft über das ursprünglich als weiblich definierte Element Wasser. In „Sarabande“ ergänzt die kanadische Choreografin Sasha Amaya die fließende Eleganz des Barocktanzes um Komponenten des zeitgenössischen Tanzes. Was entsteht, wenn sich Nicht-Europäer*innen des europäischen Tanzerbes bemächtigen? Als Dritte im Eröffnungsbunde, der vom Tänzerischen über das Konzeptuelle bis zum Perfomativ-Theatralen reicht, wägt Frida Giulia Franceschini mit bitterböser Verspieltheit den Wert des weiblichen Körpers im Zeitalter des Spätkapitalismus ab. Dabei greift sie tief in die theatrale Trickkiste erotischer Selbstdarstellungsmöglichkeiten und lässt ihre Erfahrungen als Sexarbeiterin einfließen.

 

(Entwicklungs-)Prozesse stärken

Teil der insgesamt extrem frauenstarken, thematisch sowie ästhetisch diversen Auswahl ist auch eine Performance der nicht-binären Künstlerperson Canan Teker, die auf Techniken des türkischen Öl-Wrestlings zurückgreift. Hinter dem handfesten und rauen Szenario von „Kırkpınar“ schimmern allmählich Fragen nach Verletzlichkeit und Intimität auf.

Aus der Normen sprengenden Reihe des Programms tanzt der frisch nach Berlin gezogene Mitbegründer des Performance-Kollektivs tehran re:public, Amirhossein Mashaherifarad. Mit „Aftermath“ geht er körperlichen Nachwirkungen prägender und unumkehrbarer Lebensereignisse und deren progressiver (Selbst-)Veränderungskraft nach. Ausnahmezustände wie Geburt und Tod, aber auch gesellschaftliche Gegenwarts-Themen wie Exil, Flucht und Migration klingen hier an.

Vielversprechend klingt auch die Arbeit „Juck“ der gleichnamigen und 2012 in Stockholm gegründeten feministischen Gruppe rund um die HTZ-Absolventin Cajsa Godée: Gemeinsam mit ihren fünf Mitrebellinnen stößt sie das Publikum zum Nachdenken über Neudefinitionen von Weiblichkeit an und kombiniert dabei tanztechnische Wurzeln aus dem Streetdance mit rhythmischer Technomusik.

Unter dem Motto „Around The World“ gibt es auch wieder einen außereuropäischen Gast: das Kollektiv Kali Billi Productions vom spartenübergreifenden Kunstfestival Gender Bender aus Südindien. Ergänzt wird das gewohnt diverse und überbordende Programm durch Aufführungen von Suvi Kemppainen und Josefine Mühle, Maque Pereyra sowie Areli Moran. Zum schillernden Abschluss des Festivals wird das Drag-Kollektiv House of Living Coulors nicht nur Perspektiven von queeren und trans People of Color auf die Klimakrise voguen, sondern auch die CO2-verseuchten Großstadtkörper des Publikums mit einer „Spice“-Party zum Schwitzen bringen. Ihrer kuratorischen Linie folgt Anna Mülter also auch bei ihrer letzten Ausgabe der Tanztage Berlin. Ihre große Freude in diesen letzten sechs Jahren? Junge Künstler*innen zu begleiten und in ihren Vorhaben zu bestärken – nahe am Entwicklungsprozess.

Tanztage Berlin 2020
08.-18. Januar 2020
Sophiensæle
https://sophiensaele.com/de/festival/tanztage-berlin-2020

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