edition January/February 2020

Eine funkelnde und immer bejahte Welt

Über Choreografien als Kraftfelder und das Arbeiten mit Energien: ein Essay.

„Arcana Swarm", Kat_Valastur © DorotheaTuch In Wind und Weite einer anderen Wirklichkeitszone: „Arcana Swarm" von Kat Valastur © DorotheaTuch

Sich im Rausch verlieren, Grenzen überwinden – körperlich wie mental, allein und in der Gruppe: als Zeichen unserer Zeit sieht Sabine Huschka dieses Begehren nach Überschreitung. Im Tanz spiegelten sich diese Entgrenzungswünsche, das Transgressive hat Konjunktur, so die These der Tanzwissenschaftlerin. Über Energien und wie Choreograf*innen sie, der Bedeutung des altgriechischen energeia entsprechend, als ‚wirkende Kräfte‘ einsetzen, hat Sabine Huschka auch im kürzlich erschienenen Sammelband „Energy and Forces as Aesthetic Interventions. Politics of Bodily Scenarios“ geschrieben, den sie gemeinsam mit der Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau herausgegeben hat. Sabine Huschka, habilitierte Tanz- und Theaterwissenschaftlerin, leitet seit 2015 das DFG-Forschungsprojekt „Transgressionen“ am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin (HZT). Ende Januar veranstaltet sie gemeinsam mit Gerald Siegmund, Professor für Choreografie und Performance am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, in Gießen die Konferenz „Choreografie als Kulturtechnik“.

Sabine Huschka
Tanzwissenschaftlerin

Das Begehren, sich zu überschreiten, den Körper mit Kräften zu füllen – ja, ihn zu entleeren und anderen Kräften anheim zu geben – war und ist der Tanzkunst durchaus vertraut. Momentan findet dieses Begehren einen geradezu bemerkenswerten ästhetischen Aushandlungsraum: Zustände energetischer Intensitätssteigerung zu erzeugen, eine somnambule oder rauschhafte Ent-Äußerung und transformatorische Ent-Formung von Körpern im Miteinander zu gestalten, markiert auffällig das Interesse zeitgenössischer Choreograf*innen. Das rituelle Begehren nach einer mitunter glückshaften Ausweitung und Transgression reflektiert sich in verschiedensten choreografischen Szenarien, die – mal somatisch, mal theatral – die Potentialitäten körperlicher Überschreitung als Kraftfelder ausbreiten, sie rauschhaft feiern oder kulturkritisch durchleuchten. Körperlich und choreografisch werden gezielt ‚Energien‘ als ästhetische Wahrnehmungsräume erkundet, die vor allem das grassierende kulturelle Streben nach Transgression reflektieren.

 

Momente der Maßlosigkeit, die verwandeln

Unsere lebensweltliche Wirklichkeit ist längst vom Wunschbegehren nach steter Überschreitung von Grenzen getrieben. Dies betrifft die Verwischung von Geschlechtergrenzen ebenso wie die physische Ent-Grenzung durch technologische Apparaturen oder unsere stets entgrenzten mentalen Räume inmitten einer technologisch gesteuerten Ent-Äußerung. Das kulturelle Begehren, sich auszudehnen fordert längst ein stetes Außer-Sich-Sein. Doch nur selten löst es die mit ihm einhergehenden Glücksversprechen ein. Der Tanz – so scheint es – reflektiert diese lebenswirklichen Kräfte unserer Kultur in ästhetischen Auseinandersetzungen mit ‚Energien‘, um sie als körperliche und choreografische Felder einer andauernden, fordernden und nicht zu haltenden Transformation auszustellen. Mit gezielt energetischen Szenarien folgen choreografische Arbeiten dabei nicht selten dem Wunsch, andere Formen des Zusammen-Kommens zu ermöglichen (wenn nicht sogar, überhaupt Zusammen-Künfte wahrnehmbar zu machen) und hierzu Kräfte der Verbindung aufzuschließen. Doch was zeichnet eine ästhetische Arbeit mit ‚Energien‘ eigentlich aus, richtet sich doch schließlich jede körperästhetische Arbeit auf eine physische und mentale Initiierung von Bewegungen, ein Mobilisieren von Kräften?

Die ästhetische Arbeit mit energeia gilt gezielt dem Initiierungsprozess des Sich-Bewegens und richtet sich auf die transformatorische und transformierende Bewegungskompetenz des Körpers. Dabei gerät die performative und durchaus eigenwillige Potentialität des Körpers, sich mobilisieren zu können, in einen Aushandlungsprozess, der den Körper als Subjekt ‚seiner Bewegungen‘ überschreitet. Es sind tatsächlich, wie Hans-Thies Lehmann für das Tragische als Form der Überschreitung formuliert hat, Momente „der Maßlosigkeit und immanenten Selbstgefährdung“, die darin „eine Wendung des Subjekts gegen sich selbst“ anzeigen. Hans-Thies Lehmanns Denkfigur aus „Tragödie und Dramatisches Theater“ verdeutlicht die entscheidende Paradoxie einer ästhetischen Arbeit mit ‚Energie‘, nämlich „daß sogar das Selbst ‚selbst‘ sich … nicht anders als durch seinen Verlust konstitutiert“. Dies markiert die Arbeit der energeia im Kern: nämlich eine Initiierung ästhetischer Kräftefelder zu veranlassen, die den Transgressionen des Körpers (in seinem Können, seinen Möglichkeiten, seinen Bildern und Konzepten) gelten. Beschrieben ist damit eine Praxis, mit der die Gabe von Körpern, sich zu bewegen, als eine ästhetische Erfahrung exploriert wird, die etwas bewusst eindringen lässt, das den Körper befällt.

 

Kräfte strukturieren und Energien übertragen

Energeia tritt, so weiß es die Physik, als Transformation auf, ohne sich selbst zu verbrauchen oder erzeugt zu werden. Diesem Wissen gibt der zeitgenössische Tanz auf radikale Weise einen ästhetischen Schauplatz. Aktuelle Choreografien wie „Deep Sky Object“ von Matteo Marziano Graziano, „Arcana Swarm“ von Kat Válastur, oder ein, zwei Jahre zuvor „Pervasive Magnetic Stimuli“ von Margrét Sara Guðjónsdóttir, „Schleppen“ von Wilhelm Groener oder auch „Pieces and Elements“ von Isabelle Schad – sie alle (und einige mehr wie Doris Uhlichs Techno-Trilogie oder „Violet“ (2011) von Meg Stuart/Damaged Goods) folgen in ihren Unterschiedlichkeiten einem ähnlichen Streben.

Ihre Auseinandersetzungen gelten einer expliziten Arbeit mit ‚Energien‘ – sei es, um „Kräfte von endloser Gegenwart zu erforschen“ (Guðjónsdóttir), „dem energetischen Potential der Körper“ (Schad) nachzugehen, „Energiemuster der Natur“ (Meg Stuart) zu reflektieren, Kräfte, „die auf den Körper einwirken, aber auch solche, die von ihm ausgehen“ (wilhelm groener) zu erkunden oder auch einer utopischen Vision zu folgen, „den Theaterraum mit Energie zu fluten und Energien zu übertragen“ (Doris Uhlich). Beschreibbar als distinktive ästhetische Szenarien von energeia, in denen, entsprechend dem griechischen Wortstamm von ­energeia, tatsächlich „wirkende Kräfte“ mittels intensitätsgeladener Körperzustände und Bewegungen am Werk sind, werden ästhetische Kräfte in und zwischen den Körpern aufgerufen, erzeugt und ausgespielt.

 

 

All-Gegenwart und fremdartige Welten-Sphären

So verschreibt sich Matteo Marziano Graziano mit „Deep Sky Object“ der affizierenden Wucht somatischer Kraftfelder, die von sieben unterschiedlich ausgebildeten Performer*innen mittels imaginativer Zugänge der Selbst-Affizierung erzeugt werden. Eigenbezüglich bewegen sie sich im sensuell-nervlichen Kräftefeld ihrer wandernden Wahrnehmungsprozesse, die ihre körperlichen Ent-Spannungs- und Ent-Ladungszustände in Kontakt miteinander führen, sie miteinander in Einklang bringen und voneinander ohne Grund entfernen. Graziano fügt fremdartig wirkende Bewegungssphären in eine choreografische Struktur der Ausdehnung und überraschenden Konkretheit, um zwischen den Performer*innen affektive Bezüge aufzuschließen. Inmitten eines zeitlichen Schwebens spielt „Deep Sky Object“ zugleich mit einer All-Gegenwärtigkeit von ‚fremden‘ Kräften, die von außen und zwischen den Körpern auf sie einwirken.

Auch Kat Válastur eröffnet mit „Arcana Swarm“ eine fremdartige Welten-Sphäre, die, ungleich theatraler angelegt, mit Wahrnehmungsverschiebungen arbeitet. Ihre Morphing benannte Bewegungstechnik führt mit geradezu cineastischer Wirkung den Blick in andere Wirklichkeitszonen. Die sieben Tänzer*innen oszillieren in ihren Körpern zwischen Freude, momentaner Glückseligkeit, Schrecken, Schmerz und Angst. Doch eruptieren ihre affektiven Transformationen nicht aus der Eigenbezüglichkeit physisch-mentaler Zustände, sondern wandeln sich im Einklang mit hörbar von außen gesetzten cues. Gleichsam wie Fremd-Kräfte einer anderen Macht fahren die Körper umstandslos in andere Zustände, hüpfen eine Theatertreppe herauf, schwenken Taschentücher, liegen regungslos auf dem Boden oder ziehen ein übergroßes rosa Herz über die Bühne. Stets bläst ein schwerer Wind an den schwarz behängten Bühnenwänden entlang, weitet und rahmt die energetischen Szenarios seiner ‚Fremdbewohner‘, die mitunter Rufe, fremdartige Klänge und liebliche Stimmen in Mikrophone senden, die wie organische Pflanzen in die Bühne ragen. ‚Energie‘ findet hier als soziale außerweltliche Verwandlungskraft eine theatral entrückte Szenerie.

 

Grenze als leuchtende Spur der Überschreitung

Das augenfällige Interesse für ‚Energien‘ trägt im zeitgenössischen Tanz ein klares Wissen über die Möglichkeit zur Ent-Grenzung von Körper-Szenen. Es ist ein Wissen um die Intensitätssteigerung körperlicher Bewegungsprozesse und damit ein Wissen um deren sinnliche Wahrnehmungssphären als zeitliche Prozesse des Gewahrwerdens – kurz ihrer aisthesis –, die den Performance-Körpern und dem Blick der Zuschauenden gelten. Tradierte Kons­trukte von Zeit, Raum und Körper treten in andere Ordnungen transformatorischer Prozesse über, die über sich hinausweisen. „Ich glaube“, so betont Meg Stuart, „wir alle wollen raus aus unserer alltäglichen Realität. Wir wollen das Gefühl haben, dass wir mit etwas anderem verschmelzen … dass die Grenzen zwischen uns und anderen überwunden werden“.

Äußerungen wie diese appellieren an das ästhetische Potential von Energie als choreografisches Kraftfeld, das explizit eine utopische Dimension aufruft. So sind die ästhetischen Arbeiten mit Energie eindringlich auf den Wunsch ausgerichtet, in der Überschreitung „eine funkelnde und immer bejahte Welt [zu eröffnen], eine Welt ohne Schatten, ohne Dämmerung, ohne das gleitende Nein, das die Früchte vergiftet und in ihr Herz ihren eigenen Widerspruch senkt“, wie Michel Foucault in seiner „Vorrede zur Überschreitung“ schreibt. Die ästhetische Dimension der Transgression hat Foucault dabei eindringlich als Figur der Grenze zu denken gegeben, ist doch dem Streben nach Überschreitung das Wissen inhärent, „die Grenze bis an ihre äußerste Grenze [zu treiben]; sie läßt sie über ihrem drohenden Verschwinden erwachen, sie läßt sie in dem zu sich kommen, was sie ausschließt, und sich darin zum erstenmal erkennen, sie läßt sie ihre positive Wahrheit in ihrem Verlust spüren.“

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