"Manchmal stelle ich mir das Festival wie einen Pilz vor."
Ricardo Carmona ist fortan der neue Kurator des Festivals Tanz im August und tritt damit die Nachfolge von Virve Sutinen an, die Berlins internationales Festival für zeitgenössischen Tanz von 2014 bis 2022 geleitet hat. tanzraumberlin-Redakteurin Johanna Withelm spricht mit ihm über seinen Wechsel vom Tanzkurator am HAU Hebbel am Ufer zum Künstlerischen Leiter von Tanz im August, über den diesjährigen Themenschwerpunkt „Tanz und Ökologie“ und über die Nachhaltigkeitsstrategie des Festivals. Wir treffen uns an einem Nachmittag Anfang Mai im Büro des Festivalteams in den Räumlichkeiten des HAU3.
Interview: Johanna Withelm
Du warst zehn Jahre Tanzkurator am HAU. Was hat sich durch den Wechsel zu Tanz im August für Deine Arbeit verändert?
Ricardo Carmona: Der Wechsel ist spannend und bringt ein anderes Denken darüber mit sich, was ein Programm ausmacht. Allein durch die unterschiedliche Größe der Veranstaltungsorte, vom Haus der Berliner Festspiele mit 1000 Plätzen über das HAU3 mit 100 Plätzen, sind verschiedene Arbeitsweisen erforderlich. Auch die Zeitlichkeit ist neu für mich. Manchmal stelle ich mir das Festival wie einen Pilz vor: Pilze verbringen die meiste Zeit unter der Erde, und dann gibt es einen Moment im Herbst, in dem sie herauskommen. Bei unserer Arbeit ist es ähnlich: Es gibt diese, sagen wir mal, fast unsichtbare Arbeit, die wir als Festivalteam das Jahr über leisten. Dann existiert das Festival für drei Wochen, bevor es wieder unter die Erde geht, bis zum nächsten Jahr.
Es gab Kritik aus der Tanzszene in Bezug auf die fehlende Transparenz innerhalb des Auswahlprozesses und eine fehlende Eigenständigkeit des Festivals gegenüber dem HAU. Wie gehst Du mir dieser Kritik um?
RC: Die Verbindung des Festivals mit dem HAU war immer da und an der Struktur hat sich nichts geändert. Es gibt ein unabhängiges Budget, das zum Teil über das HAU vom Berliner Senat und zu einem großen Teil direkt vom Hauptstadtkulturfonds kommt, plus zusätzliche Finanzierung durch Stiftungen. In der künstlerischen Leitung habe ich völlige Freiheit. Natürlich habe ich vorher das Tanzprogramm am HAU mitgestaltet und arbeite jetzt für das Festival Tanz im August, aber es ist eben eine andere Arbeit. Es handelt sich um unterschiedliche Denkprozesse über das Programm und um unterschiedliche Ziele.
Was machst Du anders als Deine Vorgängerin Virve Sutinen?
RC: Ich habe nicht das Bedürfnis, einen großen Schnitt zu machen, mir geht es vor allem um Kontinuität. Einige Künstler*innen werden dieses Jahr erneut im Programm des Festivals zu sehen sein, unser Team ist größtenteils dasselbe geblieben und auch Logo und Grafikdesign wurden beibehalten. Ich sehe es als meine Aufgabe, den früheren Kurator*innenstimmen meine Stimme hinzuzufügen. Aber ja, natürlich bin ich eine andere Person als Virve und wir haben einen anderen Blickwinkel auf die Dinge. Das Programm wird also anders sein.
Ich kann mir vorstellen, dass Du durch Deine vorherige Arbeit eine starke Berlin-Perspektive mit in das Festival bringst.
RC: Zwar ist der große Schwerpunkt des Festivals international, aber die Berliner Tanzszene ist ja sehr international geworden, deshalb ist es für mich sehr wichtig, diese auch als Teil des Festivals zu betrachten. Neben den 22 Projekten, die wir über einen Open Call ausgewählt haben, wird es in diesem Jahr drei Berliner Produktionen geben, die wir ko-produzieren: von Enrico Ticconi & Ginevra Panzetti, Kat Válastur und Agata Siniarska. Es wird außerdem einen stärkeren Fokus auf Kollaborationen mit Berliner Institutionen geben. Gemeinsam mit dem Haus der Berliner Festspiele werden wir in diesem Jahr eine Produktion vom Trajal Harrell / Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble präsentieren. Und mit der Tanzfabrik veranstalten wir eine Reihe von Workshops, die von den Festivalkünstler*innen geleitet werden. Diese Idee kam mir, als ich auf die ganz frühen Ausgaben des Festivals zurückblickte. Workshops waren in den Gründungsjahren unter Nele Hertling sehr wichtig, daran möchte ich gerne wieder anknüpfen.
Ein Schwerpunkt der diesjährigen Ausgabe liegt in der Verbindung von Tanz und Ökologie. Über einen Open Call wurden Berliner Künstler*innen ausgewählt, ihre Arbeiten zu dem Thema werden in öGentlichen Parks präsentiert. Wie kam es zu der Idee?
RC: Zu dem Thema hatte ich immer eine gewisse Nähe, ich habe Biologie studiert, bevor ich zu Dance und Performance Studies gewechselt bin. Der Klimawandel hat mich schon immer sehr beschäftigt und besonders nach der Pandemie wurde noch deutlicher, dass diese Thematik besprochen und erforscht werden muss. So kam dann die Idee, Projekte rund um dieses Thema zu initiieren, und durch den Open Call explizit Berliner Perspektiven aufzufächern. Die Performances der teilnehmenden Künstler*innen finden draußen statt, im Park am Gleisdreieck, Stadtpark Lichtenberg und Volkspark Rehberge. Ich finde die Parks als Räume sehr interessant, da sie frei zugänglich sind. Sie gehören zu den demokratischsten Räumen, die wir in der Stadt haben, weil die Menschen unabhängig von Herkunft, Klasse oder Geschlecht dort ihre Zeit verbringen. Außerdem fungieren Parks als grüne Korridore für Lebewesen, die in der Natur existieren. Sie sind also auch im Hinblick auf die Ökologie sehr wichtig, um einige Arten zu erhalten und bestimmten Tieren und Pflanzen die Koexistenz in der Stadt zu ermöglichen. All diese Ebenen sind interessant, um sie im Tanz zusammenzubringen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Performances in den Parks nachmittags stattfinden, es wird also kein Strom verbraucht und der CO2-Verbrauch soll so gering wie möglich sein.
Unter den 22 durch den Open Call ausgewählten Künstler*innen finden sich einige bekannte Namen aus der Berliner Tanz- szene, der Großteil ist aber eher unbekannt. War das Absicht?
RC: Erfrischend, oder? Ich war zwar nicht Teil der Jury, kann aber sagen, dass die Auswahl wirklich allein auf den eingereichten Konzepten basiert.
Spiegelt sich der Themenfokus „Tanz und Ökologie“ auch im Rest des Programms wider?
RC: Wir haben drei Produktionen im Programm, die zu dem Themengebiet arbeiten. Enrico Ticconi und Ginevra Panzetti arbeiten in INSEL mit einer spezifischen Geografie von Inseln als Orte der Isolation und des Exils. Chiara Bersani beschäftigt sich in der Arbeit SOTTOBOSCO mit Pflanzen und Tieren, die im Unterholz der Wälder existieren, und stellt die Frage, inwiefern Menschen mit Behinderung eigentlich Zugang zur Natur haben können. Und Agata Siniarska fragt mit null&void, was mit der Natur in Kriegssituationen passiert. Wenn wir an den Krieg in der Ukraine denken, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die menschliche Katastrophe, die dort passiert, und das ist auch richtig so. Aber es gibt auch noch eine andere Katastrophe, nämlich die Zerstörung der Natur und das Sterben der Tiere in der gesamten Region.
Wie sieht es mit dem Thema Ökologie auf der strukturellen Ebene aus – gibt es eine Nachhaltigkeitsstrategie?
RC: Es ist uns sehr wichtig, über die Struktur des Festivals nachzudenken, denn es werden viele Personen anreisen. Wir haben beschlossen, Flugreisen so weit wie möglich zu reduzieren. Das haben wir auch den Companies vorgeschlagen und die meisten von ihnen haben zugestimmt. Zudem arbeiten wir mit Hotels zusammen, die eine grüne Strategie verfolgen, also Wasser sparen, umweltfreundliche Reinigungsmittel benutzen und Lebensmittel zum Frühstück anbieten, die von lokalen Erzeugern stammen. Außerdem werden alle Printprodukte aus recyceltem Papier und mit nicht giftiger Tinte hergestellt. Das langfristige Ziel ist es, die CO2-Bilanz des Festivals so weit wie möglich zu reduzieren.
Tanz im August – 35. Internationales Festival Berlin 9.– 26.8.2023
Unter tanzimaugust.de findet sich das komplette Festivalprogramm 2023.