edition July / August 2021

Freiluftkultur

Wie sich der Tanz in Berlins öffentlichem Raum bewegt.

Libertad Iocco während der Tanzperformance "Zeitbruch" auf der Freundschaftsinsel in Potsdam, 4. Juni 2021. Choreografie Valentina Menz Nash. Tanz im öffentlichen Raum mit Studentinnen und Studenten des HZT Berlin während der Potsdamer Tanztage. © Martin Müller

Nach draußen zieht es Veranstalter*innen und Künstler*innen im Zuge der Corona-Pandemie. Neue Programme wie Draussenstadt oder der Projektfonds Urbane Praxis unterstützen diesen Trend zum öffentlichen Raum – behörd­liche Genehmigungen inklusive. Manche, wie die fabrik Potsdam, sind schon lange im Stadtraum aktiv. Christine Matschke stellt einige Akteur*innen vor und fragt nach den (Frei-)Räumen für die Kunst.

Text: Christine Matschke
Tanzjournalistin

Freitagabend im Park Babelsberg. Die Sonne senkt sich. Im Schilf schnattern Enten. Auf einer Anhöhe erscheinen vier Gestalten – unten Mensch, oben mit trichterförmigen Masken ausgestattet, muten sie wie die Verkörperung von Max Ernsts Alter Ego, dem Vogelwesen Loplop, an.

Was sich hier auf gepflegten Rasenflächen so surreal präsentiert, ist eine Arbeit von Ari Burghard. Für „Von den Sinnen“ hat die Choreografie-Studentin damit experimentiert, wie die Fokussierung auf einen einzigen Sinn – den geradeaus gesteuerten und wie über ein Mikroskop gebündelten Sehsinn – Bewegungen beeinflusst. Verwirrung unter den Parkbesucher*innen stiften sowohl die leicht unbeholfenen, wortwörtlich ‚kopfgesteuerten‘ Tänzer*innen als auch das Publikum, das – getrennt durch einen Parkweg – auf der gegenüberliegenden Wiese steht. Ein vorbeifahrender Radfahrer schließt in letzter Sekunde von der Blickrichtung der Zuschauenden auf die Aufführung, ein weiterer bremst harsch ab und schiebt sein Rad voller Respekt hinter dem Publikum vorbei.

Alle sind hier Akteur*in und Zuschauende*r, gleichzeitig Beobachter*in und Beobachtete*r. Insofern hat der Tanz als körperbetonte und handlungsorientierte Kunst hier eine transformierende Kraft, welche die Grenzen zwischen Theater- und Zuschauerraum auflöst, weil er unerwartet in den Alltag der Menschen eingeht, sie durch seine Präsenz einbindet und Interaktionen ermöglicht.

Wer darf den öffentlichen Raum mitgestalten?

Tanz im öffentlichen Raum, so der Titel des Formats, das seit 2016 im Rahmen der ­Potsdamer Tanztage in Kooperation mit dem Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin stattfindet, ist eine Schwellen-Kunst. Mit ihr werden herkömmliche Theaterkonventionen und -orte, aber auch gesellschaftliche (Macht-)Strukturen hinterfragt: Wer hat wann, wie und unter welchen Bedingungen Zugang zu Kunst und Kultur? Und wer darf den öffentlichen Raum (und damit auch die Gesellschaft) mitgestalten?

Die Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln hat die Rahmenbedingungen der Darstellenden Künste noch einmal neu verhandelt, wie auch Sven Till, Teil der Künstlerischen Leitung der fabrik Potsdam, zu berichten weiß: „Ist das jetzt eine Performance, wenn ich kein Publikum einlade und auf der Straße tanze, zu zweit, zu dritt oder zu viert? Oder ist es nur dann eine Performance, wenn ich sie vorher mit Namen, Adresse, Anschrift und Uhrzeit angemeldet habe?“

Fragen, die zurzeit viele Tanzschaffende betreffen. Für eine Stadtentwicklung, die Kunst und soziales Leben zusammendenkt, ist in Berlin und Brandenburg noch viel Luft nach oben. Schwierigkeiten bereitet den Veranstaltern von Open-Air-Kultur unter anderem der Berliner Verwaltungsapparat. Oft fehlt es an Kommunikation zwischen Bezirken und Senatsverwaltungen, hinzu kommt die Einteilung von komplexen Vorgängen in starre Ressorts. Für den Call For Action Draussenstadt, der eintrittsfreie Kulturveranstaltungen im Stadtraum ermöglichen soll (und der, nach einer pandemiebedingten Absage im Oktober 2020, im Juni 2021 neu aufgelegt wurde), stehe man deshalb in Kommunikation mit der Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr und den Straßen- und Grünflächenämtern, erzählt Yann-Olivier Kersaint vom Projektfonds Urbane ­Praxis. Es gehe darum, Bezirksämter zu sensibilisieren und Genehmigungsverfahren zu erleichtern, auch, indem man den Antragsteller*innen Modellflächen zur Verfügung stellt.

Vorab wurden Brachen und stillgelegte Orte identifiziert, auf denen Kunst im Freien in diesem Jahr möglich ist; die nötigen Genehmigungen sind eingeholt, kuratiert werden die Modellflächen von sogenannten „Hostkollektiven“. Wird Kunst draußen zukünftig also nur noch auf zuvor behördlich genehmigten Flächen möglich sein? Wäre das noch das einstmals auch aus dem Wende-Leerstand mit seinen solidarischen Zwischennutzungs-Möglichkeiten gewachsene Kunst-und-Kultur-Berlin wie man es kennt?

Orte demokratischer Teilhabe

Kunst und Kultur können dazu beitragen, den öffentlichen Stadtraum weiterhin und verstärkt als Ort demokratischer Teilhabe zu denken. Als einen Ort, an dem Leben und Kunst parallel stattfinden dürfen und Gesellschaft aktiv verhandelt wird. Die Agora, der Markt- und Versammlungsplatz der griechischen Polis, aus dem auch das griechische Open-Air-Theater hervorging, steht landläufig exemplarisch für dieses Anliegen. Doch „bereits mit der Annahme eines freien Zugangs für alle – das zentrale Versprechen öffentlicher Räume bis heute – beginnt auch die Geschichte einer Utopie“, wie Kathrin Wildner und Hilke Marit Berger in ihrem Text „Das Prinzip des öffentlichen Raums“ anmerken. Ausschlüsse sind Teil des öffentlichen Raums, seit jeher. Im antiken Griechenland war der Theaterbesuch eines der wenigen öffentlichen Ereignisse, an denen auch Frauen, Zugezogene und Sklaven teilnehmen durften – allerdings auf den hinteren Rängen.

Die Berliner Freie Szene darstellender Künste steht dafür, die Praxistauglichkeit vermeintlicher Utopien zu erproben. Für die Uferstudios gehören Projekte im Kiez, mit der Nachbarschaft und unterschiedlichen Communities zum künstlerischen Selbstverständnis. Und im Regenwasserbecken am Tempelhofer Feld steht bereits seit Mai 2018 die Floating University. Initiiert vom Architekturkollektiv raumlabor, ist sie ein temporäres innerstädtisches Labor für kollektives, erfahrungsorientiertes Lernen und transdisziplinären Austausch. Der Ort und seine Umgebung sind prädestiniert für künstlerische Interventionen und bieten viel Spiel-Raum für Tanz und Choreografie.

Raus in die Nachbarschaft

Auch etablierte Theater haben mittlerweile Interesse, sich zur Stadtgesellschaft zu öffnen. Durch die Pandemie wurde diese Entwicklung noch angeschoben. Die Krise großer Institutionen hilft, Schwellen zu senken, mehr in Hybridformaten zu denken und nach Verbündeten zu suchen. So wie im Fall des neu gegründeten Strandbad Tegelsee – Zentrum für Kultur und Erholung.

Kunst für alle möchte Marina Naprushkina dort anbieten. Im Sommer 2020 hat die aus Belarus stammende Künstlerin, Aktivistin und Mitbegründerin der Neuen Nachbarschaft Moabit mit ihrer antihierarchisch orientierten Nachbarschaftsinitiative das ehemalige Strandbad Tegeler See übernommen. Wie einst in der Beusselstraße sollen im Strandbad Tegelsee Laien und Professionelle interdisziplinär zusammentreffen. Naprushkina und ihr Team interessiert, wie sich Kunst und Kultur an dem naturnahen Ort ressourcenschonend zeigen und auch mitgestalten lassen.

Prozesshaftes Arbeiten steht dabei im Vordergrund. „Die Proben finden bei laufendem Badebetrieb statt“, erzählt die Künstlerin im Gespräch. Das schaffe neue Zugänge auch zum Tanz und bedeute auf akustischer Seite einiges an Experimentierbereitschaft. Längerfristig wird das STRANDBURGTHEATER TEGELSEE auch mit klassischen Aufführungsformaten locken. Damit das Projekt gelingt, konnte Naprushkina unter anderem Sasha Waltz & Guests als Kooperationspartnerin gewinnen. Die Choreografin und ihr Team planen die Bespielung in und mit der Natur auf einem Teil des Geländes. Nach ersten Interventionen von Tänzer*innen der Kompanie im Oktober 2020 wird Waltz die Zusammenarbeit im August mit „In C“ fortsetzen und dann im Rahmen des Education & Community-Programms von Sasha Waltz & Guests auch neue Formate zeigen.

Werden positiv irritierende Begegnungen wie im Park Babelsberg, welche die Grenzen zwischen Alltag und Kunst verschwimmen lassen, demnach zunehmen? Auf jeden Fall können wir gespannt sein, was Kunst-Begegnungen bei uns als Passant*innen, Zuschauer*innen, Akteur*innen und Bürger*innen bewirken – nach all der Zeit, in der Kontakte und Austausch so eingeschränkt waren.

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