Liebe Leser*innen,
was habt Ihr 1993 so gemacht (oder vielmehr: getanzt)? Ich ging in die fünfte Klasse, hörte gerne Ace of Base und Dr. Alban und lernte Jazz-Dance. Und 1998? Ging ich in die zehnte Klasse, hing mit meinen Freund*innen in Tempelhofer Parks rum, fing an zu rauchen und tanzte auf der Loveparade.
Die 90er Jahre in Berlin waren Aufbruchszeit für die Freie Tanzszene. Es gründeten sich unter anderem zwei der wichtigsten Tanz-Institutionen der Stadt: Die Compagnie Sasha Waltz & Guests (1993) und das Festival Tanznacht Berlin (1998). Beide feiern im September ihr 30-jähriges bzw. 25- jähriges Jubiläum und aus diesem Anlass fragte ich Sasha Waltz und Jochen Sandig und das Tanznacht-Team nach ihren Gründungsmomenten, den schönsten und weniger schönen Erinnerungen und ihren Wünschen für die Zukunft.
Den Blick in die (Tanz-)Vergangenheit richtet auch die Tanzwissenschaftlerin Kirsten Maar, die in ihrem Essay Fiktive Erinnerungen und ihre Kontexte über Tanz und Kanon, Erinnerung und Fiktion nachdenkt, und darüber, wie sich eine (Tanz-)Geschichtsschreibung immer auch an die Bedingtheit unseres Wissens knüpft. Über Tanzgeschichte spreche ich auch mit Christian Spuck, dem neuen Intendanten des Staatsballett Berlin: Wir sprechen über das historische Erbe des klassischen Balletts, über seinen zukünftigen Umgang mit problematischen Inhalten in traditionellen Ballettwerken und über seine erste eigene Inszenierung Bovary, die im Oktober uraufgeführt wird.
Und was bedeutet Kanon für die tänzerische Praxis? Die Sozial- und Kulturanthropologin, Dramaturgin und Tänzerin Anna Chwialkowska schreibt in ihrem Text Perpetual prison breaks. Canons, Anti-Canons and Somatics über ihre persönlichen Erfahrungen innerhalb ihrer tänzerischen Ausbildung und über kanonisierte „natürliche“ Körper, die insbesondere im Bereich somatischer Praktiken propagiert werden. Last but not least: Die Kolumnistin Parvathi Ramanathan setzt in dieser Ausgabe ihre von Carmen Maria Machados Buch In the Dream House inspirierte Reise in fantastische Welten fort und entwirft mit Voyages in the Dream Body eine feinsinnige, unerschrockene, leicht entrückte Körper-Text-Poesie.
Der Herbst steht vor der Tür, es geht wieder los:
Eine neue Spielzeit beginnt und es gibt viel zu sehen – der Tanzkalender in der Heftmitte informiert Euch über alle in Berlin und Potsdam stattfindenden Veranstaltungen plus Kurzvorschauen auf Premieren im September und Oktober, weitere Previews finden sich in der tanzraumberlin Online- Ausgabe. Schaut Euch Tanz an!
Und lest in diesem Heft, vielleicht mit einem spätsommerlichen Feierabend-Drink in der Hand, wo auch immer Ihr gerade seid, und genießt die letzten Sonnenstrahlen bevor der Winter kommt.
Viel Spaß beim Lesen!
Johanna Withelm
- September-Oktober 2023
- Fiktive Erinnerungen und ihre Kontexte
- Berliner Tanzgeschichte(n)
- Perpetual prison breaks
- Zwischen Tradition und Zukunft
- Conversational, participative, collaborative thinking
- Absurd Monster
- The pain of disappearing
- Unsure...together
- Present day, embodied
- Voyages in the Dream Body