edition September-Oktober 2023

Berliner Tanzgeschichte(n)

"Travelogue I – Twenty to eight" (1993) von Sasha Waltz & Guests. Foto: Dirk Bleicker

Im Berlin der 90er Jahre herrschte Aufbruchstimmung. Zwei wegbereitende Institutionen der Berliner Tanzszene haben sich in dieser Zeit gegründet, beide feiern im September ihr Jubiläum: Die Compagnie Sasha Waltz & Guests wird 30, das Festival Tanznacht Berlin 25 Jahre alt. Das tanzraumberlin Magazin hat Sasha Waltz und Jochen Sandig, sowie ehemalige und aktuelle Tanznacht-Kurator*innen zu diesem Anlass nach ihren guten und schlechten Erinnerungen der letzten drei Jahrzehnte und nach ihren Zukunftsvisionen gefragt.

Interview: Johanna Withelm

DREI FRAGEN AN SASHA WALTZ & GUESTS

Welche Erinnerungen habt ihr an die Zeit der Gründung von Sasha Waltz & Guests?

Die Gründung von Sasha Waltz & Guests 1993 fiel in die Zeit, in der wir gerade die Premiere von Travelogue I – Twenty to eight hinter uns hatten und uns auf die Tanzplattform 1994 vorbereiteten. Wir haben mit dem Stück dann international getourt, es war ein sehr feuriger Beginn mit Aufführungen in der ganzen Welt. Die Gründung der Compagnie ging auch Hand in Hand mit dem Beginn unserer Beziehung. Wir glauben, dass unsere Liebe und die Leidenschaft für den gemeinsamen künstlerischen Weg den 30jährigen Erfolg ermöglicht haben und betrachten diese Verbindung von Liebe und Arbeit als großes Geschenk. 1996 haben wir dann im Kollektiv mit Jo Fabian und Dirk Cieslak die Sophiensæle gegründet – Sasha Waltz & Guests eröffnete das Haus mit der Produktion Allee der Kosmonauten. Als wir 1999 ins Leitungsteam der Schaubühne gingen, ruhte die Compagnie als Institution bis 2004, in dieser Zeit entwickelte sich ein festes Ensemble von 12 Tänzer*innen. Ab 2005 bereiteten wir die Gründung des Radialsystems vor. Für uns sind diese drei Gründungsmomente – die Gründung von Sasha Waltz & Guests (1993), die Gründung der Sophiensæle (1996) und die Gründung des Radialsystems (2006) besondere Momente, die nicht nur die Zukunft der Compagnie etablierten, sondern überhaupt Orte für zeitgenössischen Tanz, Musik und Performance in Berlin schufen.

Was waren die schönsten und was die schwierigsten Momente in den letzten 30 Jahren?

„Hm, Ich erinnere mich noch sehr intensiv an die Premiere von „Dido & Aeneas“ 2005 in Luxemburg, die erste Oper, die ich gemacht habe. Als die Tänzer*innen in dieses enorme Wasserbecken sprangen und die wunderschöne Musik von Purcell erklang, das war für mich ein großer Moment. Gleichzeitig verbinde ich mit dieser Produktion auch einen schwierigen Moment, nämlich die Aufführung 2011 in der Waldbühne, als es in Strömen regnete und wir das Publikum vertrösten mussten. Das gehört für mich zu den traurigsten Momenten, wenn das Publikum kommt und die Arbeit sehen will, und es durch höhere Gewalt verhindert wird. Sasha Waltz

„Als Sasha mir 2012 das Vertrauen geschenkt hat, das“human requiem“ als Regisseur mit dem Rundfunkchor Berlin in Kooperation mit Sasha Waltz & Guests an ihrer Stelle zu realisieren, war das ein großer Moment für mich. Ich habe dann meine Position in der zweiten Reihe als Dramaturg zum ersten Mal verlassen und wir tauschten die Rollen. Ich bin Sasha sehr dankbar für diese beglückende Erfahrung und ihre Unterstützung, denn diesen Schritt hätte ich alleine nicht gewagt.“ Jochen Sandig

Einer der schwierigsten Momente in der Geschichte der Compagnie war 2014, als wir auf das zunehmende Missverhältnis zwischen unserem wachsenden Kulturbetrieb und einer demgegenüber stagnierenden Förderung reagieren und unser festes Ensemble von damals 14 Tänzer*innen sowie etwa ein Drittel der festen Mitarbeiterstellen auflösen mussten.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

 Für die Zukunft wünschen wir uns mehr Aufführungszeiten an einer kontinuierlichen Spielstätte in Berlin, an der wir regelmäßig unser festes Repertoire spielen können – die alten Stücke, die großen Stücke, die Opern – so dass wir unserem treuen Publikum ein wirklich regelmäßiges Programm bieten können. Wir möchten uns bei unserem langjährigen Publikum, bei allen Tänzer*innen und Künstler*innen und bei unserem sehr treuen Team bedanken, das das Rückgrat von Sasha Waltz & Guests bildet, und das sich über viele Jahre so mit unserer Arbeit identifiziert, bis in die nächste Generation unserer Kindertanzcompany.

 

DREI FRAGEN AN EHEMALIGE UND AKTUELLE TANZNACHT-KURATOR*INNEN

Welche Erinnerungen habt ihr an die Zeit der Tanznacht-Gründung? 

Claudia Feest (Co-Gründerin Tanznacht): Berlin war damals im Sparmodus. Deswegen nahmen wir das 20-jährige Jubiläum der Tanzfabrik 1998 zum Anlass, mit einer großen sichtbaren künstlerischen Präsentation auf die ewigen Kämpfe um ausreichende Gelder für den Tanz hinzuweisen. Wir wollten zeigen was wir machen, was wir können, und wo es hingehen soll. Die Gefahr war, dass wir, wenn wir uns weniger stark zu Wort melden, die nächsten Jahre weiter finanziell vor uns hinkrepeln würden. Aus diesem aktivistischen Impuls ging die Tanznacht hervor. 

Eva-Maria Hoerster (Co-Gründerin Tanznacht): Wir haben damals auch viele Veranstalter*innen eingeladen, national und international. Die Idee war, eine Gelegenheit für Leute zu bieten, die nicht in Berlin leben, in kurzer Zeit möglichst viele Arbeiten der lokalen Tanzszene zu sehen — eine Art Berliner Tanzplattform also. Tatsächlich sind auch zahlreiche Veranstalter*innen gekommen. 

Was waren die schönsten Momente der letzten 25 Jahre? 

Peter Stamer (Kurator Tanznacht 2008 & 2010): 2008 haben wir mit dem BVG-Orchester eröffnet: 50-60 Busfahrer*innen, Kontrolleur*innen und weitere Angestellte der BVG haben z. B. „My Way“ gespielt, das war ein rührender Moment, wie sich Arbeits- und Kunstwelt in diesem Orchester, in diesem Kontext vereinen. 

Inge Koks (Kuratorin Tanznacht 2012): Während der Festival-Planung hatte ich viele Gespräche mit Tänzer*innen aus der Hip-Hop-Szene, die sich mehr Kontakt zum zeitgenössischen Tanz wünschten. Daraus ging „The Battle“ hervor, ein Event, das nicht nur unterschiedlichste Tanz-Stile zusammenbrachte, sondern auch eine Möglichkeit für die urbane Szene war, ihre Arbeit neben all den anderen Performances auf dem Festival zu zeigen. 

Silke Bake (Kuratorin Tanznacht 2016 & 2018): Ein Fokus der Ausgabe von 2018 war das Verhältnis von Tanz und Musik, woraus das Format „Songs for Love & Rage“ entstand (in Zusammenarbeit mit Claire Vivianne Sobottke): eine Art “Tanznacht” in ihrer ursprünglichen Form, bei der 40 eingeladene Performer*innen und Musiker*innen sechs Stunden lang Musik und Tanz miteinander verwoben haben. 

Was wünscht ihr euch für die Zukunft? 

Claudia Feest: 1998 wollten wir mit der Tanznacht eine breite Öffentlichkeit für Tanz schaffen, über die auch Menschen erreicht werden, die nicht ohnehin schon ins Staatsballett oder in die Volksbühne gehen. 2023 braucht die Szene eine Verortung, also ein eigenes Haus für Tanz und Choreografie mit einem angedockten Tanzvermittlungszentrum und einem lebendigen und gut zugänglichen Tanzarchiv. Mein heutiger Wunsch wäre, das noch mehr nach vorne zu bringen, weil das inmitten all der anderen aktuellen Krisen schnell untergeht. 

Jacopo Lanteri (Co-Kurator Tanznacht 2020/2021 & 2023): Ich wünsche mir, dass die Tanznacht 2048 ihr 50-jähriges Jubiläum feiern wird! Dahingehend gibt es gute Nachrichten: Wir haben bereits zwei weitere Ausgaben gesichert, die für 2025 und 2027 vorgesehen sind. Dabei wird sich das Festival noch einmal weiterentwickeln und wieder zu einer Tanzplattform werden, bei der eine Jury entscheidet, welche Stücke eingeladen werden. Das neue Konzept wird im nächsten Jahr im Tanznacht Forum, dem diskursiven Format der Tanznacht, vorgestellt. 

 

30 Jahre Sasha Waltz & Guests:

Beethoven 7: 1.-3. September, Radialsystem

SYM-PHONIE MMXX: 7.-10. September, Haus der Berliner Festspiele

In C: 16. September, Radialsystem

In C – Nächste Generation: 17. September 2023, Radialsystem

www.sashawaltz.de

 

25 Jahre Tanznacht:

8. September, 19 Uhr - 9. September 2023, 20 Uhr

25-stündiger Tanzmarathon mit 80 in Berlin ansässigen Künstler*innen

www.tanznachtberlin.de

 

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