Ausgabe November-Dezember 2023

Zwischen den Stühlen

Der TANZ vorm Berliner Abgeordnetenhaus im Oktober 2023. Foto: Tanzbüro Berlin

Der Tanz blutet sehr im Ringen um den Kulturhaushalt 2024/2025. Aktuell drohen Kürzungen und die Errungenschaften der seit 2020 laufenden Maßnahmen des Runden Tisch Tanz sind in Gefahr. Zugleich zeigen die jüngsten Förderentscheidungen über die Basis- und Konzeptförderung 2024-2027 der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, durch die mehrere etablierte Künstler*innen(-Gruppen) des Tanzes aus dem strukturellen Förderprogramm herausgefallen sind, erneut auf, wie unzureichend die finanziellen Mittel sind und wie überarbeitungswürdig das Fördersystem ist. Tanzschaffende und Organisationen der Freien Szene kommen hier in acht Statements zu Wort und reagieren auf die aktuelle Situation. Sie berichten über ihre persönliche Situation in Zwischenphasen und über Lücken im System. Sie klagen an, zeigen auf und zeichnen mögliche Wege in die Zukunft.

 

1  AG Tanzförderung

Eine Schockwelle hat sich in der Berliner Tanz-Community ausgebreitet. Zahlreiche etablierte zeitgenössische Choreograf*innen und Tanz-/Performance-Gruppen sind aus der Basis- und Konzeptförderung gefallen, die als Künstler*innen die Berliner Tanzlandschaft entscheidend (mit)geprägt haben. Die betroffenen Künstler*innen ebenso wie viele Sympathisant*innen – die Petition Kahlschlag für den Tanz in Berlin? hatte schnell über 500 Unterschriften gesammelt – empfinden diese Entscheidung als schockierende Disqualifizierung von künstlerischer Arbeit, die auch die ethische Anerkennung choreografischer Arbeit unterwandert. Die Senatsjury hat zwar das Dilemma zwischen förderungswürdigen Konzepten und nicht ausreichenden Mitteln formuliert, dennoch zeugt die Entscheidung von mangelnder Rücksichtnahme auf Nachhaltigkeit und Kontinuität, die Choreograf*innen entgegengebracht wird – eine Haltung, die uns gerade auch von der Politik entgegenschlägt. Daran ändert auch die politische Entscheidung, einzelne freischaffende Gruppen aus der Konzeptförderung in eigene Haushaltstitel zu überführen, nichts, wie im Oktober als Hilfsmittel von der Regierungskoalition verabschiedet. Künstlerin*innen werden in eine existenzbedrohende Situation gedrängt, nachhaltig geschaffene Strukturen werden zerstört. Zudem entsteht nun ein unwürdiger Konkurrenzkampf innerhalb der Einzelprojektförderung, was eine generationenübergreifende Förderung ad absurdum führt. Es wird sehr wohl weiterhin dem Omnibus-Prinzip Vorschub geleistet: jump in, jump out, who cares. Ein bedrohliches Szenario braut sich zusammen; auch die Weiterführung der Maßnahmen des Runden Tisch Tanz stehen in Frage. Die schönen Worte des Kultursenators bei der Tanznacht-Eröffnung im September 2023 laufen angesichts der drohenden Kürzungen beim Tanz ins Leere. Wir können und wollen das nicht hinnehmen! Es liegt jetzt an uns, gegen diesen Kahlschlag für den Tanz in Berlin vorzugehen. Gemeinsam müssen wir für eine gerechte und nachhaltige Reform des Fördersystems, gegen geplante Kürzungen und Abwicklungen kämpfen, um ein Förderniveau zu erreichen, das sich an den tatsächlichen Bedürfnissen und Bedarfen der Künstler*innen orientiert.

● WILHELM GROENER (Günther Wilhelm & Mariola Groener), Kat Válastur, Public in Private (Jasna L. Vinovrški, Clément Layes), Eszter Salamon, July Weber, Christina Ciupke, Darko Dragičevic, Eva Meyer-Keller, Grupo Oito (Laura Alonso, Caroline Alves, Martina Garbelli, Ricardo de Paula, Cintia Rangel, Natalie Riedelsheimer, Miro Wallner), Alexandra Wellensiek, Tanzcompagnie Rubato (Dieter Baumann, Jutta Hell), Das Helmi (Florian Loycke, Emir Tebatebai), Interrobang Performance (Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug), Sergiu Matis, Enrico Ticconi, Ginevra Panzetti, laborgras (Renate Graziadei, Arthur Stäldi).
● Die AG Tanzförderung ist ein Zusammenschluss und eine Initiative von Tanzschaffenden in Berlin mit dem Ziel, Berliner Strukturförderinstrumente wie Basis- und Konzeptförderung zu verbessern. Die AG arbeitet selbstorganisiert und ehrenamtlich.

 

2  Christina Ciupke, Choreographer and Dancer

For me, the end of basic funding after some years is something I cannot grasp yet. In any case, it will mean a loss of structures such as the studio, the archive, the administration, and the possibility of planning for the longer term. How can I preserve and continue my artistic work? I’m thinking of those who’ve been in this situation before me and who ended up losing their long-term funding. And of the ones that are going to follow and who will experience the same situation in years to come, if political leaders fail to address the current challenges that the independent scene in Berlin is facing. This independent scene is extraordinarily creative, mobile, wild, courageous, discursive and relentlessly productive. It is constantly reinventing itself. And it has the special quality of being intergenerational. Yet along with that comes the responsibility to nurture the fabric that has meshed so organically over time. All of us in the dance and performance community are moving along the same timeline, from emerging to mid-career to senior artists. Basic funding is a funding structure that allows for at least 2 years of planning over the term it is awarded. An intergenerational reorientation that gives consideration to all artists as is already practised in other funding structures (for example Tanzpraxis) would be an urgent next step.
www.christinaciupke.com

 

3  Grupo Oito, Contemporary Dance Collective

Grupo Oito will be celebrating its 18th year of existence in 2024. We have been part of and helped shape the cultural landscape in Berlin since 2006. We persevered and worked hard to build a structure without continuous financial support until we received basic funding by the Berlin Senate in 2020. For the first time, we were able to pay for our daily work and hire more people. Grupo Oito has become a mini-institution that provides working structures in a network for more than 30 people in Berlin. It took only 4 years, most of which were spent during the COVID pandemic, to consolidate and structure our working foundation. With the loss of basic funding, our working foundation is collapsing and the continuation of the collective is at risk due to the fact that we are being cast into a precarious living situation. Since almost all of us now have families to support, we’re simply no longer able to work for free as we used to. This increases the pressure to earn money with other jobs that are not necessarily related to art. This decision has come as a surprise to us and has left a bitter taste in our mouths as a result of the lack of recognition for our many years of work in Berlin. Sustainability is a big topic in politics and a constitutional obligation. In order to guarantee the sustainability of human and material resources, we need continuity. What we don’t need is a free-for-all market economy that relies on continuously new productions. The current tendency in cultural policy clearly demonstrates that sustainability, continuity and cooperation are not promoted, but rather profit and short-lived, always new productions.
www.grupooito.com

 

4  Anke Politz und Hendrik Frobel, Leitungsduo Chamäleon Berlin

Der Schwebezustand zwischen Förderzu- oder -absage, zwischen Erfolgserlebnis und Existenzangst ist für uns leider seit vielen Jahren allgegenwärtig. Die Arbeitsintensität und Selbstausbeutung sind groß und das Maß an Frustrationsbereitschaft vielfach erreicht. Als privates Theater und Produktionshaus erleben wir häufig wie nah unbändige Freude und Verzweiflung beieinander liegen. Wir sind es gewohnt, trotzdem voller Hoffnung und zukunftsgerichtet zu arbeiten. In dem Vertrauen, dass die eigene Arbeit im Nachhinein bezahlt wird und die künstlerischen Projekte von Erfolg gekrönt werden. Die Schwebe bedeutet immer, auf eigenes Risiko in Vorleistung gehen zu müssen. Förderabsagen und damit auch die Ablehnung von künstlerisch wertvollen Projekten zu akzeptieren, sind wir in Teilen gewöhnt, wenngleich der Moment des „Scheiterns“ immer wieder aufs Neue eine große Herausforderung darstellt. Viel frustrierender sind jedoch die Momente, in denen deutlich wird, dass Förderprogramme unzureichend ausgestattet bzw. fernab der künstlerischen Realität aufgesetzt sind. Vielfach wirken sie wie Lippenbekenntnisse der Politik und nicht wie eine ernsthafte Unterstützung der Freien Szene. Hier wünschen wir uns zum einen deutlich mehr Transparenz, Zugänglichkeit und Gleichberechtigung für alle Akteur*innen und zum anderen eine angemessene finanzielle Ausstattung der aufgelegten Programme.
www.chamaeleonberlin.com

 

5  Ricarda Herre und Isabel Niederhagen, Projektleitung Förderfonds TANZPAKT Stadt-Land-Bund (Bureau Ritter gUG)

Bureau Ritter unterstützt mit der mehrjährigen bundesweiten Strukturförderung TANZPAKT Stadt-Land-Bund in erster Linie die Rahmenbedingungen für künstlerisches Arbeiten ohne Produktionszwang. Damit steht der Tanzszene in Deutschland seit 2018 ein Instrument zur Verfügung, das zeitliche und finanzielle Lücken zwischen gängigen Projektförderungen schließt. Durch das Matchfunding-Prinzip wird auch auf Länder- und kommunaler Ebene eine mehrjährige Strukturförderung stimuliert, die in der Fördersystematik von Kulturämtern und Ministerien oft nicht vorgesehen ist. Um jedoch situativ auf die Bedarfe von Tanzschaffenden reagieren zu können, ist eine Flexibilisierung z.B. der Laufzeiten oder der Höhe des zu erbringenden Eigenanteils nötig – die Coronapandemie hat das deutlich gemacht und dafür setzen wir uns ein. Wir befinden wir uns momentan wie viele Kulturschaffende in einem „Zwischenraum“: Die nächste Ausschreibung kann voraussichtlich erst 2025 realisiert werden. Wir nutzen diese Zeit konstruktiv und arbeiten daran, weitere Mittel für TANZPAKT zu mobilisieren. Gemeinsam mit anderen Tanzakteur*innen wirbt Bureau Ritter bei der Politik für das nationale Förderkonzept INITIATIVE TANZ, das unter fünf aufeinander abgestimmten Schwerpunkten auch die Finanzierung für eine TANZPAKT-Ausschreibung bereits im nächsten Jahr vorsieht. Entschieden wird darüber im November in der Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt 2024. Es heißt also weiter kämpfen, damit sich zumindest eine von vielen Förderlücken schließt.
● Übersicht seit 2018 mit TANZPAKT Stadt-Land-Bund geförderter
Projekte: www.tanzpakt.de/projekte/projekte

 

6  Cilgia Gadola, Projektleitung „Systemcheck“ beim Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. (BFDK)

Regelmäßiges und gendergerechtes Einkommen? Angemessen abgesichert in allen Lebenslagen? Die Lücken im sozialen Absicherungssystem für Erwerbstätige in den darstellenden Künsten sind eklatant. Dies zeigt das Forschungsprojekt „Systemcheck“ des Bundesverbands Freie Darstellende Künste e.V. 2021 bis 2023 wurde die Arbeitssituation und die soziale Sicherung untersucht, um eine große Datenlücke zu füllen. Eine Umfrage zeigt: Die Netto-Einkommen 2021 betrugen nur 20.500 Euro inkl. Transferleistungen wie ALG II und NEUSTART KULTUR-Förderungen. Nicht passgenaue Sozialversicherungssysteme machen eine lückenlose Versicherung unmöglich. Frauen haben einen Gender Pay Gap von fast 30 Prozent. Das wirkt sich auf die zu erwartende Rente aus, die im Durchschnitt bei rund 780 Euro liegt. Drei Viertel der Befragten sind im Schnitt 20 Wochen pro Jahr auftragslos und zapfen in diesen Phasen das eigene angesparte Kapital an. Um diese Lücken zu schließen, müssen die Einkommen steigen, braucht es dringend eine passendere Altersvorsorge, Schutz bei unverschuldeten Einkommensausfällen sowie eine Öffnung der KSK für Hybriderwerbstätige und für Personen mit kreativ-organisatorischen, kreativ-technischen und künstlerisch-vermittelnden Tätigkeiten in den darstellenden Künsten. Alle Handlungsempfehlungen und Forschungs-ergebnisse sind in der Abschlussdokumentation SystemFAIRänderung zu finden.
● Dokumentation zu lesen unter

https://darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-1/BFDK_Systemcheck_Abschlusspublikation.pdf

 

7  Forough Fami, Choreographer and Dancer

A few days before the application deadline for the first round of Tanzpraxis 2021, at a friend’s birthday party, a fellow dancer enthusiastically encouraged everyone to apply for the grant. At that time & for a while, I had shifted my artistic focus from creating to discovering forms of choreographic research & working at a slower pace. Although this shift was conscious & self-confident on a personal level, it seemed to me to be a concern for the application in terms of the visibility that usually comes with involvement in consistent productions & this thought prevented me from sending the application that year. A year later, in 2022, I sent a successful application, trusting that artistic researches are merit & complementary to the productions. This confidence was a result of the increasing emergence of non-production oriented artistic researches & practices that were recognized & supported by some funding bodies during the COVID period. This recognition & support created a wider general acceptance for this modality of work in the scene & shed light on the importance & merit of such artistic activities parallel to productions. Moreover, in the fast lane of the Berlin dance scene, where, due to financial circumstances, artists are encouraged/forced to work excessively, Tanzpraxis allowed me & my artistic process to temporarily decelerate, digest & regenerate in order to take more steady, determining & sincere steps in the continuation of my artistic journey.
● Emerging from the Round Table for Dance process 2018, Tanzpraxis was implemented as a 1.5-year scholarship by the Berlin Senate Department for Culture in 2020, and granted to 116 Berlin-based dancers and choreographers in the first two rounds. The amount of the grants is determined by the respective career stage of the artists meaning their years of artistic practice in Berlin (emerging artists with 3 to 5 years of artistic practice, mid-career artists, and senior artists with more than 10 years of artistic practice in Berlin). Tanzpraxis funding has proven to be a solid addition to the existing funding system and is to be tendered again for 2024/25.
● More info at

www.tanzraumberlin.de/runder-tisch-tanz/tanzpraxis/ and www.tanzpraxisberlin.weebly.com

 

8  Anja Goette und Marie Henrion, Leitungsduo Tanzbüro Berlin

Der Kunstform Tanz fehlt es wie kaum einer anderen Sparte an institutioneller Verankerung in der Stadt Berlin. Ihrer enormen Produktivität und künstlerischen Vielfalt steht seit Jahren eine dramatische Unterausstattung entgegen. Der Runde Tisch Tanz hat aus diesem Grund im Jahr 2018 – mit über 200 Vertreter*innen der Berliner Tanzszene, der Kulturpolitik und der Verwaltung – einen Entwicklungsplan Tanz als umfassendes Paket mit sieben aufeinander abgestimmten und ineinander verzahnten Maßnahmen erarbeitet, die 2020 in das Fördersystem aufgenommenen wurden: Langzeitstipendium Tanzpraxis, Residenzförderung für Berliner Tanzschaffende, Distributionsfonds, Stärkung Dezentrale Tanzorte, Haus für Tanz und Choreografie, Tanzarchiv, Tanzvermittlungszentrum. Damit sich diese sieben Instrumente im Sinne einer ernsthaften – bislang fehlenden – Strukturförderung Tanz weiterentwickeln können, braucht es im Doppelhaushalt 2024/2025 eine jährliche Gesamtsumme von 3 Millionen €. Damit ist zwar gerade einmal die Hälfte der durch den Runden Tisch Tanz berechneten Mittel erreicht, es werden aber unter Berücksichtigung der aktuellen Haushaltslage sehr wichtige nächste Schritte zur strukturellen Stärkung des Tanzes in Berlin ermöglicht. Eine Darstellung dieser Schritte im Detail findet sich in der von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt beauftragten Auswertung Strukturförderung Tanz 2023: Ergebnispapier und Handlungsempfehlung, verfasst im Zusammenschluss von Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V., Netzwerk TanzRaumBerlin und Tanzbüro Berlin. Grundlage dafür war der partizipative Prozess zwischen zahlreichen Expert*innen der Berliner Tanzszene und der Berliner Kulturverwaltung im Sommer 2023. Von allen Beteiligten wurde die grundsätzliche Relevanz jeder einzelnen Maßnahme für die Gesamtstärkung der Kunstform Tanz anerkannt, gerade im Hinblick auf die fehlende strukturelle Verankerung des Tanzes in der Hauptstadt. Jede einzelne Maßnahme begegnet einem deutlichen Defizit in der bisherigen Förderlandschaft, kein Instrument lässt sich zu Gunsten eines anderen opfern, denn nur die Verzahnung aller führt langfristig zu einer stabilen und resilienten Aufstellung des Tanzes.
● Alles zum Runden Tisch Tanz und was seither geschah: www.tanzraumberlin.de  > Runder Tisch Tanz
● Auswertung Strukturförderung Tanz 2023: www.tanzraumberlin.de/artikel/auswertung-strukturfoerderung-tanz-handlungsempfehlung

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