Isabel Lewis. Foto: Mathilde Agius

Die in Berlin lebende Künstlerin Isabel Lewis entwickelt choreografische Arbeiten, Performances und experimentelle Formate im internationalen Museums- und Ausstellungskontext. Sie studierte ursprünglich Tanz sowie Philosophie und Literaturwissenschaft und bewegt sich zwischen verschiedenen Genres und Umfeldern. tanzraumberlin-Redakteurin Johanna Withelm sprach mit ihr über ihre persönliche Verortung als Künstlerin, über das Pendeln zwischen Kontexten und ihre künstlerische Praxis im Dazwischen.

Interview: Johanna Withelm

 

Deine bevorzugte Terminologie für viele Deiner Arbeiten ist occasions. Kannst Du diesen Begriff und das Format, das er beschreibt, erklären?

Im Jahr 2010 begann ich das zu entwickeln, was ich später occasions nennen würde. Ich war gerade nach Berlin gezogen, nachdem ich 10 Jahre lang professionell im zeitgenössischen concert dance und an all den experimentellen Bühnen in New York gearbeitet hatte. Ich verbrachte zwei Jahre damit, Notizen zu sammeln, Bewegungen und Musik zu konzipieren und zu proben, während ich mich um mein neues Lebens in Deutschland kümmerte und mit Nebenjobs Geld verdiente. Es gab viele Dinge, die meine Affinität zu dem Wort occasion ausmachten, einschließlich seiner Etymologie als Verb (etwas verursachen): occasion stammt aus dem Mittellateinischen und bedeutet Ursache oder Wirkung, meint aber auch etwas wie ‚geeignete Zeit‘ oder ‚Gelegenheit‘. Bei meinen occasions ist die Zusammensetzung der Aufführung nicht vollständig vorherbestimmt sondern wird vorbereitet und dann in Echtzeit komponiert, je nachdem, wie sich die Situation entwickelt. Das ist der Logik des DJing sehr ähnlich, bei dem man seine Tracks vorbereitet, aber die Musik live mischt, um in Echtzeit auf die Tanzfläche zu reagieren. Die Verwendung dieses Begriffs half mir, einen konzeptionellen Raum abzustecken, in dem ich verschiedene Bedingungen für die Rezeption von Live-Performances erforschen konnte, fernab Sehgewohnheiten, die durch das moderne Theater und durch museologische Darstellungsformen geprägt sind. Könnte Tanz auf atmosphärische Weise oder mit peripherer Aufmerksamkeit erlebt werden? Könnte eine Aufführung so erlebt werden, wie wir uns durch einen Garten bewegen und uns mit ihm auseinandersetzen, mit verschiedenen Formen der Aufmerksamkeit und unterschiedlichen Graden und Tonalitäten der Präsenz und Teilnahme? Dies sind die Fragen, die mich dazu motiviert haben, ein Format zu entwickeln, das über meine Kritik an Sehgewohnheiten hinausgeht – ein Format das ein allwissendes, allmächtiges Subjekt hervorbringt, das sich vom gefangenen und entmachteten Objekt der Aufmerksamkeit distanzieren kann. Occasions schlagen andere Formen des Engagements vor, indem sie die gesamte Wahrnehmung ansprechen und alternative Formen der Sozialität zwischen Dingen und Menschen anbieten.

Deine Arbeiten bewegen sich oft an den Rändern des Choreografischen. Wie ist Dein Verständnis von Choreografie (und deren Erweiterung)?

Choreografie ist für mich die Komposition von Prozessen in Raum und Zeit. Diese Kompositionen können sich durch menschliche Körper ausdrücken, sie sind aber nicht darauf beschränkt. Ich beschäftige mich intensiv mit Choreografie von Körpern, aber noch mehr mit dem, was sozial und politisch zwischen menschlichen, nicht-menschlichen und übermenschlichen Körpern geschieht. Das Komponieren ist für mich ein öffentlicher Ausdruck von Fürsorge.

Das Schlagwort „Immersion“ wird im Kunstkontext in letzter Zeit inflationär gebraucht. Würdest Du Deine Arbeiten als „immersiv“ beschreiben?

Ich kann Deinen Zweifel gegenüber dem übermäßigen Gebrauch dieses Begriffs innerhalb der letzten zehn Jahre schon nachvollziehen. Viele Leute bezeichnen meine Arbeit als immersiv, und dem würde ich nicht widersprechen, aber ich neige dazu, sie affektiv zu nennen, indem ich die Erfahrung der Aufführung auf allen sensorischen Ebenen des Körpers durchdenke und zusammenstelle. Die spezifische Architektur der Atmosphäre oder Stimmung im Moment in dem ein Gast eintrifft, und wie sich diese Situation während des Besuchs eines Gastes verändert, ist das was mich in der choreografischen Arbeit interessiert.

Was interessiert Dich an der Arbeit mit Tanz, mit Körper?

Körper sind faszinierende Nicht-Dinge! Körper sind veränderliche, wandelbare, prozesshafte, magische, konzeptionelle und materielle Orte der Kollision und des Konflikts, der Synthese und Transformation. Es gibt nichts Stabiles, das universell als menschlicher Körper verstanden werden kann – wir können das an der Art und Weise beobachten, wie verschiedene Kulturen in verschiedenen Epochen die Erfahrung des Verkörpert-Seins verstanden, gelebt und ausgedrückt haben. Wenn du mit dem tanzenden Körper als Material arbeitest, kommst du mit dieser Hyperkomplexität voll in Berührung. Es ist eine Art Dichte, die geformt und modelliert werden kann. Der menschliche Körper ist mit so vielen Erinnerungen gefüllt, nicht nur Erinnerungen unserer heutigen menschlichen Kulturen, sondern auch unserer evolutionären Reisen, die uns dorthin gebracht haben, wo wir heute sind. Ich habe das Gefühl, dass all diese subtilen Informationen für mich und andere deutlich sichtbar werden, wenn ich beginne, Bewegung in und zwischen Körpern zu schaffen. Es ist bereichernd und aufregend,  und schafft neue und interessante Verbindungen zwischen Menschen, Dingen und Orten.

Seit 2021 bist Du auch Professorin für performative Künste an der HGB Leipzig und bewegst Dich zwischen Universität und Freie Szene, also auch hier ein Pendeln zwischen den Kontexten. Wie beeinflusst das Deine Arbeit?

Das Pendeln zwischen Kontexten ist das, womit ich mich am meisten zuhause fühle. Es war schon immer die Bedingung meines Lebens als Person, die mit einer afrodominikanischen Mutter und einem jüdisch-amerikanischen Vater in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist, und als jemand, der jetzt dauerhaft in Deutschland lebt und hier sowie international arbeitet. Was meine neue Rolle als Professorin angeht, habe ich das Gefühl, dass ich immer noch sehr dabei bin, mich zu orientieren und zu beobachten, was diese neuen Prozesse und Beziehungen bedeuten und wie sie sich auf mein Leben und meine Arbeit auswirken. Es gibt eine Menge zu verarbeiten. Es ist seltsam, als eine Person, die Prozesse der Standardisierung und Kategorisierung kritisch betrachtet, Mitarbeiterin einer Akademie zu werden, die in vielerlei Hinsicht in die Schaffung von Bildungsstandards in Spezialisierungsbereichen investiert hat. Ich nehme an, dass ich in diesem Fall, wie auch in anderen Bereichen meines Lebens und meiner Arbeit, eine Verantwortung als Brückenbauerin, Kommunikatorin, Vermittlerin und Übersetzerin von Codes zwischen der akademischen und der Freien Szene spüre, und das scheint für mich weiterhin ein kreativer Impuls zu sein.

Im Dezember wirst Du die Kantine der Sophiensæle zehn Tage lang im Rahmen der Wiedereröffnung bespielen. Kannst Du uns mehr darüber erzählen?

Ja, zusammen mit dem Bildenden Künstler Dirk Bell werde ich ein zehntägiges Programm für die Kantine der Sophiensæle entwickeln. Die Idee ist, sich vorzustellen und auszutesten, wie eine Kantine aussehen könnte und welche Rolle sie in der Zukunft der Sophiensæle und der umliegenden Nachbarschaft und Communities spielen könnte. Wir werden den Raum als einen Ort zum Verweilen, Faulenzen, Zuhören, Essen, Trinken, Lesen, Bewegen und Reden gestalten. Während des zehntägigen Eröffnungsprogramms der Sophiensaele wird er täglich von nachmittags bis abends geöffnet sein. Charmante Co-Gastgeber*innen und gelegentliche Gastköch*innen, Künstler*innen, und Musiker*innen werden sich zu uns gesellen. Dirk und ich werden kochen und mit Klängen, Gerüchen und Lichtern eine spezielle Atmosphäre arrangieren. Wir freuen uns darauf, ein wenig Wärme für die kalten und dunklen Tage im Dezember zu schaffen!

 

Trust the Process – Wiedereröffnung und Motto der Spielzeit 2023/24 der Sophiensæle

7. - 17. Dezember 2023

www.sophiensaele.com

 

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