Sich verirren ist auch ein Weg
Lina Gómez hat sich für ihre neue Arbeit "Vagarosas" mit dem Motiv der Bergwelt als Symbol für Bewegung, Kraft und Entschlossenheit beschäftigt. Für diesen Text verarbeitet sie ihre Erfahrungen der vorangegangenen Arbeitsresidenz in den chilenischen Anden und beschreibt ihren tanzkünstlerischen Zugang zur Natur.
Text: Lina Gómez
Choreografin und Tänzerin
Eine weite Landschaft, der Boden karg, aber fruchtbar, aus Steinen verschiedener Größe, Steine, die mit Luft gefüllt sind. Der Boden ist Lava, wie die Kinder sagen wenn sie spielen. Ja, es ist trockene Lava, die schon immer da war. Weiter vorne öffnet sich ein Horizont, weißliche Gipfel streicheln den Himmel, Vulkane aus anderen Regionen; es gibt sogar einen, der halb zu einem Land und halb zu einem anderen Land gehört. Bevor wir an diesem Ort ankamen, wurden wir vom grünen Laubwald erbrochen, bevölkert von der Sinnlichkeit der Flechten, die die Araukarienbäume umarmen, und den Lenga-Blättern mit ihren herzförmigen Adern. Das Herz beginnt stärker zu schlagen, ich spüre, wie mein Atem lauter und schneller wird, ich spüre den Rhythmus und vergrabe meine Füße im Boden aus kleinen Bimssteinen, vermischt mit Asche und Erde.
Es ist ein ständiges Ich, ein ständiges Wir. Koexistieren. Den Rhythmus der Gruppe zu spüren, meinen eigenen, den Rhythmus der Erde spüren.
Wir danken, wir bitten um Erlaubnis einzutreten, zu gehen. Ich will meine Nägel nicht schneiden, ich trage den Vulkan in ihnen.
Ich spiele damit, ein Berg zu sein, ein Vulkan zu sein, ich stelle mir vor, wer vorher da war, ich grüße unsere Vorfahren und denke an die Abfolge der Weltuntergänge, die sie erlebt haben. Die Erde ist kein Schmutz mehr, ich führe meine Hände ohne Angst zum Mund. Ich schmecke die Frucht, die meine Zunge violett färbt, ich lasse das Bild der tektonischen Platten durch meinen Körper vibrieren. Mein Körper dehnt sich aus, verschwimmt, vermischt sich. Wir finden einen schwarzen Gletscher, innen transparent, hart, aber tropfend, außen kleiden schwarze Vulkanasche und Sedimente ihn in Trauer. Eine vorweggenommene und andauernde Trauer um das, was es in einigen Jahren wahrscheinlich nicht mehr geben wird.
Ich lasse die Kraft des Wassers, das von oben aus einer undefinierbaren Quelle aufsteigt, mein Gesicht streicheln; ich betrachte es, ich bewundere es, ich tauche meinen Körper in seine transparente, aber geheimnisvolle Kraft ein, ich lebe das Wasser, den Berg, den Vulkan, den Wald, und ich lasse deren Existenz auf mich wirken, ich werde es, es wird ich. Ein Gefühl der Zeitdilatation, der Tag hat keine 24 Stunden mehr. Ich lasse meine Wahrnehmung verwirren, gebe mich dem Wahnsinn der Landschaft hin, dem Wahnsinn der Beziehungen, dem Miteinander der Individuen, die dieses ohrenbetäubende Kollektiv bilden.
Schöpfungsprozesse, Erleuchtungen, Ungewissheiten, Zuneigungen, Träume, Spekulationen. Ich verirre mich; sich zu verirren ist auch ein Weg.
Der Tanz ist diese Landschaft in die ich eintauche, die ich bewohne und in der ich bewohnt werde, in die ich gehöre, in der ich mich aber ständig verliere. Ich träume und gebe nicht auf, aber ich träume nicht allein, denn ohne Gefährt*innen, ohne Kompliz*innen bin ich niemand. Choreografie als unvollendete Geologie, die immer die anderen braucht, um sich Welten vorzustellen, die das braucht, was nicht erklärt werden kann, die die Bildung tektonischer Platten in ständiger Bewegung braucht, die Abgründe, Eruptionen, Gebirgsketten erzeugt, die sich über vergessene Territorien ausbreitet; Energien, die die Vorstellungskraft nähren, sich an der Krise, am Prekären erfreuen und sich selbst stärken, während sie kollektive Erinnerungen erzeugen. Eine Ökologie der Zuneigung, ein unendlicher Tanz. Die Gruppe als Metapher für die Welt, die ihre Vorstellung von Menschlichkeit verwischt und sich ständig verwandelt.
Wir vergessen, dass der Wald voller vergrabener Geschichten ist, Geschichten, die fliegen, die wir riechen, fühlten. Voller unendlicher Pluralitäten, die nebeneinander existieren. Wir vergessen, dass Berge sich bewegen und Flüsse atmen. Wir vergessen, wie wir betroffen sein können, wir vergessen unsere gemeinsame Sensibilität, wir vergessen, wie wir den Krater eines Vulkans betrachten und Flüsse durch unsere Augen fließen lassen, die uns reinigen, uns erweitern, uns eins werden lassen.
Wie Silvio Rodríguez in einem seiner Lieder sagt: "Lo más terrible se aprende enseguida y lo hermoso nos cuesta la vida." Nehmt euch Zeit zum Lernen, zum Beobachten; die Prozesse sind wertvoll, wir sind nicht allein, lasst uns uns verlieren, lasst uns spielen, lasst uns einander beeinflussen. Es ist möglich, Träume neu zu erfinden, mit Erwartungen Frieden zu schließen, gebrochene Herzen zu heilen, sich vorzustellen zu tanzen, ohne Angst, glücklich zu sein.
In Momenten, in denen die Welt untergeht, müssen wir an unsere Vorstellungskraft appellieren, die auszusterben scheint. Wo ist sie hin? Ich halte es für notwendig, wie Ailton Krenak sagt, "unsere Vorstellungskraft wieder aufzuforsten", uns gehen zu lassen, in die Möglichkeiten des Seins einzutauchen, in Umgebungen, in Möglichkeiten der Existenz, die sich von denen unterscheiden, in denen wir uns befinden. "Welten zu erfinden ist interessanter als die Zukunft zu erfinden".