Tanz in Kontexte verweben
Gabriele Brandstetter, die Mitbegründerin der universitär verankerten Tanzwissenschaft in Deutschland, wird als Professorin an der FU Berlin emeritiert. Susanne Foellmer und Kirsten Maar, die beide mit Gabriele Brandstetter gearbeitet haben, würdigen ihr Wirken und stellen ihre Forschung vor.
Text: Susanne Foellmer und Kirsten Maar
Tanzwissenschaftlerinnen
März 2005, Tanzquartier Wien. Auf dem Symposium „Inventory. Dance and Performance“ stellt der Künstler Mårten Spångberg die Panel-Teilnehmerin Gabriele Brandstetter vor. Er habe ihren Nachnamen in ein Word-Dokument eingeben, so Spångberg, doch seine Autokorrektur habe diesen nicht finden können und stattdessen den Begriff „Trendsetter“ vorgeschlagen.
In einem wegweisenden Band aus dem Jahr 2003 fasst Gabriele Brandstetter das Konzept der Figur in der Darstellung neu: Figuren gestalten und verändern sich in den Momenten ihres „Erfassens“, ihres Identifizierens „zwischen Figur und Grund“. Figuren zeichnen sich immer schon aus durch eine eigene Dynamik im Sinne von Bewegung, genauer, der des Kippens, sie sind nicht fixiert, nicht statisch.
Mit jenem kurzen Spotlight auf Gabriele Brandstetters theoretisches Universum – einem Denkmodell, das im bildgeschichtlichen eikones-Projekt in ihrer Zeit an der Universität Basel Kontur gewann – zeigt sich ein Denken, das die Tanzwissenschaft in den vergangenen gut drei Jahrzehnten maßgeblich geprägt, dynamisiert, vorangetrieben und, im Wortsinn, in Bewegung gebracht hat. Und dies nicht nur innerhalb der Universität, sondern immer auch im Austausch mit dem Forschungsgegenstand selbst: dem Tanz. Brandstetter hat dabei nicht nur das Feld der Wissenschaft verändert, sondern auch dem Tanz zu einer breiteren und vor allem zu einer präziseren Wahrnehmung verholfen.
Weit gefächerte Anschlussfähigkeit
Bereits ihre erste Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen war durch Herangehensweisen inspiriert, die aktuelle kritische Theorien und Diskurse mit künstlerischem Tun und Protagonist*innen aus Tanz, Theater und Performance verwoben
haben. Kaum in Berlin angekommen, sah man sie an Orten wie der TanzWerkstatt Berlin, beim Festival Tanz im August oder in Gespräche mit dem Staatsballett Berlin vertieft. Brandstetter’sche Tanzwissenschaft entfaltet sich genuin entlang der Bewegungen und Dynamiken zwischen Wissenschaft und (Tanz-)Kunst, zwischen Akademie und Bühne(n) – „Lever de rideau“, den Vorhang lüften, so hieß passender Weise der Titel ihrer Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin.
Mit der Gründung des deutschlandweit ersten Masterstudiengangs Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin im Jahr 2003 hat Gabriele Brandstetter dem Fach, in dem zuvor mehrheitlich traditionelle, biografische Ansätze sichtbar waren, eine dezidiert kulturwissenschaftliche Ausrichtung verliehen. Diese unterscheidet es von anderen, eher musikwissenschaftlichen oder soziologischen und ethnografischen Zugängen. So ermöglichte sie der Tanzwissenschaft eine weit gefächerte Anschlussfähigkeit, die sich in zahlreichen Kooperationen und Forschungsprojekten zeigt. Die interdisziplinäre Ausrichtung in andere Geisteswissenschaften half überdies, das Fach mit anderen Disziplinen und deren Diskursen zu verknüpfen und es zu öffnen.
Tanz und Theorie in Verbindung
Zuvor entwickelte Brandstetter 1993 in ihrer Habilitationsschrift „Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde“ im Rückgriff auf Mallarmés Idee der lecture corporelle eine ästhetische und wahrnehmungstheoretische Perspektive auf Bewegung, Rhythmus, Körper und Raum. Orientiert am Modell der Pathosformel von Aby Warburg analysierte sie hier die Beziehungen zwischen Bild und Bewegung und eröffnete der Tanzhistoriografie damit ganz neue Zugänge. Inzwischen wurde die Studie ins Japanische und Englische übersetzt.
Aus der Erfahrung der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen heraus war und ist Gabriele Brandstetter immer auch die enge Verbindung von aktuellen, kritischen Theorien, Diskursen und künstlerischer Praxis ein zentrales Anliegen: So galt eine der großen Konferenzen, die sie 2011 gemeinsam mit Gabriele Klein in den Uferstudios ausrichtete, dem Verhältnis von Tanz und Theorie.
Außerhalb des Elfenbeinturms
Gerade erst in Berlin angetreten, wurden die hier kurz skizzierten Perspektiven bereits anerkannt: 2004 vergab die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Leibniz-Preis an Gabriele Brandstetter. Sie ist im Übrigen eine der wenigen weiblichen Preisträgerinnen. Honoriert wurden damit ihre Verdienste in dem damals durchaus noch marginalen Fach der Tanzwissenschaft. Das Preisgeld war eine der Möglichkeiten, Tanzwissenschaft stärker in den Fokus zu rücken: Brandstetter etablierte damit das Zentrum für Bewegungsforschung an der FU Berlin. Weitere gesellschaftliche Anerkennungen folgten, so etwa das Bundesverdienstkreuz 2011.
Doch blieb Brandstetter zu keinem Zeitpunkt im „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft. Von Anfang an engagierte sie sich in den Entwicklungen der Berliner Tanzszene. So war sie involviert in die Fachkommission zur Gründung des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz (HZT) Berlin. Parallel dazu gründete sie in Kooperation mit der Akademie der Künste und dem DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) die Valeska Gert Gastprofessur an der FU: Hier wird die durchgehende Verflechtung von Theorie und Praxis innerhalb des Masterstudiengangs Tanzwissenschaft besonders deutlich. Die Studierenden haben die Gelegenheit, mit internationalen Künstler*innen wie Lia Rodrigues, Navtej Johar, Xavier Le Roy oder Mette Ingvartsen zusammenzuarbeiten – am 17. Januar 2022 wird die Arbeit der Studierenden mit Anna Huber in der Akademie der Künste präsentiert. Auch die Ballett- Universität, die sie 2011 gemeinsam mit Christiane Theobald vom Staatsballett Berlin initiierte, gehört zu den Aktivitäten, die ein breiteres Publikum dazu einladen, Tanzwissenschaft in Vorträgen und Einführungen durch Studierende und renommierte Forscher*innen in der Deutschen Oper zu erleben.
Vielfalt der Forschung
Nicht nur diese Kollaborationen sind letztlich auch ein Ausdruck dafür, dass der Studiengang vielversprechende Absolvent*innen und Doktorand*innen hervorgebracht hat, die inzwischen teils in der Berliner Tanzszene oder andernorts an Tanzinstitutionen arbeiten, und die an (inter-)nationalen Universitäten und Hochschulen in Forschung und Lehre ihr Wissen weitergeben.
Die Vielfalt der Brandstetter’schen Forschungsperspektiven und Aktivitäten, die immer auch in Teams stattfanden, lässt sich in einem kurzen Text wie diesem kaum wiedergeben. Sie reicht von der Beschäftigung mit somatischen Praktiken und Synchronisierungen im DFG-Schwerpunkt Ästhetische Eigenzeiten über Rührung und Berührung im Exzellenz-Cluster Languages of Emotion bis hin zu Reformulierungen des Virtuosen im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen.
Vielen dieser Forschungsfelder ist eines gemein: die Erweiterung des Choreografiebegriffs über das enge ‚Korsett‘ des Tanzes hinaus. So auch im Sonderforschungsbereich Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der FU. Hier wurde Choreografie als Verfahren der AnOrdnung untersucht, die als task oder Partitur und aus den daraus hervorgehenden raumzeitlichen Konstellation Prozesse strukturiert, die wiederum ästhetische Erfahrungen gestalten. Choreografie als Modell ließ sich aber auch in Schwarmbewegungen denken oder in Prognosen über Bewegung, einer Tagung, die Zukunftsentwürfe aus multidisiziplinären Perspektiven diskutierte – und 2011 im HAU stattfand, einmal mehr in Verbindung mit einem künstlerischen Programm, hier LIGNAs „Radio Ballett“.
Auf internationalem Terrain
All dies, und noch wurde kein Wort über das internationale Terrain verloren, auf dem sich Brandstetter bewegt, und das sie ebenfalls nachhaltig beeinflusst hat. Auch hier nur Highlights, wie etwa ihre Rolle im internationalen Forschungskolleg Interweaving Performance Cultures an der FU, das die Tanzwissenschaft in Berlin insbesondere um Perspektiven aus dem Globalen Süden bereichert hat. Oder große, internationale Konferenzen, die in Kooperation mit Berliner Institutionen und durch Förderung des Bundes zustande kamen, so etwa Tanz über Gräben. 100 Jahre „Le Sacre du Printemps“, die 2013 internationale Forscher*innen und Choreograf*innen im radialsystem zusammen- brachte.
Last but not least ereilten Brandstetter immer wieder Rufe ins Ausland. Als Gastprofessorin lehrte sie unter anderem an der Columbia University in New York, der Tokyo University, der Universität von São Paulo, in Princeton und an der Brown University oder an den Universitäten in Jerusalem und Tel Aviv.
Gabriele Brandstetter bringt das Wissen um, vom, im und über den Tanz in Bewegung, inspiriert den tanzwissenschaftlichen Nachwuchs und hat dem Fach einen zentraleren Platz im Reigen der Kunst- und Geisteswissenschaften eingeräumt. Und damit ist noch lange nicht Schluss: Ab Januar wird sie im Rahmen eines neuen Sonderforschungsbereichs an der FU ihre Verflechtungen von Tanz und Theorie in Intervenierenden Choreographien fortsetzen und im Frühjahr geht es wieder nach New York an die NYU. Es ist also noch einiges an Bewegungen zu erwarten.