Die Sprache des Zugangs ist ko-kreativ
Nicht ohne Behinderung: Plädoyer für eine diverse und barrierefreie Tanzszene.
500 Tanzschaffende, versammelt zum state of the art der Tanzkunst: so geschehen Anfang Juni im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau beim Tanzkongress. Veranstaltet von der Kulturstiftung des Bundes, leitete den Tanzkongress – erstmals seit der Neuauflage des in den 1920ern begründe- ten Formats im Jahr 2006 – eine Künstlerin, die in Berlin lebende US-amerikanische Choreogra-
fin Meg Stuart. Vor Ort von Respekt und Gemeinschaftsgeist getragen, hatte das Event durchaus exklusive Züge: limitierte Plätze, Verpflichtung zur durchgängigen Anwesenheit, keine Vorabinformation zum Programm – und eingeschränkte Zugänglichkeit. Gegen diese Beschränkungen interve- nierten vier für mehr Diversität engagierte Tanzschaffende in der Abschlussrunde. „Wer kann nicht da sein? Wer ist aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen?“, fragen sie jetzt auch in ihrem Plädoyer für den Abbau von Barrieren, in dem sie den Tanzkongress, die Gründe für ihre Intervention und ihre Forderungen noch einmal Revue passieren lassen.
Gerda König – DIN A 13 tanzcompany, Anna Mülter – Tanzkuratorin, Perel – Künstler*in und Noa Winter – Kuratorin
Wir schreiben das Jahr 2019 und begehen das zehnjährige Jubiläum der deutschen Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, die neben der gesamtgesellschaftlichen auch ganz explizit die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung garantieren soll. Dennoch fand im Juni diesen Jahres im Festspielhaus Hellerau der Tanzkongress, das wohl wichtigste Vernetzungstreffen der (inter-)nationalen Tanzszene, (fast) gänzlich ohne die Beteiligung behinderter Künstler*innen statt. Ein Barrierefreiheitskonzept gab es nicht. Dies ist besonders erschreckend, da allein die finanzielle Förderung dieser Großveranstaltung durch die Kulturstiftung des Bundes fast eine Million Euro betrug. Mit einem Offenen Brief, der in deutscher und englischer Sprache auf nachtkritik.de veröffentlicht ist, und einer Intervention während des Abschlussplenums machten die Verfasser*innen dieses Artikels, unterstützt von mehr als 40 Choreograf*innen und Kunstschaffenden mit Behinderung, auf diese Missstände aufmerksam.
Barrierefreiheit von Beginn an mitdenken
Förderinstitutionen, vor allem wenn sie mit öffentlichen Geldern arbeiten, tragen hier eine besondere Verantwortung: Dabei geht es nicht darum, den Veranstalter*innen detaillierte Vorschriften zu machen oder gar Verbote gegen einzelne Veranstaltungsorte (wie das Festspielhaus Hellerau, das aktuell nur zum Teil rollstuhlzugänglich ist) auszusprechen. Jedoch sollte die Vergabe von Fördergeldern an die Erarbeitung eines Barrierefreiheitskonzepts und – insbesondere bei Großveranstaltungen mit Vernetzungscharakter wie Kongressen und Festivals – den Einbezug behinderter (und anderer marginalisierter) Künstler*innen gebunden sein. Um dies zu verwirklichen, müssen bezahlte Beratungsgespräche mit Diversitätsexpert*innen Teil der Planungsarbeit sein, damit Institutionen transparent mit vorhandenen Barrieren umgehen und Veranstaltungen zugänglicher werden können.
Deswegen ist es an der Zeit, dass Institutionen ihre Mitarbeiter*innen zu Barrierefreiheit und Ableismus (der Beurteilung von Personen anhand normativer Fähigkeiten, die zur strukturellen Diskriminierung behinderter Menschen führt) schulen lassen. Von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Technik, dem Vorderhauspersonal bis hin zur künstlerischen Leitung darf sich keine Person der Verantwortung für diese Thematik entziehen. Darüber hinaus ist es dringend notwendig, pro Spielstätte, Festival etc. mindestens eine Person zu benennen und gegebenenfalls neu einzustellen, die sowohl innerhalb der Institution für Mitarbeiter*innen und Künstler*innen als auch nach außen für das Publikum für Barrierefreiheitsbelange ansprechbar ist. Barrierefreiheit darf nicht länger als nachträglicher Zusatz und Belastung betrachtet werden, sondern muss von Anfang an selbstverständlicher und elementarer Bestandteil der Veranstaltungsplanung sein.
Dabei darf das Verständnis von Barrierefreiheit nicht bei Rollstuhlzugänglichkeit enden. Eine solche Auffassung würde der Diversität von Künstler*innen mit Behinderungen widersprechen und erneut zahlreiche künstlerische Ästhetiken, gelebte Erfahrungen sowie ein breites Publikum ausgrenzen. Behinderte Künstler*innen nutzen nicht nur Rollstühle, sondern auch Gehstöcke, Krücken, Gebärdensprache, Audiodeskription, Leichte Sprache, technische Hilfsmittel und neue Formate wie Relaxed Performances, die in entspannterer Atmosphäre nicht-normatives Publikumsverhalten (wie Bewegungen, Geräusche und Ticks) begrüßen. Gleiches gilt für Zuschauer*innen: Sie sind körperbehindert, blind, gehörlos, haben Lernbehinderungen, sind psychisch krank, neurodivers oder chronisch krank.
Fortschreibung von Diskriminierungen?
Dass es sich hierbei um ein strukturelles Problem handelt, zeigt die Formulierung ganz ähnlicher Forderungen durch die Künstler*innen Tanja Erhart, Nina Mühlemann und Jeremy Wade im Rahmen des diesjährigen _ImPulsTanz_-Festivals in Wien. Für die Veränderung der Tanzszene braucht es nicht nur die Anerkennung von Choreograf*innen und Tänzer*innen mit Behinderung, es braucht genauso behinderte Kurator*innen, Dramaturg*innen und nicht zuletzt auch Kritiker*innen. Denn die Sprache über die Arbeit von behinderten Künstler*innen prägt unser Bild von Behinderung ebenso wie die Arbeiten selbst. Wenn Krankheit und Behinderung verwechselt, Diagnosen ohne Einverständnis veröffentlicht und stereotype Zuschreibungen wie Kindlichkeit bei kleinen Personen wiederholt werden, tragen Rezensionen zu einer Fortschreibung von Diskriminierungen bei.
Bereits ein kurzer Blick auf die Homepage des Projekts Leidmedien.de und deren Leitlinien zu sensibler Sprache über Behinderung kann hier Abhilfe schaffen. Begriffe wie Handicap, anders fähig oder besondere Bedürfnisse, die nicht der Selbstbezeichnung entsprechen, sind veraltet, verletzend oder schlicht und ergreifend falsch. Und Choreograf*innen tanzen nicht „trotz“, sondern „mit“, wenn nicht sogar manchmal „wegen“ ihrer Behinderung und erweitern dadurch den zeitgenössischen Tanz um neue Ästhetiken, Inhalte, Arbeitsweisen und Körperbilder.
Potential, den Tanz zu erweitern
Die Choreografin Gerda König beschreibt dieses Potential wie folgt: „Tanz ist eine Sprache der Bewegung, ein Dialog über Körper und deren Ausdrucksqualität, ein Medium, welches sich über ein faszinierendes System von Haut, Knochen, Anspannung von Sehnen und Muskeln gestaltet und hierüber mit dem Betrachter kommuniziert. Das physische Potential ‚anderer‘ Körper hinterfragt die Normideale des zeitgenössischen Tanzes und bereichert ihn durch neue Impulse. Das Interesse an neuen Bewegungsqualitäten im choreografischen Vokabular wächst seit vielen Jahren deutlich und stellt die ästhetische Erfahrung normabweichender Körper noch einmal ganz deutlich in den Vordergrund.”
Dieses Interesse darf aber nicht dazu führen, dass das Bewegungsmaterial behinderter Körper einfach auf nicht-behinderte Tänzer*innen übertragen wird. Eine solche Aneignung wird als „Cripping Up“ bezeichnet und schlägt Profit aus der Faszination normabweichender Körperlichkeiten (wie z.B. spastischen Bewegungen), denen außerhalb der Bühne mit Wegsehen, Anstarren oder sogar offenem Abscheu begegnet wird. Durch den häufigen Einsatz dieser Darstellungspraktik wird der Ausschluss von Künstler*innen mit Behinderung noch verstärkt.
Reform der Ausbildung: im Gange
Vor diesem Hintergrund ist die Einbeziehung und Auseinandersetzung von Tänzer*innen und Choreograf*innen mit Behinderung für die Erforschung und Weiterentwicklung des Tanzes unverzichtbar. Dies betrifft nicht zuletzt auch die Ausbildung. Erste Schritte hierzu geht die DIN A 13 tanzcompany mit dem M.A.D.E.-Programm, das die inklusive Praxis in das Curriculum der Tanzhochschulen bringen und somit Tänzer*innen mit Behinderung zukünftig eine universitäre Ausbildung eröffnen will.
Auch das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz in Berlin hat bereits einzelne behinderte Studierende aufgenommen und arbeitet daran, die Öffnung seiner Ausbildungsgänge strukturell anzugehen. Dazu will auch das von Tanzpakt Stadt-Land-Bund geförderte Weiterbildungsprogramm Making A Difference beitragen, zu dem sich acht Berliner Institutionen zusammengeschlossen haben. Denn eine selbstbewusste und sichtbare Community von Tänzer*innen und Choreograf*innen mit Behinderung verändert langfristig die gesamte Tanzszene.
Aufregendes Wissen zulassen
Perel, behinderte*r Künstler*in, skizziert diese Veränderung: „Jede*r von uns hat einen Körper und einen Geist. Aus diesem Grund können wir eine Beziehung zu allen aufnehmen, die Körper und Geist haben. Einige von uns müssen nicht täglich darüber nachdenken, was das bedeutet, aber andere von uns sind sich dessen in jedem Moment ihres Tages bewusst. Diejenigen von uns, die sich dessen bewusst sind, wissen Dinge, die andere nicht wissen und sich niemals vorstellen können zu wissen. Ist das nicht aufregend? Ich meine aufregend im Sinne von ‚Oh nein, wie rede ich mit dieser Person? Wie erkenne ich an, was ich nicht weiß? Wie kann ich die alltägliche Erfahrung dieser Person begreifen? Wie schaffe ich es, nicht erschreckt von dieser Realität zurückzuweichen, die so anders ist als meine?‘
Mit aufregend meine ich auch riskant. Und Veränderungen sind nicht ohne Risiko möglich. Was bist du bereit zu riskieren, um jemanden zu kennen oder gekannt zu werden? Wird es dich verändern? Wirst du das zulassen? Was passiert, wenn du es zulässt? So entsteht die Sprache des Zugangs. Das sind nicht die Anderen und dieser Körper und dieser Geist dort. Das sind wir und unsere Körper und unser Geist. Es ist nicht: ‚Wenn ich mich um dich kümmere, ohje, dann muss ich mich auch um dich kümmern und um dich und um dich.‘ Sondern eher: ‚Ich kann diese Arbeit nicht ohne dich machen‘ oder ‚Ich brauche dich hier bei mir‘. Die Sprache des Zugangs ist ko-kreativ, es ist kein einseitiges Geben oder Nehmen. Indem wir in der Sprache des Zugangs kommunizieren, schaffen wir uns gegenseitig einen Ort zum Leben. Ohne sie sind wir unvorstellbar unvollständig.”