Verlässliche Konstanten
Wie Tanzinitiativen dazu beitragen, Kinder und Jugendliche auch im Lockdown körperlich und mental in Bewegung zu halten.
Keine Schule, kaum Freunde, kaum Freizeitaktivitäten, zudem anhaltende Unklarheit darüber, wann es wie weitergeht: Kinder und Jugendliche waren und sind durch die Lockdowns besonders belastet. Bewegungsmangel und stark reduzierte soziale Kontakte zu Gleichaltrigen wirken sich auf ihr Wohlbefinden und damit auf ihre Entwicklung aus. Initiativen wie TanzZeit und
TANZKOMPLIZEN sind in die Lücke gesprungen und haben Online-Programme aufgelegt, um junge Menschen zu bewegen. Christine Matschke hat sich dazu umgehört.
Text: Christine Matschke
Tanzjournalistin
Die Lockdown-Zeit hat das Bewegungsverhalten von Kindern verändert. Der Sportunterricht entfällt, aber auch alltägliche Wege zur Schule oder zu Freund*innen finden nicht mehr oder nur noch sehr reduziert statt. Gerade Jugendliche, die aufgrund der Pubertät oftmals ohnehin schon schwer zu motivieren sind, dürften so kaum aktiver werden. Das Homeschooling vor dem Bildschirm – sofern die technischen Mittel dazu vorhanden sind – holt in der Einsamkeits-Gap der digitalen Schulpausen bestenfalls die fehlende Peer Group per Chat nach Hause. Mit Sicherheit aber macht es mental und physisch alles andere als munter.
Von Erfahrungen aus dem ersten Lockdown profitieren
Ganz und gar nicht ermüdend wirkt dagegen das Online-Programm, das das Projekt TanzZeit für sein schulpflichtiges Publikum coronabedingt auf die Beine gestellt hat. Mit einem TanzZeit-Padlet, dem „digitalen Pendant zum Tanzunterricht“ – den Livia Patrizi und ihr Team übrigens bereits seit 2005 in verschiedenen Berliner Kooperationsschulen anbieten – findet sich mittlerweile eine beachtliche Palette an Bewegungsanregungen. Für jedes Bewegungsanliegen ist hier etwas dabei, zum Warmwerden, „Länger bewegen“ und „Improvisieren“, aber auch zum „Tänze selber ausdenken“ und Erstellen von Tanzvideos. „In unseren Tanz in Schulen-Projekten profitieren die Tanzvermittler*innen von den Erfahrungen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Es gibt ja schon ein paar erprobte digitale Formate und Strategien, um die Schüler*innen in ihrem Schulalltag zuhause trotzdem in Bewegung zu bringen – sei es als Online-Tanzunterricht oder als Videoaufgaben über schuleigene Plattformen“, erzählt Ann-Kathrin Reimers im Mailinterview.
Die TanzZeit-Projektleiterin nimmt zurzeit stellvertretend für das gesamte Team als Partnerin am Projekt reconnect participative dance von Aktion Tanz – Bundesverband Tanz in Bildung und Gesellschaft teil, das nach den Möglichkeiten digitaler Tanzvermittlungsformate auch jenseits des Lockdowns sucht: „Spannend ist ja, wie man die Online-Möglichkeiten auch künstlerisch nutzen kann und die Formate nicht nur als ‚Ersatz‘ für das Zusammentreffen in Präsenz sieht.“ Ein Workshop dieses Projekts etwa beschäftigt sich mit Breakout-Sessions, den digitalen ‚Nebenräumen‘ für kleine Gruppen in einem e-Meeting, und der Frage, wie sich diese als digitale Räume zur Duett-Gestaltung nutzen lassen.
Um die Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen unter der aktuellen Situation aufrecht zu erhalten, ist TanzZeit in den Schulprojekten auf das Lehrpersonal angewiesen. Hat dieses gute und funktionierende Kontaktwege zu seinen Schüler*innen, können auch die Tanzvermittler*innen im Austausch mit den Klassen bleiben. Um die Verbundenheit zu den Schüler*innen zu stärken, wurde für die hauseigene TanzZeit Jugendcompany ein neues Konzept entwickelt, wie Florian Bilbao berichtet: „Erstmals bieten wir drei jungen Tänzer*innen die Möglichkeit, als Mentor*innen mitzuwirken und als Schnittstelle zwischen den Jugendlichen und mir zu agieren.“ Mit ihnen hat der Company-Co-Leiter und Choreograf bereits das mobile Tanzstück „WE transfer #1“ erarbeitet, das vor Beginn des zweiten Lockdowns immerhin zweimal aufgeführt werden konnte. Ein geplanter Tanzvideowettbewerb soll weitere Nachwuchstalente anlocken.
Ventil für Ängste und Einsamkeit
Amelie Mallmann, die Tanzvermittlerin bei den TANZKOMPLIZEN ist – ein an die TanzZeit angegliedertes Projekt, das mit professionellen Choreograf*innen Tanzstücke für ein junges Publikum entwickelt – ist Mutter einer achtjährigen Tochter. „Die Frage die sich in Corona-Zeiten ständig stellt: Was tun mit den Kindern, die zuhause sind?“ In Eltern-Zoom-Meetings der Schule hat sie sich ausgetauscht. Und durch ihre Tochter ganz direkt erfahren, wie schwer es sein kann, Kinder in der aktuellen Situation zu etwas zu motivieren. Einfacher sei es geworden, als diese von sich aus auf Ideen gekommen sei: „Klar fehlen Mika die anderen Kinder, aber wenn sie für sich tanzt, ist sie im Flow und vergisst die einsame Situation. Sie braucht dann für einen Moment keine Außenwelt.“ Tanz, so die nicht neue, aber doch zeitgemäße Devise, ist eine der besten Möglichkeiten, um mit sich und den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Blockaden spielerisch in einen Dialog zu kommen. Und das funktioniert vorübergehend auch mal ohne weitere Personen.
Während die TANZKOMPLIZEN im ersten Lockdown vor allem Stücke streamten, bietet Amelie Mallmann nun gemeinsam mit ihrer Tochter Bewegungsworkshops via Zoom an. Dabei setzt sie mit ganz unterschiedlichen Bewegungsansätzen, wie etwa der Expressive Arts Therapy von Daria Halprin, auf körperliche Verausgabung: „Es ist mir wichtig, die Kinder aus ihrer Komfortzone herauszuholen und sie ins Schwitzen zu bringen. Ich bin überzeugt, dass das hilft, Energien freizusetzen und auch Aggressionen zu verarbeiten, die es derzeit bestimmt in jeder Familie gibt.“
Ein kreatives Ventil für unangenehme Gefühle bietet auch der Tanzstil Krump, dem die TANZKOMPLIZEN in ihrer neusten Produktion „A Human Race“ eine Plattform bieten (siehe Beitrag Seite 18). Bis diese zur Aufführung kommen kann, gibt es auf dem TanzZeit-Padlet einen Einführungs-Workshop, in dem man so einiges über die Entstehung dieses sich gegen soziale Ungleichheit wendenden Tanzstils erfährt und diesen auch ganz praktisch ausprobieren kann.
Wenn Kinder (und natürlich auch Erwachsene) den Bezug zum eigenen Körper erhalten, bewahren sie Fähigkeiten wie Entspannung, Bewegungsfreude, Beweglichkeit und Koordination – alles wichtige Tools, um sich in schwierigen Situationen selbstwirksam zu fühlen und aktiv Stress abzubauen. Durch die Online-Vermittlungsangebote von TanzZeit und TANZKOMPLIZEN erweist sich der eigene Körper nicht nur als eine verlässliche Konstante, um mit sich selbst und anderen im Austausch zu bleiben, sondern auch als eine Möglichkeit, mehr Freude und Konzentration in den nurmehr zuhause stattfindenden Alltag zu bringen.
Hier geht's zum TanzZeit-Padlet.