edition March/April 2021

Schöpferische Kraft

Über Krump und Grichka Caruges Bühnenstück „A Human Race“.

Als Geisterpremiere wurde Grichka Caruges Krump-Stück „A Human Race“ am 21. Januar 2021 in der Schillertheater-Werkstatt uraufgeführt. Eigentlich sollte es im Rahmen von PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum gezeigt werden. Doch: Corona. PURPLE ist vorerst verschoben, „A Human Race“ haben bislang nur wenige Personen live gesehen. Lucia Matzke, selbst Krump-Tänzerin, war dabei und berichtet.

Text: Lucia Matzke
Tänzerin und Autorin

Im Sommer 2020 beginnt die Berliner Initiative TANZKOMPLIZEN etwas zu organisieren, das ich und alle anderen der Berliner Krump-Community kaum glauben können: Sie holen Krump auf die Bühne und zwar nicht nach Paris oder NRW, sondern zu uns, nach Berlin. Als Choreografen engagieren sie Grichka Caruge, einen in der Szene weltweit bekannten Krump-Tänzer aus Paris. Ermöglicht haben das die TANZKOMPLIZEN in einem Jahr, in dem alle internationalen Events, von denen die Krump-Szene lebt, Corona-bedingt abgesagt werden müssen. Was für ein Lichtblick in einer scheinbar aussichtslosen Zeit!

Jenseits des Entertainments

Krump kommt von der Straße, aus L.A., und kann als eine Widerstandsbewegung angesehen werden. Erschaffen von jungen Tänzer*innen, die ein Ventil für die negativen Emotionen suchten, die sich ansammeln, wenn man in einem von sozialer Ungleichheit, Gewalt und Rassismus geprägten Alltag aufwächst.

Viele der kennzeichnenden Bewegungen im Krump werden mit solch einer Explosivität ausgeführt, dass Krump auf den ersten Blick aggressiv erscheint: „Stomps“ erinnern an ein Aufstampfen, das mit Wut assoziiert werden könnte. „Jabs“ wiederum ähneln einem schnellen Faustschlag. Betrachtet man den Entstehungshintergrund, dann verwundert es nicht, dass diesem Tanz eine gewisse Härte innewohnt.

Krump geht aber weit über das Ausdrücken von Aggression oder negativer Energie hinaus. Und Krump wurde auch nicht dazu erschaffen, um Leute zu unterhalten oder Zuschauende zu beeindrucken, auch wenn die Begründer*innen ehemalige Clown-Tänzer*innen sind. „Tommy the Clown“ zog durch die Nachbarschaft von L.A. und unterhielt die Menschen mit Tanzeinlagen, angemalt wie ein Clown, um so einen positiven Beitrag in seiner Community zu leisten. Zugleich holte er Jugendliche von der Straße und bildete sie ebenfalls zu Clown-Tänzer*innen aus.

Supportsystem für Lil Homies

Tommy & Co. wandten sich vom Entertainment ab – Krump war in erster Linie für die Tänzer*innen selbst gedacht. Was vom Clowning blieb, war der Ansatz, Tanz zu nutzen, um nicht vom richtigen Weg abzukommen. Innerhalb der Krump-Community gibt es „Fams“ – Familien. Jede „Fam“ hat eine*n „Big Homie“ und mehrere „Lil Homies“. Der (oder die) Big Homie fungiert als Mentor*innenfigur, die ihren Lil Homies Krump, aber auch Werte vermittelt.

Feeling, Individualität und Ausdruck sind, anders als in vielen anderen Tanzstilen, wichtiger als Technik. Die bloße Ausführung Krump-typischer Bewegungen reicht nicht aus. Viel entscheidender ist die eigene Sinngebung für diese Bewegungen, die Intention oder das Gefühl dahinter, das jede Person für sich selbst finden muss.

Krump ist ein Freestyle-Tanz und in einer Freestyle-Session geht es darum, über sich hinauszuwachsen. Die tanzende Person wird von den Umstehenden angefeuert. Durch diesen „Hype“ kommt es zu einem intensiven Energieaustausch, der es den Tanzenden ermöglicht, die eigenen körperlichen oder mentalen Grenzen zu überwinden. Der Hype ist nicht darauf reduziert, besonders krasse Moves durch das Anfeuern anzuerkennen, wie es in anderen urbanen Stilen üblich ist. Die Zuschauenden sind Teil des Dialogs. Die tanzende Person gibt etwas, das Publikum antwortet mit Hype, und die Energie steigert sich so immer höher und höher. Den Höhepunkt in so einer Session-Runde nennt man Get-Off. Wie in einer Art Trance machen Krump-Tänzer*innen hier Dinge, zu denen fähig zu sein sie selbst nicht glaubten.

Dieser gegenseitige Support findet sich nicht nur in der Session, sondern geht darüber hinaus: Es ist eine soziopolitische Praxis, die jungen Menschen auf der ganzen Welt eine familiäre Struktur und einen Zufluchtsort bietet.

Potenzial für mitreißenden Austausch

So wurde ein Stil erschaffen, der die Menschen nicht nur unterhält, sondern mitreißt. Wie ich als Tänzerin weiß: Eine Krump-Session ist ein ergreifendes Erlebnis. Livia Patrizi, Dramaturgin von „A Human Race“ und Künstlerische Leitung der TANZKOMPLIZEN, wurde ebenfalls mitgerissen. Sie erzählt von einem Tanzaustausch-Projekt für Jugendliche aus Berlin und Paris im Jahr 2012: „Die Jugendlichen aus Paris waren alle Krumper*innen, darunter auch ­Émilie, die mir dann acht Jahre später den Kontakt zu Grichka verschafft hat. Es war meine erste Begegnung mit Krump, und seit damals wollte ich mehr davon sehen, denn mich hat Krump sofort stark angesprochen.“ Im Februar 2020 traf Livia Patrizi Grichka Caruge in Paris und fragte ihn, ob er ein Krump-Stück für die Bühne choreografieren möchte. Sie erkannte das Potenzial von Krump: „Die zeitgenössische Tanz-Szene und ihr Publikum können sehr davon profitieren.“

Grichka sagte zu. Und so schaffen die TANZKOMPLIZEN im Rahmen der Offensive Tanz für junges Publikum Berlin, in Kooperation mit der französischen Cie Art-Track und PURPLE, neue Möglichkeiten für diesen jungen Tanzstil, sich weiterzuentwickeln und neu zu präsentieren. 

Grichka Caruge ist nicht nur ein international bekannter und erfolgreicher Krumper, sondern sammelte bereits im jungen Alter Bühnenerfahrungen in Ballett und HipHop, die er nun nutzt, um Krump auf einer neuen Ebene zu etablieren: der Theaterbühne. In „A Human Race“ bringt der Tänzer und Choreograf scheinbare Gegensätze zusammen, um etwas Neues, Einzigartiges und Kraftvolles zu schaffen, wie er sagt: „Das Gefühl von Krump auf der Straße ist sicher anders als auf der Bühne, weil man vor einem Publikum auftritt und so in eine andere Beziehung miteinander geht. Auch die Effekte und Lichteinstellungen wirken sich sicher auf den Tanz aus. Aber ich glaube, dass Krump schon vom Charakter her sehr kraftvoll ist.“

Die Essenz wahren

Gemeinsam mit fünf Tänzer*innen aus der internationalen Krump-Szene – Luka Austin Seydou, Solomon Quaynoo, Rochdi Alexander Schmitt, Mark Sheats und Émilie Ouedraogo Spencer, die Livia Patrizi den Kontakt zu Grichka Caruge vermittelt hatte – erzählt der Choreograf eine Geschichte des Empowerments. Das Ganze geschieht zu klassischer Musik, genauer genommen einem Stück von Igor Strawinsky. Ich, als einzige Krump-Tänzer*in im kleinen Publikum der Geisterpremiere, werde von der ersten Sekunde an in den Bann gezogen. Diese mitreißende Kraft, die Krump innewohnt, nimmt mich ein, obwohl ich, anders als in einer Session, diesmal von außen auf die Tanzenden schaue.

Ich höre das Strawinsky-Stück zum ersten Mal und bin tief beeindruckt, wie die Tänzer*innen es schaffen, die Essenz von Krump zu wahren und gleichzeitig die Musik zu verkörpern. Grichkas Ansatz ist genau das: „Ich kreiere alle Stücke mit der Musik. Sobald ich also die Musik habe, bin ich in der Lage, zu kreieren, mich von der Musik inspirieren zu lassen und die Struktur zu finden, die mit dem Thema zusammenhängt, über das wir sprechen müssen.“

In einem großen Kreis stehend oder hockend beginnen die Tänzer*innen ihren Dialog. Eine Mischung aus Frage und Antwort, gemeinsamen Bewegungen, einzelnen Ausbrüchen sowie em­powernden Momenten, die an eine Session erinnern – und alles wird nahezu perfekt auf die Musik umgesetzt.

Grichka hat zwar bereits Krump-Stücke choreografiert, jedoch nie im Rahmen einer Theaterinstitution. „A Human Race“ ist ein weiterer Schritt für ihn, in diese Richtung zu gehen: „Das ist der Weg, den ich jetzt zu gehen versuche, nämlich Krump auf die Bühne zu bringen. Ich benutze all meine Erfahrungen im Tanz, mit und auf den Bühnen, die ich während meiner Karriere gemacht habe, und wende sie auf Krump an. Krump bringt immer ein anderes Ergebnis, weil es eigene Codes hat. Für mich ist es wichtig, Krump in seiner Essenz nicht zu verändern, auch wenn wir auf der Bühne stehen oder verschiedene Arten von Musik verwenden.“

„A Human Race“ zeigt einen Weg, wie man, obwohl man sich mitten in einer Krise befindet, kreativ sein kann – weg von den Umständen, zurück zu sich selbst. Das ist die schöpferische Kraft, die Krump in sich trägt.

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