edition March/April 2021

Es reißt an allen Enden

Michael Freundt vom Dachverband Tanz Deutschland über die Corona-Hilfen für Tanzschaffende und die Aussichten für die Kulturförderung.

Ein Jahr eingeschränkter Tätigkeit und langer Lockdowns liegt hinter der Kultur. Ein Jahr ohne nennenswerte Einnahmen für viele Tanzschaffende. Um die akuten Finanznöte insbesondere der selbständigen Künstler*innen etwas abzumildern, sind allenthalben Förderprogramme aufgelegt worden, vom Bund, den Ländern und Kommunen. Doch längst nicht alle, die derzeit ihren Beruf nicht ausüben können, profitieren von diesen Hilfen. Dabei werden die Gelder eigens über Organisationen ausgereicht, die sich in den jeweiligen Sektoren auskennen. Wie die Mittel vergeben werden und woran es hapert, erzählt Michael Freundt, der Geschäftsführer des Dachverband Tanz Deutschland. Als eine der Mittlerorganisationen verteilt der Dachverband in einem jurybasierten Antragsverfahren Gelder aus dem Bundesprogramm Neustart ­Kultur an Tanzschaffende.

Interview: Elena Philipp
Redakteurin tanzraumberlin

Ein Jahr Lockdown bedroht für viele Kunstschaffende ihre Arbeitsexistenz. Welche Hilfsprogramme sind für Künstler*innen im Bereich Tanz zugänglich?

In Berlin gab es zu Beginn der Spielstättenschließungen im vergangenen März die Soforthilfen, das Land hat außerdem Stipendien eingerichtet. Im Rahmen des Bundesprogramms Neustart Kultur hat der Fonds Darstellende Künste etliche Maßnahmen aufgelegt, für Produktionen und Strukturvorhaben, aber auch für Wissenstransfer oder Audience-Development. Wir vom Dachverband Tanz Deutschland vergeben ebenfalls Neustart Kultur-Mittel. Unser Programm DIS-TANZEN, das sich an Einzelkünstler*innen und Tanzschulen richtet, läuft derzeit schon in der dritten Antragsrunde.

Wie viele Anträge haben den Dachverband erreicht?

In der ersten Runde hatten wir knapp 500, in der zweiten Runde fast 1.000 Anträge, wovon 40 Prozent aus Berlin kamen – ein Zeichen für die hier sehr große Zahl an Tänzer*innen und Choreograf*innen, aber auch an Pädagog*innen, Tanzpublizist*innen, Produzent*innen oder Techniker*innen. Für uns ist wichtig, dass wir nicht nur den künstlerischen Bereich meinen, sondern alle, die damit verbunden sind. Das schließt zum Beispiel Tanzschulen mit ein, auch Gesellschaftstanzschulen. Sie alle sind betroffen, ihnen fehlen Einnahmen oder Projekte und die damit verbundenen Honorare.

Das Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO wendet sich an soloselbständig tätige Tanzschaffende. Diese hat der Lockdown mit am härtesten getroffen. Unter welchen Bedingungen werden bei DIS-TANZ-SOLO die Gelder vergeben?

Wir vergeben eine Projektförderung. DIS-TANZ-SOLO ist kein richtiges Stipendium, sondern eine Förderung, bei der man monatlich einen fixen Betrag für die eigene Arbeit bekommt. Die Tanzschaffenden können verschiedene Beträge beantragen, von 4.500 Euro für drei Monate bis hin zur Maximalsumme von 12.000 Euro für acht Monate. Das verbindet sich mit einem Antrag, mit dem Mittelabruf, einem Sachbericht und dem Verwendungsnachweis – also schon einem bürokratischen Aufwand. Aber dafür lässt sich eine DIS-TANZ-SOLO-Förderung mit Stipendien des Landes Berlin kombinieren. Das ist für viele notwendig, weil eine einzelne Förderung nicht ausreicht, über elf, bald zwölf Monate zu kommen.

Wie viele der eingereichten Anträge konnten bewilligt werden?

In der ersten Runde konnten wir 170 Anträge im Solo-Bereich fördern, das waren 40 Prozent. In der zweiten Runde hatten wir doppelt so viele Bewerbungen und konnten nur 20 Prozent fördern. Wir merken, dass viele Tanzschaffende immer noch durch das Raster fallen, das von den verschiedenen Förderprogrammen abgedeckt wird. Abhilfe schaffen soll hier ein Mittelaufwuchs, eine weitere Milliarde im Bundesprogramm Neustart Kultur ist angekündigt. Und wir wollen in der dritten Antragsrunde zusehen, dass bei den eingereichten Anträgen auch soziale Aspekte berücksichtigt werden.

Inwiefern?

Wir wissen von allen Antragstellenden, dass sie aus der Not heraus eine Förderung beantragen. Trotzdem wägen sie ab, wie viel Zeit sie dem Projekt widmen können, das sie vorschlagen. Diese Selbsteinschätzung halte ich für realistisch. Aber auch wenn sie alle ihre Projekte genau beschreiben, wissen wir: Der Antrag hat ein soziales Moment, das der Einkommenssicherung. Bislang hat die Jury stark nach den Konzepten der Antragstellenden gefragt, wie sie nicht nur für sich über die Runden kommen, sondern ihre Arbeitsergebnisse auch mit der Tanzszene, mit anderen Tanzschaffenden teilen werden. Sehr viele Künstler*innen konnten nicht berücksichtigt werden, was schmerzhaft ist. Mit mehr Geld könnten wir sagen: Lasst uns in die Breite gehen und fördern, was die Antragstellenden für sich als wichtig beschreiben. 

Wie ist das DIS-TANZEN-Programm – das sich im SOLO-Modul an Einzelkünstler*innen richtet und im IMPULS-Modul an Tanzschulen und Tanzpädagogik in kulturellen Einrichtungen – mit dem Mosaik der Corona-Förderprogramme abgestimmt?

Bereits im Mai 2020 haben wir gemeinsam mit der gemeinnützigen Kulturorganisation DIEHL+RITTER und Joint Adventures / Nationales Performance Netz (NPN) ein dreiteiliges Hilfsprogramm Tanz konzipiert, mit dem wir im Juli starten konnten. Das NPN fördert mit Stepping Out den Transfer von Gastspiel-Projekten in den öffentlichen Raum. Mit Tanzpakt Reconnect vergibt DIEHL+RITTER eine Strukturförderung, damit Institutionen stark bleiben, um mit Künstler*innen zusammenzuarbeiten. Unser Programm DIS-TANZEN richtet sich an Einzelkünstler*innen und Tanzschulen. SOLO geht gerade in die dritte Antragsrunde. In engem Austausch stehen wir auch mit dem Fonds Darstellende Künste, dessen #TakeCare-Programm mit DIS-TANZEN kombinierbar ist. Beim jetzigen Mittelumfang in den Programmen würde unsere Jury allerdings diejenigen zurückstellen, die dort gefördert werden. Für uns spielt auch eine Rolle, in welchen Bundesländern es Soforthilfen gab und wo Umsatzausfälle gezahlt werden. Vom Bundesverband Freie Darstellende Künste wissen wir, dass die November- und Dezemberhilfen für viele Künstler*innen nicht greifen. Für andere wiederum war es nicht schwer, ein Zwölftel des Vorjahresumsatzes und das, was an Einnahmen fehlt, zu bekommen.

Worin liegt diese Unwucht begründet?

Im Tanz gibt es Institutionen, die groß sind, aber nicht unbedingt ihr ganzes Personal in Kurzarbeit schicken können, weil dieses nicht angestellt ist, sondern die Institution mit Honorarverträgen arbeitet, so wie zum Beispiel Sasha Waltz & Guests. Sie stehen vor dem Problem, dass der hohe Anteil zu erwirtschaftender Eigenmittel fehlt und dass sie die künstlerischen Strukturen um sie herum nicht mit Aufträgen versorgen können – Veranstaltungstechniker*innen oder Produzent*innen.

Auch für Einzelkünstler*innen ist der Boden unter den Füßen wackelig. Derzeit gibt es zur Überbrückung viele neue Förderinstrumente, 2021 sind manche Künstler*innen gut beschäftigt. Aber was passiert im Jahr 2022? Laufen die Förderungen dann einfach aus?

Die Hauptproblematik, die aufkommt ist, dass einzelne Kommunen schon ankündigen, ihre Etats zu kürzen. Unser Weg ist, das kulturpolitisch anzugehen. Gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat wird die Frage sein: Wie kann man entgegensteuern, um die kulturellen Infrastrukturen und die Förderung von Künstler*innen zu erhalten? Meine Kollegin Bea Kießlinger hat zum Tanzpakt-Programm eine Umfrage durchgeführt. Viele der Befragten wollen die Strukturen erhalten. Aber wenn es keine Projektetats mehr gibt oder diese schrumpfen, ist die Frage: Wer produziert in diesen Strukturen? Es wird eine Rolle spielen, welche Stipendien und Unterstützungen es für Künstler*innen geben wird. In den TANZPAKT Stadt-Land-Bund-Formaten wollen wir das stark machen: Wo sind die Hebel, um die Künstler*innenförderung zu erhalten? Was können wir aus dem lernen, was jetzt mit DIS-TANZEN oder den Stipendien des Fonds Darstellende Künste ermöglicht wird?

Um nicht nur von der Politik abhängig zu sein: Was kann die Szene selbst tun?

Die Antwort fällt schwer. In der Regel weist man daraufhin, dass sich Künstler*innen breiter aufstellen und mehr Netzwerke knüpfen sollen. Aber der Lockdown hat gezeigt: Egal welches Gewebe die Einzelnen für sich gefunden hatten – es reißt an allen Enden. Insofern ist wichtig, dass man mit der Politik, mit der Szene, mit Verbänden diskutiert, welche alternativen Formen sozialer Absicherung es geben kann – eine Reform der Arbeitslosen- oder Ausfallversicherung zum Beispiel –, und wie man die Künstlersozialkasse stärken kann. Das ist die starke Diskussion, die gerade mit den künstlerischen und sozialen Verbänden aufkommt.

Wohin verweisen Sie Künstler*innen, die verzweifelte E-Mails schreiben, weil sie durch alle Förderraster fallen?

Bestenfalls verweisen wir auf andere Förderprogramme, die noch laufen. Aber tatsächlich stehen bei einer Ablehnung derzeit kaum andere Möglichkeiten zur Verfügung als die Grundsicherung. Die Einkommenssituation bei den soloselbständigen Künstler*innen ist eine bruchstückhafte, mit einzelnen Engagements. Immerhin hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Februar eine Förderung für unständig und befristet Tätige bekannt gegeben.

Kurzfristiges Reagieren ist weiterhin der modus operandi?

Im Frühjahr werden DIEHL+RITTER und der Dachverband Tanz Deutschland gemeinsam erneut den TANZPAKT ausschreiben, und in gewisser Weise ist das vielleicht der Zeitpunkt, an dem man sich wieder an größeren Zeiträumen orientiert. Da geht es um 3- bis 4-jährige Projekte. Im Moment ist man noch in der Starre, nicht zu wissen, was als nächstes passieren wird. So lange die Kultur nicht wieder in Bewegung kommt, ruhen auch die Zukunftspläne, ist mein Eindruck. Aber vom Modus, Angst vor den Kürzungen zu haben, werden die Künstler*innen auch wieder in den Modus kommen: Lasst uns schauen, was wir machen wollen in den nächsten Jahren. Derzeit gibt es noch einen starken Stau an Projekten, die produziert wurden und die noch auf die Bühne kommen müssen. Meine Hoffnung wäre, dass sie nicht nur kurz durchgefeuert werden, sondern dass man einen klugen Weg findet, dass auch diese Projekte und Produktionen länger zu sehen sind und Künstler*innen in neue Verabredungen bringen.

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