Staub aufwirbeln
Für eine Archivpraxis in Kompliz*innenschaft: Ein Beitrag zum Tanz∆rchiv Berlin von Alex Hennig.
Reich ist Berlins Tanzhistorie – an Werken, Personen, Geschehnissen und Stimmungen. Aber bis heute gibt es keine Institution, die die weit verstreuten privaten wie die öffentlich zugänglichen Quellen sichert, sammelt, ordnet, interpretiert und einer Öffentlichkeit von Tanzinteressierten zugänglich macht. Noch nicht: Eine der Maßnahmen, die im Rahmen des Runden Tisch Tanz 2018 entwickelt und vom Senat anschließend für eine Pilotphase ausgewählt wurden, ist das „Tanz∆rchiv Berlin“. Ermittelt wird derzeit von einer fünfköpfigen Steuerungsgruppe in und mit Berlins Tanzszene, welche Form(en) dieses Archiv annehmen sollte und welche Aufgaben es erfüllen kann. Einige Überlegungen, wie Tanz das Archiv als Institution von außerordentlicher Macht herausfordern kann, stellt Alex Hennig in ihrem Essay an. Die Dramaturgin ist Mitglied der Steuerungsgruppe für die Konzeptionsphase des Tanz∆rchiv Berlin.
Text: Alex Hennig
Dramaturgin und Mitglied der Vorbereitungsgruppe für die Konzeptionsphase des Tanz∆rchiv Berlin
Fangen wir nicht mit dem Anfang an und schon gar nicht mit dem Archiv.
Denn das Archiv muss als Erstes von seiner Autorität befreit werden, wenn wir hier auch tanzen wollen. Laut Derrida thront es nämlich als „Anfang und Gebot“ über all dem, was wir zur Konstitution einer Gesellschaft, ihrer Geschichtsschreibung und damit auch ihrer Identität brauchen – das Archiv (Achtung, als Patriarch) zeichnet seine Lokalität an einem ganz bestimmten Ort aus. Das griechische Wort „archeîon“ benennt zunächst ein Haus, einen Wohnsitz der Repräsentant*innen und Ausübenden (die „Archonten“) der Macht. Bei ihnen „zuhause, an eben jenen Ort, der ihr Haus ist (ein privates Haus, ein Haus der Familie oder Diensthaus), deponierte man zu jener Zeit die offiziellen Dokumente (…) ihrer öffentlich anerkannten Autorität wegen“, schreibt Derrida in „Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression“.
Das Archiv ist demnach kein harmloser Ort, gerade weil es für „Objektivität“ steht, gerade weil im Archiv die Dokumente von Beweiskraft liegen. Die Autorität der Bewahrung, der Status von Unbestechlichkeit wiegen schwer. Das Archiv umfasst als Teil der „Archäologie des Wissens“ nichts Geringeres als „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht“, bemerkt Foucault in seiner „Archäologie des Wissens“.
Diese Lesart lässt das Archiv als Institution von außerordentlicher Macht auftreten, als Ordnung, Voraussetzung, aber auch Begrenzung jeder historiografischen Praxis. Auch oder gerade weil die eigene Autor*innenschaft, die Auswahl dessen, was bewahrt und katalogisiert, das heißt, zuallererst wieder zugänglich gemacht wird, seine eigenen Entscheidungen und Strategien nicht miterzählt. Das Archiv ist kein neutraler Boden, sondern Schauplatz eines Ringens um Deutungshoheit. „Dieser Raum (das Archiv) ist immer schon das Objekt eines paranoiden Verdachts von Manipulation, Verschwörung und Intrige“, formuliert es Wolfgang Ernst in „Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung“.
Wir können dem Archiv (im Foucault’schen Sinne) nicht entkommen, da es eine Totalität beschreibt. Wir können keinen Abstand von ihm nehmen, da wir „innerhalb seiner Regeln sprechen“ – gut immerhin, dass wir als Tanzschaffende nicht vorrangig dem Sprechen verpflichtet sind.
Produktiv aus der Reserve locken
Als ich 2013 als studentische Mitarbeiterin im Tanzarchiv Leipzig zu arbeiten begann, war die Irritation meiner Freund*innen und Familie einigermaßen groß. Erstaunen, Stirnrunzeln, eine Mischung aus amüsierter Irritation und echtem Unglauben: „Tanzarchiv. Und was bitte archiviert ihr da?“
Jenseits der Welt der Tanzschaffenden und -wissenschaftler*innen scheinen die Begriffe von „Tanz“ und „Archiv“ nur schwer miteinander vereinbar zu sein. (Ähnliches gilt für „Tanz“ und „Wissenschaft“.) Tanz steht für „Flüchtigkeit“ – als Kunst und als kulturelle Praxis, die nicht viel mit der akademischen Welt, erst Recht nicht mit Schrift oder Katalogsystemen zu tun hat. Dem gegenüber steht das Archiv stellvertretend für den Bereich der „Bewahrung“, der „Stillstellung“ (verstaubte Korridore). Dass eine scheinbar so flüchtige Kunstform wie der Tanz natürlich auch materielle Spuren hinterlässt, die in Archiven aufbewahrt und sogar systematisiert werden können (Tanzfotografien, Tanzdokumentationen in Form von Video, Film, Notationssystemen, Requisiten, Schriftstücken etc.), leuchtet dann meist aber doch schnell ein.
Gleichzeitig lässt sich darüber hinaus aber gerade mit und durch den Tanz das Archiv an sich auf eine produktive Weise aus der Reserve locken, denn Tanzarchive funktionieren nach spezifischen Regeln, schrauben die Autorität des Archiv naturgemäß ein Stück weit auseinander und können Aufschluss darüber geben, wie sich eine kritische Geschichtswissenschaft (des Tanzes, aber auch darüber hinaus) praktizieren lässt.
Tanzarchive müssen die Lückenhaftigkeit des Archiv produktiv machen, das Scheitern der dokumentarischen Praxis, das hier darin besteht, dass der Tanz – die Körper, die Bewegung – unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Der Tanz kann in seiner „Widerspenstigkeit“ gegenüber dokumentarischen Quellen das Archiv jedoch in Bewegung versetzen.
Kompliz*innenschaften knüpfen
In diesem Sinne gestaltet sich die Konzeption des zukünftigen Tanz∆rchivs Berlin von Vornherein in einem lebendigen, kollaborativen Austausch mit der Tanzszene. Die Steuerungsgruppe begreift es als ihre Aufgabe, die eigenen Denkprozesse immer wieder zu öffnen, das Tanz∆rchiv aus mehreren Perspektiven zu befragen und möglichst viele diverse Archiv-Kompliz*innenschaften zu knüpfen. Bewahrung und Prozessualität, Verortung und Dezentralität werden hier nicht als Gegensätze gedacht – das Tanz∆rchiv soll ein offener Begegnungs-Ort sein, der die vielseitige Geschichte (und Zukunft) des Tanzes in Berlins auf verschiedene Weisen (digital/analog; künstlerisch/wissenschaftlich) zugänglich macht, mitgestaltet und sich der eigenen Position und ‚Lückenhaftigkeit‘ immer wieder gewahr bleibt.
Inhaltlich und strukturell werden Expert*innen und Künstler*innen selbst in die Konzeption mit einbezogen: Über eine exemplarische Bestandsanalyse wurden 34 ausgewählte Institutionen, Choreograf*innen und Tänzer*innen zu ihren (eigenen) Archiven, Bedarfen, Ideen befragt. In einem Collective Brainstorming wurde die Künstler*innenschaft aufgefordert, ihre bisherige Erfahrung mit diversen Archiven zu teilen und über das zukünftige Tanz∆rchiv, seine Strukturen und Möglichkeitsräume zu reflektieren. Das Archiv im Digitalen ist ein weiterer Baustein – im Januar 2021 fand ein erster öffentlicher Workshop dazu statt. Das Projekt Touching Margins (siehe folgende Seiten) ist als künstlerisches Projekt (und Intervention) integraler Bestandteil der Konzeption und zugleich ein erster Baustein des Tanz∆rchivs selbst.
Weitere Informationen zur Konzeptionsphase des Tanz∆rchiv Berlin finden sich hier.