Lust auf Unwägbarkeiten
Mit „MENSTRUAL METAL“ führt die Tänzerin und Choreografin Jule Flierl ihre Erkundung des TonTanz-Genres kollektiv fort.
Jule Flierl
Tänzerin, Choreografin
Luise, Mars und ich saßen irgendwann letztes Jahr in einer Bar und diskutierten über Musik und Politik. Wir schwankten hin und her zwischen Zweifel und Wut. Am besten wäre es, eine Band zu gründen. Diese Band müsste dann Menstrual Metal heißen: aggressiver Metal mit progressiven Inhalten und blutigen Phantasien. Am nächsten Tag rief mich Eva-Maria an und schlug mir eine Produktion für das Ausufern-Festival vor. Der Titel war sofort klar: „MENSTRUAL METAL“. Von da an wuchs meine Lust, mich in die Unwägbarkeiten zu verstricken, die der Name verspricht. Für mich war klar, dass ich 2019 kein Solo machen wollte. Für „MENSTRUAL METAL“ muss so etwas wie eine Band entstehen, nicht Menschen, die Instrumente halten, sondern ein Kollektiv, das gemeinsam in den Prozess reinspringt und die Umstehenden einsaugt, wie der Moshpit.
Knurrender, brummender, seufzender Chor
2017, während der Proben zu dem Solo „Störlaut“, gab ich in Zagreb einen Workshop und hatte die Gelegenheit, meine Methodik und Materialen zu teilen. Die Kompositionen chaotischer Töne und grotesker Bewegungen, die durch die Gruppe möglich wurden, machten so viel Spaß und führten mir so viele weitere Facetten der Möglichkeiten des TonTanzes vor Augen, dass ich von da an ungeduldig auf die Gelegenheit wartete, polyphon-kakophon-chorisch zu arbeiten.
Mit „MENSTRUAL METAL“ ist es nun endlich soweit. Aus dem Kneipengespräch wird Wirklichkeit: Mars Dietz (Sapphic Faggot) hämmert den Sound, Luise Meier (MRX-Maschine) verschachtelt die Lyrics und ich schweiße die Choreografie zusammen. Hinzu kommen vier experimentelle Stimm- und Tanzperformer*innen: Angela Muñoz, Cathy Walsh, Liosha Kokhanov und Zoë Knights. Gegen Ende der Proben planen wir einen Workshop und laden Menschen ein, in den Prozess einzusteigen und Teil des knurrenden, brummenden, seufzenden, brüllenden, kreischenden, stöhnenden, zeternden, fauchenden Chores zu werden.
Unbehagen an der neuen Gemeinschaftlichkeit
In der Kneipe ging es auch um zwiespältige Erfahrungen mit Gruppendynamiken und Kollektivversuchen. Ich wohne seit drei Jahren zusammen mit 16-20 Menschen in dem kollektiven Wohnexperiment KuLe. Eine Erfahrung, die andauernd den freudig idealistischen Anspruch der kollektiven Lebensform mit den eigenen und äußeren Unzulänglichkeiten konfrontiert. Auch dieser Alltag greift auf „MENSTRUAL METAL“ über und verbindet sich mit dem Thema der Bewegungschöre, an dem das Trio Dietz, Flierl, Meier auch über „MENSTRUAL METAL“ hinaus im Jahr 2019 herumlaboriert. Im Oktober folgt die Produktion „Wismut – A Nuclear Choir“ mit Premieren in Leipzig und Berlin.
Die Arbeit am Bewegungschor lotet das Spannungsfeld zwischen Utopie und Unbehagen aus, das kollektiver Tanz und Sprechchor hervorrufen. Die Bewegungschöre erlebten ihre Blütezeit in den Jahren zwischen den Weltkriegen, als politische Hoffnungen, Freiheiten, Konflikte und Aggressionen eine bis dahin ungekannte Intensität erreichten. Sie drückten die Utopie einer neuen Form der Gemeinschaftlichkeit aus. Rudolf von Laban, der bekannteste Vertreter der Arbeit mit Bewegungschören, sah in deren gemeinsamer Praxis gar die Keimzelle einer neuen harmonischen Gesellschaft, eine menschlichere, ursprünglichere Alternative zur Politik. D
abei sind die Bewegungschöre von Beginn in die politischen und ideologischen Konfliktlagen ihrer Zeit verstrickt. Massenbewegungschöre von Laien und Arbeiter*innen verwischten die Grenzen zwischen Kunst und Alltag, Kunst und Politik, Künstler*innen und Publikum, Theater- und Stadtraum. „MENSTRUAL METAL“ knüpft an den Bewegungschor nicht als unschuldige oder unpolitische Praxis an, sondern als gemeinschaftliches Erforschen politischer Konfliktlagen und kollektiver Formationen, die auch dem Einzelnen und Einzigartigen Gehör verschafft.
Pro Verunsicherung und kollektive Erkundung von Widersprüchen
„MENSTRUAL METAL“ nimmt die obsessive Beschäftigung des Extreme Metal mit dem Tabu der Verflüssigungs-, Ausscheidungs-, Desintegrationserscheinungen von Körpern zum Ausgangspunkt. Entgegen bestehender Tendenzen im Black Metal, die sich auf Reinheit und Ursprung im rassischen, elitären, natürlichen oder kulturellen Sinne berufen, will „MENSTRUAL METAL“ eine Strategie der Verunreinigung und Verunsicherung entwickeln und Mythen wie dem Menstruationstabu, Blutrecht, Überfremdungsparanoia, Queerphobie, Misogynie und Eugenik den Boden entziehen. Meine vorhergehende Arbeit an der Dissoziation und Desintegration von Stimme und Körper bildet dabei die Grundlage der kollektiven Erkundung der Widersprüche und strategischen Möglichkeiten, in die sich die Behauptung des Genres Menstrual Metal verstrickt.
Der Workshop zu „MENSTRUAL METAL“ findet am 22. – 23. und 29. – 30. Juli 2019 statt. Anmeldung via ausufern@uferstudios.com, aktuelle Infos unter www.uferstudios.com.
Mehr zu Jule Flierl: juleflierl.weebly.com