„Vom Ballast seiner Schlacken befreit“
Irene Sieben
Tänzerin, Lehrerin, Autorin
Zeitzeuge wird man, ob man es will oder nicht. Wissen im intellektuellen Sinn ist nicht gefragt. Man muss weder berühmt noch Besitzer eines Wikipedia-Accounts sein. Entscheidend ist ein Faktor: Erinnerung. Und ein gewisses Alter ohne Demenz. Doch woran erinnern wir uns? Je mehr sich die Zukunft minimiert und die Vergangenheit als riesiger Fächer wächst, desto üppiger ranken narrative Gewächse. Welche Erinnerung ist da von Wert? Was schlummert leibhaftig im Zellgedächtnis, wenn wir von Tanz sprechen?
Die Tanzpionierin Mary Wigman, bei der ich von 1960 bis 1962 studierte, wusste von der Vergänglichkeit ihrer Kunst: „Das spontan Erfundene lässt sich in der gleichen Form nicht wiederholen, und kein Rekonstruktionsversuch hat noch je etwas getaugt. Hat es sich aber um einen echten schöpferischen Einfall gehandelt, so steigt das scheinbar Verlorne doch wieder aus der Versenkung herauf, um sich, vom Ballast seiner Schlacken befreit, zur richtigen Stunde am richtigen Platz zu behaupten.“
Paradigmenwechsel in den Künsten
Den „richtigen Platz“ bietet nun die Akademie der Künste am Hanseatenweg. Mit 100 Fotos und 100 Texten, Herzstücken der vier deutschen Tanzarchive, mit 21 Tanzproduktionen, Workshops und Lectures lockt sie (vom 24. August bis 21. September 2019) zu einem Rückblick auf die umwälzende Dynamik der Tanzentwicklung des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung „Was der Körper erinnert. Zur Aktualität des Tanzerbes“ ist der Abschluss des achtjährigen Programms Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes mit seinen 60 Einzelprojekten.
Johannes Odenthal, Programmdirektor der Akademie der Künste und einer der sechs Ausstellungs-Kuratoren, weiß: „Die Kulturstiftung ist mit ihrer Initiative Teil eines Paradigmenwechsels in den Künsten, der mit Beginn der 2000er Jahre weltweit begonnen hat. Wir könnten es den Archival Turn nennen. Dahinter steht das Phänomen, dass Künstler*innen sich zunehmend mit der Frage von Erinnerung, von kulturellem Gedächtnis, von Identität auseinandergesetzt haben. Archiv meint hier aber etwas vollkommen anderes als materielle Erinnerungsspeicher. Wir können von lebendigen Archiven sprechen, von Archiven als Teil künstlerischer Forschung. Für diese Entwicklungen ist Tanzfonds Erbe mit der Geschichte des modernen und zeitgenössischen Tanzes des 20. Jahrhunderts natürlich ein essentieller Beitrag.“
Kraftfeld aus Gesten
Bei der Neudefinition von Körperbildern und sozialen Prozessen hat die Akademie der Künste selbst eine bedeutende Rolle gespielt. Das wird leicht vergessen. Meinen Horizont für die Brisanz der Kunstform hat der Blick auf den Tanz der Dinge im Tiergarten erweitert. Das begann 1962, zwei Jahre nach der Einweihung von Werner Düttmanns Flachbau als Krönung des neuen Hansaviertels, als die neue Institution Brennpunkt des 1. Internationalen Mimefestivals wurde. Mary Wigman, meine Lehrerin, war Schirmherrin. Dimitri, der „Clown von Ascona“, und der israelische Pantomime Samy Molcho unterrichteten uns Tanzstudierende nebenbei im Wigman-Studio. Das Festival war in seiner komplexen Struktur ein Kraftfeld aus Gesten und gab eine Vorahnung auf die spätere Gastspiel-Reihe Pantomime–Musik–Tanz–Theater (PMTT), den Vorläufer des heutigen Festivals Tanz im August.
Auf der Studiobühne erlebten wir früh die Intensität und Formenstrenge Dore Hoyers, deren Zyklus „Afectos Humanos“ man in der Ausstellung nun in drei Reenactments vergleichen kann (von Renate Graziadei, Nils Freyer und Pol Pi). Auch die nach Abstraktion strebende, heute fast vergessene Wigman-Assistentin Manja Chmièl, über die ich ein Buch schreibe, und ihre Gruppe Neuer Tanz sowie die Studiogruppe Motion (beiden ersten freien Gruppen habe ich als Tänzerin angehört) waren dort zu Gast. Gerhard Bohner erfuhr mit seinen frühen Balletten, unter anderem „Die Folterungen der Beatrice Cenci“, und lebenslang als einsamer Bauhaus- und Körperforscher von der Akademie Dauerwürdigung.
Essentielle Forschung für zukünftige Gesellschaften
1986, zu Wigmans 100. Geburtstag, erinnerte die Akademie der Künste mit einer dokumentarischen Ausstellung samt Konferenz, Workshops und einem Tanzprogramm an „Mary“, wie wir sie nannten. Das war 13 Jahre nach ihrem Tod und geriet zu einem bewegten Ehemaligen-Treffen. Da waren alle, die Wigmans beatmete Bewegungssprache verinnerlicht hatten: Gisela Colpe, Liljan Espenak, Else Lang, Gundel Eplinius, Karin Waehner, Fe Reichelt, Manja Chmièl… Es tanzten Susanne Linke, Katharine Sehnert, Powell Shepherd aus Texas, die von Motion abgespaltene Zero Moving Dance Company aus Philadelphia, Waehners Ballets Contemporains Paris und viele mehr.
Im Rückblick erscheint mir diese Wigman-Ehrung wie ein Vorgeschmack auf die zwei großen Vorläufer der jetzigen Ausstellungsinstallation: 1993 „Weltenfriede – Jugendglück. Vom Ausdruckstanz zum Olympischen Festspiel“ und 2003 „Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945“. Dazu Johannes Odenthal: „Beide konzentrierten sich ganz auf die Entwicklung in Deutschland. Unsere Ausstellung jetzt stellt die deutsche Tanzszene in einen internationalen Kontext. Vor allem sind die 21 Aufführungen auch Teil der Ausstellung. Wir thematisieren alle diese Fragen von Erinnerung im Tanz auf einem völlig neuen Niveau. Es geht um Verkörperung (Embodiment). PMTT war die Referenz schlechthin für die Moderne. Das ist ja die großartige Leistung von Nele Hertling und Dirk Scheper, dass sie die deutsche Tanzszene an die internationale Entwicklung angeschlossen haben. Die Auswirkungen für Berlin waren immens – die Tanzfabrik, die TanzTangente... Ich sehe in den aktuellen Performance-Künsten eine essentielle Forschung für zukünftige Gesellschaften, als Antwort auf die Leerstellen in Wissenschaft und Politik. Dieses Motiv der künstlerischen Forschung mit den Mitteln des Körpers und der Bewegung steht im Mittelpunkt unserer Auswahl. Es geht um das, was wir als Moderne und als zeitgenössische Kunst beschreiben – ein Konzept des Westens, das zu Recht aus einer postkolonialen Perspektive in Frage gestellt und vollkommen neu gelesen wird.“
Odenthal hat freilich selbst an der Rezeption dieser Geschichte mitgewirkt: als Historiker und Gründer der Zeitschrift tanz aktuell (1986), der ich als Autorin angehörte. Die Tanzwissenschaft steckte noch in den Kinderschuhen. Odenthal: „Mit tanz aktuell haben wir daran geglaubt, dass der Tanz eine herausragende Rolle für unsere Kultur und Gesellschaft spielt, wir haben dafür kämpfen müssen, wir haben die Politik eingeschaltet, wir haben wie eine kulturelle NGO gewirkt. Das Wissen aus der Körperforschung, die Explosionskraft des Butoh, das Tanztheater, das Ballett von Forsythe, die kanadische, New Yorker oder flämische Tanzszene, das war überwältigend. Heute sind neue Strukturen, bessere Förderungen entstanden. Die Tanzszene ist wesentlich breiter, aber auch wesentlich introvertierter geworden.“
Um so tanzen zu können wie sie…
Als Zeitzeugin gehöre ich mit Susanne Linke und Katharine Sehnert zum künsterischen Beirat der Mary Wigman-Gesellschaft im Tanzarchiv Köln. Wer auch immer sich mit Wigmans Werk beschäftigen wollte, kam einst an der Kölner Kontaktstelle der Wigman-Biografin Hedwig Müller nicht vorbei. Als Hüter des Copyrights der Tanzpionierin ins Leben gerufen, gab der Verein der Tanzforschung seit 1986 wichtige Impulse, flankiert von der Zeitschrift Tanzdrama. 67 wunderbare Hefte (bis 2002) schlummern in den Archiven.
Prominenteste Bewerberin für Wigmans „Hexentanz“ und den „Sommerlichen Tanz“ war die Jahrhundertballerina Sylvie Guillem. Sie erschien in der TanzTangente, um sich bei uns den letzten Wigman-Schliff zu holen, für ihr Debüt als zeitgenössische Tänzerin beim Hollandfestival 1998. In meinem Tanzdrama-Interview bringt sie die Problematik von Rekonstruktion auf den Punkt: „Um so tanzen zu können wie sie, müsste ich sie sein, ihr Leben haben, ihre Persönlichkeit, ihre Bildphantasien, ihr Zeitmaß.“ Damit betont sie, dass die Konservierung von Vergangenem ohne persönliche Aneignung schlicht unmöglich ist, denn „jedes historische Bewegungsmaterial wird in einen aktuellen Erfahrungshorizont transportiert und in seinen Inhalten neu bestimmt“, wie es Johannes Odenthal formuliert.
35 Jahren hatte ich mich nicht mehr mit Wigmans Tanzsprache beschäftigt. Als Feldenkrais-Lehrerin suchte ich, inspiriert von der Body-Mind-Forscherin Bonnie Bainbridge Cohen, im Kosmos der Zellen nach embryonalen Erinnerungsfetzen. Erst 2009 mit Fabián Barba aus Ecuador, der an der Hochschule P.A.R.T.S. seine Ausbildung mit Tänzen aus Wigmans Zyklus „Schwingende Landschaft“ beendete, kam ich wieder auf den Geschmack. Die Mitarbeit an seinem „A Mary Wigman Dance Evening“ (in der AdK-Ausstellung ebenso zu sehen wie die „Totentänze“) wirkte wie ein Flashback. Wir Wigman-Coaches wurden zu Co-Kreator*innen von Tänzen, die es als Filmdokument gar nicht gab.
Christina Ciupke und Anna Till lockten mich mit ihrem Tanzfonds Erbe-Projekt „undo redo and repeat“ 2013 noch tiefer hinein in Fragen nach Erinnerung: Wie gelangt das Wissen über Mary Wigman (oder Kurt Joos, Dore Hoyer, Pina Bausch, William Forsythe) zu uns? Ich erlebte, wie unauslöschlich das Erfahrene in meiner (Körper-)Substanz verankert war und wie stark sich meine somatische Bildung damit verbindet. Dass sich Wigman und Feldenkrais nah waren, hatte ich zuvor nicht erkannt. Wigman war an Gestaltung, am geistigen Klima, der „analytischen Funktionsdurchdringung“ interessiert. Sie sah Unterrichten prozessorientiert („Lehren heißt, den Unterrichtsstoff von allen Seiten beleuchten“). Dieser Strategie nach dem Prinzip „Thema mit Variationen“ folgte auch Feldenkrais in seinen Lektionen. So lernen Kinder, so üben Musiker… Ein gutes Warm up auch für jene, die nun in der Akademie der Künste der Aktualität des Tanzerbes zum Beispiel in einem meiner Morgen-Workshops nachspüren wollen.