Im digitalen Orbit
Verliert oder gewinnt der Tanz durch das im Lockdown allgegenwärtige Streaming?
Tanz kann man nicht streamen – oder doch? In ihrem Kommentar rekapituliert Dorion Weickmann ihre internationalen Seherfahrungen der vergangenen Corona-Monate. Wie ist eine sinnliche Adaption choreografischer Kunst für den digitalen Raum möglich?
Text: Dorion Weickmann
Redakteurin tanz Zeitschrift
Als wir im März plötzlich auf unseren Home-Office-Stühlen festgeklebt saßen und unter tagelangem Absage-Bombardement und akuten Entzugserscheinungen zusammenzubrechen drohten … da funzelte plötzlich ein Hoffnungsschimmer: in Gestalt der ersten Streams. Zwar handelte es sich um konservierte, längst auf DVD vermarktete oder dafür vorgesehene Aufführungen. Aber immerhin ließen sich so von Hamburg bis Stuttgart, von Prag bis Paris ein paar ballettöse Erfahrungslücken schließen. Schwieriger gestaltete sich das Nachsitzen im zeitgenössischen Bereich, wo Anne Teresa De Keersmaeker die Vorreiterin gab, gefolgt vom Tanzhaus Sadler’s Wells in London. Das allerdings gleich mit einem der ersten Streams auf Grund lief, weshalb die Frage auftauchte: Was funktioniert, was schmiert ab auf der Online-Bühne?
Auf der digital stage von Sadler´s Wells scheiterte eine der sinnlichsten Performances der letzten Jahre. Hofesh Shechters „Grand Finale“, 2017 uraufgeführt, kam auf dem Monitor wie eine form-, farb- und friktionslose SOS-Übung daher. Shechters überwältigende Bild- und Tanzsprache schrumpfte auf Nahe-Null-Niveau. Lektion No. 1: Virtuos gebaute Gesamtkunstwerke, die Sound, Ambiente und rauschhaften Tanz präzise verzahnen und das Setting mit einer vielköpfigen Crew bevölkern, kollabieren im Stream. Wann immer das Kollektiv als zentraler Faktor agiert und seine Binnendynamik sowohl die Dramaturgie als auch die Räume gliedert, bleibt die AV-Übersetzung im 1:1-Maßstab ein Hilfskonstrukt, bar künstlerischen Mehrwerts.
Wiederum aus London kam allerdings bald auch das Gegenbeispiel: Cathy Marstons „The Cellist“, die getanzte Biografie der Cellistin Jacqueline du Pré, einer Jahrhundertbegabung, deren Karriere eine Parkinson-Erkrankung frühzeitig beendete. Im Februar 2020 beim Royal Ballet produziert, sollte das Stück wenig später in die Kinos kommen. Was Corona verhinderte. Die stattdessen auf den YouTube-Kanal des Opernhauses umgeleitete Präsentation bescherte Lektion No. 2, indem sie durchexerzierte, wie sich eine komplexe Choreografie einfangen und phantastisch weiterspinnen lässt: Einsatz mehrerer Kameras, emphatische und empathische Montage, ausreichend Soli, Duette und Trios, um Spannungen, Nähe und Distanz zwischen den Figuren nachzuzeichnen, schließlich ein Raumgefüge, in dem sich Ensembleszenen einerseits verdichten, andererseits entzerren lassen.
Während der ersten Lockdown-Monate wurden verschiedene Modelle erprobt, teilweise auch etabliert. Neben den ubiquitären Switch-Streams (den schönsten verfertigte die Juilliard School in New York) gerieten immer mehr eigens, also bühnenunabhängig oder hybrid hergestellte Formate in den Blick, darunter auch internationale Auftragswerke. Ein Vorspiel, denn seit Spätsommer kämpfen nun vor allem US-Kompanien mit Digital Seasons und virtuellen Kreationen ums Überleben – und das gilt querfeldein vom San Francisco Ballet bis zum Alvin Ailey American Dance Theater, dessen Hauschoreograf Jamar Roberts mit „Cooped“ den stärksten #BlackLivesMatter-Beitrag aus der Tanzszene lieferte. Vom Nederlands Dans Theater übers Staatstheater Augsburg, die Berliner Sophiensæle bis zur Pariser Oper (die, weitsichtig, schon seit Jahren eine digitale Plattform unterhält) hat Streaming sich als vorläufiger Live-Ersatz bewährt.
Aber lohnt sich die Verbreitung via Netz oder Social Media auch für kleinere Kompanien, gar für einzelne Künstler und Künstlerinnen, für Freelancer? Handelt es sich überhaupt um eine wünschenswerte Entwicklung, um einen Gewinn? Die Antwort kennen alle, die mit digital natives und Leuten außerhalb der eigenen Szene in Berührung kommen: Sie ist wünschenswert, weil inklusiv, niederschwellig, demokratisch und darüber hinaus überlebensnotwendig für ein Theater, das sich immer wieder häuten, erneuern, seine eigene Klientel verjüngen und erweitern muss. Die Reichweiten, die interessante Ausstrahlungen erzielen, sind enorm und um vieles größer als die üblichen Ticketverkäufe. Dass inzwischen viele Internet-Performances kostenpflichtig sind, ist eine überfällige Kurskorrektur! Wovon sollen Kunstschaffende sonst leben?
Inzwischen sind nicht nur die großen kommunalen oder staatlichen Player mit von der Partie, sondern auch experimentierfreudige Kollektive wie Cocoon Dance, Ballet of Difference, Company Christoph Winkler. Sie haben eindrucksvolle Novitäten im Netz geteilt. Allen Theaterapokalyptikern (m/w/d) sei versichert: Der digitale Orbit wird auch im Tanz die analoge Kunst nicht zerstören. Vielmehr erschließt er eine Vielfalt an Möglichkeiten, Wahrnehmungs- und Erfahrungsfeldern, die in die Zukunft weisen. Wer will dazu schon „Nein“ sagen?