edition January-February 2021

„Ich glaube an ein Punk-Potenzial des tanzenden Körpers“

Vom Kuratieren mit dem Virus und der Dringlichkeit des politischen Körpers: Ein Gespräch mit Mateusz Szymanówka, dem neuen Künstlerischen Leiter der Tanztage Berlin und Tanzdramaturgen an den Sophiensælen.

Tanz, tanzraumberlin Magazin, Tanztage Berlin, Mateusz Szymanówka Tanzkurator und Dramaturg: Mateusz Szymanówka, der neue Leiter der Tanztage Berlin. Foto: Jakub Świetlik

Erst seit April 2020 weiß Mateusz Szymanówka, dass er als neuer Tanzkurator an den Sophiensælen auch das traditionell zum Jahresbeginn stattfindende Nachwuchsfestival Tanztage Berlin verantworten wird. Wenig Zeit für seine erste Ausgabe 2021, die noch dazu unter Pandemie-Bedingungen entsteht. Anfang Dezember 2020 ist klar, dass die Live-Variante im Januar 2021 nicht stattfinden kann – ein Szenario, für das es längst einen Plan B gibt: Einige Programmpunkte sind online zu sehen, aber die meisten Veranstaltungen werden ins Frühjahr 2021 verlegt. Mit Mateusz Szymanówka sprach tanzraumberlin Ende November 2020. Was bewegt den studierten Kultur-, Theater- und Tanzwissenschaftler, der als Kurator an experimentellen Formaten interessiert ist und als Dramaturg vor allem mit einer jungen Generation in Berlin und Warschau lebender Choreograf*innen und Performancemacher*innen zusammen arbeitet, deren künstlerische Praxis in Feminismus und Queer-Theorie verwurzelt ist? Wie hat Mateusz Szymanówka den Einschränkungen zum Trotz seine erste Ausgabe der Tanztage Berlin gestaltet?

Interview: Elena Philipp

Mateusz Szymanówka, wie geht es Ihnen, jetzt, da klar ist, dass die Tanztage, Berlins Jahresauftaktfestival, nicht im Januar stattfinden können?

Es ist enttäuschend, aber nicht schockierend. Ich hatte lang die Hoffnung, dass das Festival wie geplant im Januar offline stattfinden wird, und ich musste daran glauben, um dieses Programm überhaupt auf die Beine zu stellen. Diese Verschiebung bedeutet natürlich noch mehr Arbeit für mich. Es gibt ehrlich gesagt wenig Zeit, um zu trauern. Vielleicht sogar zu wenig. Ich habe mich gefragt, was es bedeutet, nach so einem Jahr ein Tanzfestival zu kuratieren. Mir war es wichtig, dass das Programm auf eine Weise nützlich sein kann. Damit Menschen zusammen heil werden und trauern können, als Ort, an dem Impulse für die Zukunft gegeben werden. Aus diesem Grund wird es im Januar-Programm um Arbeitskultur, Gesundheit und Resilienz gehen, aber auch um Science Fiction als Raum, in dem das zukünftige Zusammenleben imaginiert wird. Vor ein paar Wochen habe ich an einer Online-Versammlung teilgenommen, bei der Julie Phelps von CounterPulse in San Francisco vorgeschlagen hat, nicht mehr zu fragen, wie Tanz die Welt retten, sondern wie Tanz Schaden reduzieren kann. Das fand ich sehr inspirierend.

2018 waren Sie erstmals selbst zu den Tanztagen Berlin eingeladen, als Dramaturg mit Przemek Kamiński und Marta Ziółek. Wie war Ihre persönliche Tanztage-Erfahrung?

Ich kannte das Festival schon lange, weil ich seit 2010 in Berlin lebe. Auch viele meiner Freund*innen und Kollaborateur*innen haben ihre Arbeiten bei den Tanztagen gezeigt. 2016 habe ich bereits für Ania Nowaks „Offering...“ gearbeitet – eine meiner ersten Dramaturgien überhaupt. 2018 haben wir „So Emotional“ am Eröffnungstag präsentiert, und die Reaktion des Publikums war ziemlich heftig. Seither denke ich darüber nach, wie man einen Safe Space für Nachwuchskünstler*innen schaffen kann. Ich bin nicht sicher, ob die Tanztage das bislang sind. Es ist ein wichtiges, sehr gut besuchtes Festival am Jahresbeginn, bei dem viele Künstler*innen zum ersten Mal eigene Arbeiten auf der großen Bühne zeigen – obwohl viele dieser Arbeiten eher Skizzen sind, die innerhalb weniger Wochen mit wenig Geld entstanden sind. Der Druck ist groß. Das merke ich auch. Was bedeutet es, in so einem Rahmen zu scheitern, diese „große Chance“ nicht richtig zu nutzen?

Was tun Sie, um die Künstler*innen besser zu schützen?

In diesem Jahr habe ich mich vor allem auf die internen Prozesse konzentriert, auf Kommunikation und ein verbessertes Verhältnis von Zeit und Geld. Ich bin noch nicht sicher, ob man das Format des Festivals an sich ändern muss. Ich finde es auch wichtig, dass Nachwuchskünstler*innen nicht nur kurze Arbeiten auf kleinen Bühnen zeigen. Und wenn man Performances als work-in-progress rahmt, sind sie unter Umständen fürs Publikum nicht mehr interessant.

Überlegen Sie, vom Nachwuchs-Gedanken abzurücken, der die Tanztage seit ihrer Gründung 1996 prägt?

Nein, darauf will ich nicht verzichten. Ich habe aber das Gefühl, dass es in Berlin inzwischen mehr Möglichkeiten gibt, als Choreograf*in die erste Arbeit zu zeigen; das kann die Tanztage ebenfalls verändern. Für mich wäre es vor allem wichtig, die Ambivalenz aufzuzeigen: Der Begriff „Nachwuchs“ ist kulturpolitisch wichtig, aber nicht neutral. Genau wie der Begriff „Kind“ impliziert er Hoffnung, Fortschritt, Innovation. Er bedeutet ein Versprechen: dass es noch eine Zukunft gibt, dass die Dinge besser werden, und dass der Tanz sich weiterentwickelt. Mir wäre es wichtig, diesen Begriff auch kritisch zu betrachten und zu fragen, wie er mit normativen Karrierevorstellungen in der Kunstwelt verbunden ist. Wer ist emerged und was muss man tun, um nicht mehr emerging zu sein? Ich möchte aber auch verschiedene Einstiegsmöglichkeiten in das Feld Tanz zeigen. Nicht alle schließen ihr Studium mit Mitte 20 ab und sind ab dann Künstler*innen.

Bei Ihrem offiziellen Amtsantritt Anfang Juli 2020 sagten Sie in einem rbb-Interview, es werde mit ihnen vor allem „keine Revolution“ in der Kuration und Programmierung an den Sophiensælen geben. Nun sind Sie einige Monate im Amt. Haben Sie doch die ein oder andere Reform eingeleitet?

Mich interessiert vor allem, nachhaltig in diesem Feld zu arbeiten. Intern setze ich viele Prozesse fort, die meine Vorgänger*innen Peter Pleyer und Anna Mülter begonnen haben. Wir haben den Tanztage-Künstler*innen erstmals einen Workshop zur Barrierefreiheit angeboten. Ich versuche, die Arbeitsverhältnisse zu verbessern und die Probenprozesse intensiver dramaturgisch zu betreuen. Es ist fürs Publikum vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber ich halte das für wesentlich. Ich glaube, es ist ziemlich einfach, ein queer-feministisches Programm zu kuratieren – aber es ist nicht so einfach, queer und feministisch zu arbeiten. Außerdem ist es kein einfaches Jahr, um Dinge radikal zu ändern. Ich habe in den letzten zwei Jahren performative Partys in einem Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst veranstaltet. Ich weiß, was es bedeutet, mit komplizierten Formaten zu arbeiten, aber ich war noch nie mit dem praktischen Teil dieser Arbeit so beschäftigt wie bei den Tanztagen 2021.

Sie kuratieren das Festival gemeinsam mit dem Virus, wie Sie Im rbb-Interview sagten.

Ja, darüber hinaus mit Hygienekonzepten und einer Bühne weniger. Die Themen „Lüftung“, „Abstand“ oder „Infektionsgemeinschaft“ sind für mich eher neu. Ich musste sehr oft sehr pragmatisch sein, und pragmatisch zu sein ist selten megaspannend. Ich hatte das Virus auch bei der Auswahl im Kopf. Die Tanztage sind kein Rahmen, innerhalb dessen man existierende Performances mit Abstand neu choreografieren sollte.

Die Gretchen-Frage dieser Zeit: Wie halten Sie’s mit dem Digitalen?

Einen Teil des Programms, wie die Diskursformate oder den Film von Judith Förster und Stella Horta hatten wir von Anfang an auch fürs Internet geplant, um Publikum zu erreichen, das gerade nicht mehr ins Theater kommen kann. Aber ich wollte auf keinen Fall kurz vor dem Festival das gesamte Programm digital umsetzen. Einfach alle Performances live zu streamen, finde ich nicht so spannend, und obwohl ich sehr viel Zeit im Netz verbringe, vermeide ich das digitale Theater- und Tanzangebot ehrlich gesagt eher.

Wieso?

Manchmal denken die Online-Formate das Medium und seine Aufmerksamkeitsökonomien nicht mit. Ich habe 2020 verstanden, dass ich ins Theater gehe, um mich nicht einsam zu fühlen. Dieses Gefühl gibt mir das Internet nur selten. Für mich waren Orte wie Klubs oder Theater, an denen man live und zusammen Zeit mit verschiedenen Menschen verbringt, prägend. Dieses Zusammensein für begrenzte Zeit ist mir sehr wichtig. Von August bis Ende Oktober habe ich ziemlich hysterisch Theater geschaut, ich habe wahrscheinlich fast alles in der Stadt gesehen, auch in den Tagen vor dem zweiten Lockdown.

Weicht das Programm der Tanztage 2021 demnach sehr von Ihrer Idealvorstellung ab?

Ich habe in den letzten Jahren viel zwischen white cube und black box kuratiert. Auch an der Grenze von Theater und Clubkultur. Man könnte denken, dass die Pandemie eine perfekte Zeit für alternative Formate ist, aber letztlich sind nur frontale Bühnenperformances Corona-sicher. Ziemlich schnell war mir klar, dass ich bei den Tanztagen 2021 viel klassischer an meine Aufgabe herangehen muss als ich es sonst machen würde. Es war frustrierend, aber ich musste mich irgendwann fragen, ob ich ein Drama daraus machen will oder meine Energie anders investieren kann. 2020 geht es auch um eine bestimmte Art von ego death. Ich habe immer noch Vieles versucht. Wir haben sogar eine durational performance von Layton Lachman geplant. Und ich glaube, dass es für viele Künstler*innen im Programm, die regelmäßig in Galerien arbeiten, wie zum Beispiel Juan Pablo Camara, aufregend ist, eine große Bühne zu bespielen. Es gibt auch ziemlich viele Solo-Arbeiten, was aber nicht nur mit Corona zu tun hat, sondern auch mit den Produktionsbedingungen, die wir anbieten können. Für ein so großes Festival haben die Tanztage immer noch ein ziemlich kleines Budget, was sich hoffentlich in den nächsten Jahren ändert.

Betroffen von den Umständen war sicher auch Ihr Auswahlprozess.

Ja, das war Anarchie. Die Deadline für die Bewerbung war Anfang August, aber bis August konnte ich nichts live sichten. Ich habe also sehr viele Videos gesehen. Nun gibt es Künstler*innen, die wahrscheinlich interessante Arbeit machen, aber keine gute Dokumentation erstellen oder sogar vergessen, Links anzuhängen. Ich brauchte sehr viel Imagination in diesem Jahr.

Wonach haben Sie gesucht?

Wir leben in einer Zeit, in der die Welt um uns kollabiert. Mich interessiert, warum man 2020 überhaupt noch vor Publikum tanzen will. Der serbische Kurator und Künstler Bogomir Doringer, der Clubkultur und Straßenproteste erforscht, spricht von „dance of urgency“, der Bewegung, die aus den Emotionen in Krisenzeiten entsteht und die Individuen und Kollektive ermächtigt. Ich habe mich gefragt, was solcher „Tanz der Dringlichkeit“ auf der Bühne gerade bedeuten würde. Ein bestimmtes Interesse an der Wirklichkeit vielleicht? Ich mag Arbeiten, in denen formale Ansätze gleichzeitig politische Fragen aufwerfen. Mehr als politische Themen interessiert mich die Politik der Bilder und Formen. Besonders in einer Zeit, in der jedes Museum ein performatives Programm hat und in der alles Performance genannt wird, interessiert mich Tanz als Kunstform und als soziale und kulturelle Praxis.

„Harte Zeiten erfordern wütendes Tanzen“, lautet das Motto ihrer ersten Tanztage-Ausgabe. Thema sind antiautoritäre Tendenzen des Tanzes und der revoltierende Körper, der zerbrechlich ist, aber die Fähigkeit besitzt, sich und andere zu transformieren. Könnten Sie hierzu noch etwas sagen?

Ich glaube selbst sehr an ein Punk-Potenzial des tanzenden Körpers. Die Fähigkeit, Widerstand zu leisten; die Möglichkeit, sich zu versammeln, um Dinge zu ändern. Diese antiautoritäre Kraft manifestierte sich nicht nur in der Rave-Kultur, sondern auch im Modern Dance. Es bedeutet natürlich nicht, dass bei den Tanztagen auf der Bühne Autos brennen werden. Es geht um Formen von Widerstand, die auf der Mikroebene passieren. Um Resistenz, die man im Alltag selbst trainieren kann. Gleichzeitig ist der politische Körper zerbrechlich und sterblich, was 2020 wieder sehr sichtbar geworden ist. Ich war in diesem Jahr wieder viel bei Protesten. Meine Freund*innen in Warschau werden gerade von der Polizei angegriffen, weil sie gegen Anti-LGBT-Gewalt, die neuen Abtreibungsgesetze und konservative faschistische Tendenzen protestieren. Man kann nicht die Bühne und den Tanz getrennt von solchen Ereignissen denken.

Tanztage Berlin 2021
7. – 16. Januar 2020
Online
www.sophiensaele.com

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