edition March-April 2022

Für Sorge tragende Gemeinschaften

Wie kann man sich künstlerisch dem Thema Elternschaft und Reproduktion nähern? Und welchen Arbeitsbedingungen begegnen Tanzschaffende mit Kindern? Ein Überblick.

Sheena McGrandles "DAWN" © Michiel Keuper

Die Elternrolle ist mit starken gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft. Zugleich sind Eltern in vielen Bereichen unsichtbar. Auch im Tanz fehlen die Strukturen zur Unterstützung von Personen, die für Kinder sorgen. Jette Büchsenschütz hat sich zu den Arbeitsbedingungen für Tänzer*innen und Choreograf*innen in Fürsorgeverantwortung umgehört – und stellt drei exemplarische Performances von Olivia Hyunsin Kim, Sheena McGrandles und Johanna Lemke vor, die Muttersein und Elternschaft neu denken.

Text: Jette Büchsenschütz
Journalistin

Kaum eine gesellschaftliche Figur wird so widersprüchlich und emotionalisiert diskutiert wie die der Mutter. Mal wird ihr Dasein verstanden als Selbst-Erfüllung, mal als Selbst-Aufopferung – und wieso spreche ich überhaupt von einer „sie“?

Als zunächst spezifisch weibliche Erfahrung bleiben Schwangerschaft und Mutterschaft – wie auch der ganze berufliche Bereich der gering geschätzten Pflege und Fürsorge – entweder unsichtbar, das heißt, weggeschlossen in die unpolitische Sphäre privater Häuslichkeit, oder in die institutionalisierte Sphäre schlecht bezahlter, weiblich konnotierter Pflege-Tätigkeiten verbannt.

Wie hängen diese „Unsichtbarkeit“ und die dazugehörige Diskriminierung, die sich mit der Covid-Pandemie nochmals zugespitzt hat, zusammen mit den Erwartungshaltungen, die an die Mutter- bzw. Elternrolle geknüpft sind? Und konkret bezogen auf die freie Tanzszene gefragt: Mit welchen strukturellen Hindernissen und inneren Widersprüchen sind Eltern – aber seien wir ehrlich, Männer werden in Vorstellungsgesprächen weniger gefragt, ob sie ihre Vaterschaft mit Proben, Tourneen oder Studium vereinbaren können – konfrontiert? Und wie werden diese Erfahrungen künstlerisch umgesetzt?

Olivia Hyunsin Kim: Drei extreme Mutterbilder
Maria, Marina, Medea – drei extreme Mutterbilder werden in Olivia Hyunsin Kims Performance „Like mother, like daughter“, die im September 2021 im Rahmen des von den Sophiensælen veranstalteten Festivals Coming of Age uraufgeführt wurde, auf Leinwände projiziert. Die bedingungslose, jungfräuliche Mutterliebe der Maria, die Mutterschaft negierende, weil nach künstlerischer Selbstverwirklichung strebende Marina Abramović oder die von einer patriarchalen Gesellschaft gefürchtete Kindsmörderin Medea stehen für Mutterbilder, die auf Ausschluss beruhen: „Entweder oder – dazwischen gibt es nichts“, konstatiert Olivia Hyunsin Kim auf Nachfrage. „Entweder Aufopferung oder eben die deutsche Rabenmutter.“

Diese vereinfachende dualistische Perspektive und den darin verborgenen gesellschaftlichen Zwang inszeniert sie als Persiflage einer TV-Quizsendung, deren suggestiven Fragen sich die Performerin verweigert und offen lässt, welches andere Mutterbild Orientierung bieten könnte. Denn die Realität findet nicht nur zwischen einengenden Zuschreibungen und Stigmata statt: Mütter sind weder Opfer noch Rabenmütter, sondern, so betont Kim im Gespräch, haben agency, Handlungsmacht – die nicht nur affirmativ, sondern auch subversiv genutzt werden kann. Indem Olivia Huynsin Kim in die Rollen verschiedener mit ihr verwandtenr Personen schlüpft und Raum gibt für unterschiedliche Stimmen in der Geschichte ihrer eigenen Mutter, wird aber auch deutlich, wie sehr dieser Handlungsspielraum schwanken kann; wie abhängig er ist von historischen und politischen Ereignissen.

Sheena McGrandles: Mutterschaft jenseits „natürlicher“ Reproduktion
Auch die Tänzerin und Choreografin Sheena McGrandles reflektiert ihre Erfahrung der Mutterschaft. In „DAWN: A Musical on Reproduction“, das sie gemeinsam mit einer diversen Gruppe von Performer*innen ebenfalls auf dem Festival Coming of Age präsentierte, betont auch sie die sozio-kulturelle Konstruiertheit von Mutterschaft und kritisiert darüberhinaus die Bindung an das gebährfähige Geschlecht, indem sie die Widersprüchlichkeiten, Unsicherheiten und sich wandelnden gesellschaftlichen Normen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven darstellt. Dawn, die Göttin der Morgendämmerung, erscheint als überarbeitete Alleinerziehende, die unter beruflichen und privaten Ansprüchen zusammenbricht, wofür ihre Kinderschar kein Verständnis aufbringt. Im Kontrast dazu steht der schwarz gekleidete „Chor der Kinderlosen“, ein Abkömmling der antiken Tragödie, der ironisierend-scherzhaft seine eindeutig fortpflanzungsfeindliche Botschaft verkündet: „Fuck the family. Fuck the house, fuck the system, fuck the procreation …“.

Aber neben diesem radikalen Anti-Natalismus wird ebenso darüber spekuliert, wie Mutterschaft von der „natürlichen“ weiblichen Reproduktivität und heterosexuellen Elternschaft losgelöst gelebt werden kann: in Familien, die sich unabhängig von heteronormativen Zwängen zusammenfinden, die sich als dauerhafte oder temporäre, wechselseitig Sorge tragende Gemeinschaft verstehen – unabhängig von biologischen Verflechtungen. Auch deshalb ist es Sheena McGrandles wichtig, nicht von Mutterschaft, sondern von Elternschaft zu sprechen.

Johanna Lemke: Contact Improvisation mit Säugling
Ganz anders, nämlich als entspannte Balance zwischen Mutterdasein und Künstler*innenschaft, inszeniert die Tänzerin und Choreografin Johanna Lemke mit ihrem Kollektiv Team Volume ihre Recherche „Labor MFL“. In einem Duett mit ihrem Säugling werden wie in der Contact Improvisation Bewegungen zwischen den beiden ungleichen Körpern achtsam aufgenommen und ausbalanciert und für einen Moment erscheint die Mutter-Kind-Dyade als Idylle, die sich lebenspraktisch verwirklichen ließe – vorausgesetzt, Mütter sind bereit, die Veränderungen des eigenen Körpers und die Konflikte mit beruflichen Forderungen auszuhalten und um den Ausgleich zwischen strukturellen Hindernissen, Kindeswohl und Selbstverwirklichung zu kämpfen. Was vor allem Unterstützung durch ein stabiles (familiäres) Netzwerk oder Kollektiv erfordert.

Im November 2019 hatte Johanna Lemke, schwanger mit ihrem dritten Kind, im trb-Magazin gefordert: „Renoviert die Arbeitsbedingungen“. Als eine von drei Choreografinnen war sie, so wie ­Saskia Oidtmann und Maria Walser, 2020 vom ada-Studio in Kooperation mit der garage in Berlin-Lichtenberg eingeladen worden, sich jeweils einen Monat lang mit unterschiedlichen Aspekten von Mutterschaft zu beschäftigen und ihre Recherchen online zu präsentieren. Eine Ausnahme – denn Residenzen, die sich explizit an Tanzschaffende mit Kindern richten, sind rar. Produktionsorte wie Förderprogramme bieten kaum Unterstützung für Schwangere, Mütter und Eltern und kaum Schutz vor Diskriminierung. Darauf wies im März 2020 auch der Workshop „Little Desasters – Parenting while art making“ mit David Bloom und Juli Reinartz des Tanzbüro Berlin hin.

Renoviert die Arbeitsbedingungen!
„Zum ersten Mal habe ich eine Residenz bekommen, weil ich Mutter bin – und nicht trotz“, erinnert sich Maria Walser. Sie ist eine von elf Tanzschaffenden, die im November 2020 die Arbeitsgemeinschaft Tanz und Elternschaft des Vereins Zeitgenössischer Tanz Berlin (ZTB e.V.)  gegründet haben. In einem bundesweit adressierten offenen Brief fassen sie ihre Vorschläge zusammen: zugängliche und bezahlbare Kinderbetreuung auch außerhalb der Kitazeiten, familienfreundliche Residenzorte, Wiedereinstiegsförderungen nach der Familienpause, mit einem erweiterten Fokus auf Künstlerinnen – Vorschläge für den Abbau von Barrieren, mit denen Tänzer*innen, die gleichzeitig Eltern sind, aber besonders die Mütter unter ihnen, zu kämpfen haben.

Denn dass es eine verleugnete, tabuisierte Missachtung von mütterlichen Körpern gibt, ist keine Frage. Schwanger Tanz studieren? Schwanger Tanz aufführen? Förderungen beantragen, ohne in den letzten drei Jahren Förderungen nachweisen zu können? Regelmäßig abends bei Veranstaltungen Kontakte knüpfen und pflegen? Internationale Residenzen annehmen? All dies ist für (werdende) Mütter schwierig bis unmöglich. Weil selbst in einer Kunstszene, deren Darstellungsmedium der Körper ist, das Leben mit Kindern Privatsache ist?

Immer noch, so die Erfahrung der Arbeitsgemeinschaft, orientieren sich die Arbeitsbedingungen in der freien Tanzszene am Selbstbild mobiler, flexibler 20-jähriger Workaholics und erlauben keine Pause, keine Lücke. Aber was ist, wenn sich mit zunehmendem Alter die Frage aufdrängt, ob wir so, angetrieben vom neoliberalen Leistungsprinzip und seinem Selbstoptimierungswahn, weiterleben wollen? Eine Frage also, die größer ist als das Thema „Elternschaft im Tanz“. Und die uns alle angeht. Egal, wie wir momentan leben, ob kinderlos, alleinerziehend, ob in Kleinfamilien oder in Patchworkfamilien – und unabhängig davon, wo und wie wir unser Geld verdienen müssen: Es sind die Arbeitsbedingungen, die an die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen angepasst werden müssen – statt, wie bisher, ihre Bedürfnisse an die Arbeitsbedingungen.

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